Bereits im August letzten Jahres waren auf dem Gelände der Gedenkstätte Sandarmoch Ausgrabungen vorgenommen worden. Veranlasst wurde dies durch die Gesellschaft für Militärgeschichte. Ziel war es, die These zu untermauern, dass sich dort – neben Opfern des politischen Terrors der 30er Jahre – auch die Überreste von Rotarmisten fänden, angebliche Opfer der finnischen Besatzung 1941-1944.

In diesem Jahr wurden wiederum Ausgrabungen in Sandarmoch durchgeführt, diesmal in unmittelbarer Nähe von Gedenkkreuzen. Den Anstoß dazu hatte der Kulturminister von Karelien gegeben – in einem Schreiben, das inzwischen bekannt wurde.

Es folgt die Stellungnahme von Memorial International zu diesen Vorfällen.

 

Zu Ausgrabungen der Russischen Gesellschaft für Militärgeschichte in Sandarmoch

Mitte August gelangte ein Brief an die Öffentlichkeit, den der amtierende Kulturminister der Republik Karelien Sergej Solovjev an die Russische Gesellschaft für Militärgeschichte gerichtet hatte. Dieses Schreiben war das Motiv für diese Organisation, Ausgrabungen auf dem Territorium des Gedenkfriedhofs für Opfer politischer Repressionen „Sandarmoch“ zu veranlassen.

Nicht erst dieser Brief enthüllt die wahren Gründe für diesen Akt des Vandalismus in Sandarmoch – diese waren leider schon vorher klar - , aber doch noch nicht so offen zutage getreten. Das karelische Kulturministerium hat die Gesellschaft für Militärgeschichte beauftragt, eine Bestätigung für die – vollkommen haltlose – Hypothese zu liefern, dass hier sowjetische Kriegsgefangene lägen, die von finnischen Militärs erschossen worden seien. Der politisch-propagandistische Charakter dieses Auftrags wird nicht einmal mehr verschleiert. Der amtierende Minister lebt in der abwegigen Vorstellung, dass „die Idee von Opfern politischer Repressionen, die im Waldstück ‚Sandarmoch’begraben sein sollen, von mehreren Ländern zu destruktiver Propaganda genutzt wird, um das Geschichtsbewusstsein zu beeinflussen“.

Im Juni 2019 wurde Ojub Titiev auf Bewährung aus der Haft entlassen. Memorial hat die Vertretung in Grozny inzwischen geschlossen, da die Sicherheit der Mitarbeiter dort nicht gewährleistet werden kann, Ojub Titiev ist nach Moskau umgezogen. In zwei Interviews äußert sich Titiev ausführlich zu verschiedenen Themen wie die Zeit in Haft, Natalja Estemirova, Tschetschenien, Putin und Kadyrov. Wir bringen das Wichtigste aus beiden Interviews in Übersetzung.

 

Umzug nach Moskau

Wann sind Sie nach Moskau gezogen und wann wurden Sie aus der Lagerhaft entlassen?

Aus dem Lager wurde ich am 21. Juni entlassen. Hierher [nach Moskau] bin ich dann am 10. Juli gekommen. Ich hatte Probleme mit den Zähnen. Ich bekam Implantate und danach bin ich nach Moskau umgezogen. [Als Ojub im Januar 2018 verhaftet wurde, fuhr er gerade zum Zahnarzt, wo er eine Prothese bekommen sollte. In der Untersuchungshaft erlaubte man ihm fast einen Monat nicht, einen Zahnarzt aufzusuchen, obwohl Titiev unter Schmerzen litt und keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte.] Hier habe ich mich zur Registrierung sofort an die entsprechenden Behörden gewandt. Und höchstwahrscheinlich muss ich mich in regelmäßigen Abständen bei der Bezirkspolizei melden.

Sie wurden auf Bewährung entlassen. Schränkt dieser Status in irgendeiner Form Ihre Arbeit als Menschenrechtsaktivist ein?

Er schränkt die Mobilität ein, ich kann nicht fahren, wohin ich will. Ich arbeite im Büro, in dem Sinne ist es eine Einschränkung. Wenn ich irgendwo hinfahren möchte, muss ich das kundtun und eine entsprechende Erlaubnis der Rechtsorgane einholen.

Repressalien gegen Memorial Perm - Strafverfahren eingeleitet

Vom 5. bis 11. August 2019 unternahmen Freiwillige unter der Leitung von Memorial Perm im Kreis Kudymkar in der Region Perm die Exkursion „Auf Flüssen des Gedenkens“.

Diese Exkursionen sind in der Region Perm längst zur Tradition geworden – sie finden seit gut 20 Jahren jeden Sommer statt. Zum Teil schwer zugängliche Standorte ehemaliger Lager werden aufgesucht, Friedhöfe gepflegt, Gedenkzeichen errichtet und vieles mehr.

Im Unterschied zu anderen Orten verlief die Aktion im Kreis Kudymkar jedoch nicht ungestört.

Die Teilnehmer hatten sich nach Galjaschor – eine seit 40 Jahren nicht mehr bewohnte, nur mit einem Traktor erreichbare Ortschaft - begeben, um einen Friedhof litauischer und polnischer Sondersiedler zu pflegen. In Velva-Basa und in Schavrol sollten Gedenkzeichen aufgestellt werden. In Velva-Basa wurde dies verhindert - eine lokale Verwaltungsangestellte erklärte, die erforderliche Genehmigung dafür liege nicht vor.

In Galjaschor tauchte abends die Polizei auf. Die Expeditionsteilnehmer wurden Verhören unterzogen, einige bis um zwei Uhr nachts. Man drohte ihnen mit einem Strafverfahren, da sie gesetzwidrig gerodet hätten, obwohl sie keinerlei Bäume gefällt hatten: „Wir haben den Rasen beim Mahnmal gemäht, den Friedhof in Ordnung gebracht, Dürrholz beseitigt, den Grabstein gesäubert. Und wir haben den Zaun repariert, der durch Sturmschäden - durch umgestürzte Bäume - zerstört worden war“ – so Robert Latypov von Memorial Perm. Die tatsächlich vorhandenen Baumstümpfe stammten von Bäumen, die schon vor langer Zeit gefällt wurden, „und der Förster hat dies in unserem Beisein der Polizei mitgeteilt“ (Latypov).

Am Tag darauf kam die Polizei erneut und vernahm auch die Litauer, die an der Expedition teilgenommen hatten. Die litauische Initiativgruppe wandte sich in diesem Zusammenhang an die litauische Botschaft in Russland.

Inzwischen wurde ein zweites Strafverfahren eingeleitet, und zwar gegen den Gastgeber, der die litauischen Exkursionsteilnehmer bei sich untergebracht hatte. Angeblich seien sie nicht ordnungsgemäß registriert worden. Dafür drohen ihm bis zu drei Jahren Freiheitsentzug.

 

23. August 2019

Menschenrechtsorganisationen kritisieren Menschenrechtsverletzungen bei Kundgebungen

 

Die International Federation for Human Rights (FIDH) und ihre Mitgliedsorganisationen, das Menschenrechtszentrum Memorial, das Antidiskriminierungszentrum Memorial sowie die Organisation „Grashdanski Kontrol“ [Bürger Kontrolle] rufen die russischen Behörden dazu auf, die Teilnehmer der friedlichen Protestaktionen freizulassen, alle Anklagen gegen sie fallenzulassen sowie die unabhängigen Kandidaten für die Wahlen zur Moskauer Duma am 8. September 2019 zuzulassen.

Nachdem die Moskauer Wahlkommission aus weit hergeholten Gründen den Oppositionskandidaten untersagt hat, für die Moskauer Duma zu kandidieren, begann in der russischen Hauptstadt eine Welle friedlicher Proteste für freie Wahlen. Die russische Nationalgarde und die Polizei haben die Proteste brutal niedergeschlagen und das Recht der russischen Bürger auf Anteilnahme am politischen Prozess, das Recht auf friedliche Versammlungen sowie weitere bürgerliche und politische Rechte auf grobe Weise verletzt. Während einige vorangegangene Demonstrationen von den Behörden genehmigt wurden, einschließlich der am 10. August, die die zahlreichste der jüngsten Geschichte des Landes war, lehnten die Moskauer Behörden den Antrag auf eine weitere Demonstration am 17. August ab. Daher bleibt anzunehmen, dass die Verhaftungen und Verprügelungen am kommenden Samstag weiter gehen werden. Jan Raczynski, Vorstandsmitglied beim Menschenrechtszentrum Memorial, einer führenden russischen Menschenrechtsorganisation, nahm an jeder der Versammlungen teil.

„Die Regierung ist der Meinung, dass man seine Rechte nur mit Genehmigung der Beamten wahrnehmen darf, und jeder, der eine andere Meinung vertritt, wird als Bedrohung und Feind wahrgenommen“, sagt Raczynski.

Ein Moskauer Bezirksgericht hat am 8. August die Journalistin der „Novaja gazeta“ Jelena Milaschina zu einer Geldstrafe von 15.000 Rubeln verurteilt. Sie hatte gemeinsam mit Svetlana Gannuschkina und Alexander Tscherkassov an einer Kundgebung zum Gedenken an die Ermordung Natalja Estemirovas teilgenommen.

Svetlana Gannuschkina und Alexander Tscherkassov waren bereits am 31. Juli zu Strafzahlungen in Höhe von 150.000 bzw. 10.000 Rubeln verurteilt worden.

Milaschinas Anwalt wies auf eine Reihe von Rechtsverstöße hin und stellte mehrere Anträge, die jedoch sämtlich abgelehnt wurden. Vor allem forderte er die Einstellung des Verfahrens wegen Fehlens eines Strafbestandes.

 

8. August 2019

 

 

Svetlana Gannuschkina und Alexander Tscherkassov (beide Vorstandsmitglieder von Memorial International) sind heute von einem Moskauer Bezirksgericht nach dem Ordnungsstrafrecht (Art. 20.2) zu erheblichen Geldstrafen verurteilt worden. Sie hatten am 15. Juli – dem zehnten Jahrestag der Ermordung Natalja Estemirovas – eine (nicht genehmigte) Mahnwache abgehalten und darauf hingewiesen, dass die Tat bis heute nicht aufgeklärt wurde. Das Verfahren gegen die dritte Teilnehmerin, Jelena Milaschina (Novaja gazeta), wurde für den 8. August anberaumt.

Alexander Tscherkassov wurde die Zahlung von 10.000 Rubeln auferlegt (umgerechnet ca. 140 EUR). Svetlana Gannuschkina dagegen 150.000 Rubel (ca. 2.120 EUR). Sie hatte bereits am 8. Juli 2018 gemeinsam mit Oleg Orlov eine Mahnwache für den damals inhaftierten Ojub Titiev durchgeführt und war deshalb bereits ebenso wie Oleg Orlov zu einer Strafzahlung verurteilt worden. Daher legte man ihr nunmehr einen „wiederholten Verstoß gegen die Regeln zur Durchführung von Mahnwachen“ zur Last.

Svetlana Gannuschkina beruft sich auf das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit das sowohl von der russischen Verfassung (Art. 29 und 31) sowie von der Europäischen Konvention (Art. 10 und 11) garantiert wird. „Wir haben dabei die öffentliche Ordnung nicht gestört und niemandem Unannehmlichkeiten bereitet“, betont sie in einer schriftlichen Stellungnahme, die zu den Akten genommen wurde.

Darüber hinaus verweist sie auf einen Artikel im Ordnungsstrafrecht, demzufoge „eine Handlung nicht als Verstoß gegen das Ordnungsstrafrecht anzusehen ist, wenn sie aufgrund äußerster Notwendigkeit“ erfolgte. Eben dies sei hier der Fall: Im Mordfall Estemirova „werden keinerlei Ermittlungen durchgeführt, es wird nichts unternommen, um die Täter und Auftraggeber des Mordes ausfindig zu machen. In dieser Situation bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an die Öffentlichkeit und an die höchste russische Staatsführung in der Person Präsident Putins zu wenden.“

 

30. Juli 2019

 

 

 

Am 15. Juli, , fand bei Memorial in Moskau ein Gedenkabend für Natalja Estemirova statt – aus Anlass des zehnten Jahrestages ihrer Ermordung. Unter der Moderation von Tatjana Lokshina (Human Rights Watch) berichteten ihre Freunde und Mitstreiter von ihrer gemeinsamen Arbeit in Tschetschenien – Oleg Orlov, Katja Sokirjanskaja, Alexander Tscherkassov, Svetlana Gannuschkina und nicht zuletzt der kürzlich aus der Haft entlassene Ojub Titiev. Ihn hatte Natalja Estemirova im Jahre 2001 zu Memorial gebracht, und vor allem er hatte ihre Arbeit nach ihrer Ermordung fortgesetzt.

Aus diesem Anlass war auch Nataschas Tochter Lana Estemirova angereist. Sie arbeitet derzeit an einem Buch über Leben und Wirken ihrer Mutter sowie über ihre eigene Kindheit in Tschetschenien. Ein Auszug daraus trug Schauspielerin Tschulpan Chamatova in einer Lesung vor, die in einer Videoaufzeichnung präsentiert wurde. Die (gekürzte) deutsche Übersetzung finden Sie hier. Ein Interview mit Lana Estemirova finden Sie hier (ebenfalls leicht gekürzt).

 

24. Juli 2019

 

 

Interview mit Lana Estemirova

 

Es folgt das (leicht gekürzte) Interview von Alexej Alexandrov mit Lana Estemirova.

 

Warum leben Sie nicht in Russland und was war der Anlass für Ihre jetzige Reise hierher?

Ich habe sehr oft an den zehnten Jahrestag der Ermordung meiner Mutter gedacht, für mich ist das ein wichtiges Datum. Ich habe die ganzen Jahre über sie nachgedacht. Und ich wollte immer an diesem zehnten Jahrestag bei Memorial sein, bei Mamas Arbeit, im Umkreis ihrer Kollegen. Deshalb bin ich eigens für ein paar Tage hierher gekommen, um zu diesem Zeitpunkt hier zu sein, bei ihren Freunden und Kollegen.

Ich lebe jetzt in Großbritannien. Gleich nach Mamas Ermordung war klar, dass ich nicht in Russland bleiben kann, und Mama hatte sich immer sehr gewünscht, dass ich eine Ausbildung im Ausland bekomme. Deshalb habe ich die 11. Klasse in Russland bei meiner Tante abgeschlossen und dann in Oxford und in London studiert.

Auf der Gedenkveranstaltung von Memorial zum 10. Todestag von Natalja Estemirova sprach unter anderem auch ihre Tochter Lana Estemirova. Lana schreibt derzeit an einem Buch über ihre Mutter und ihre Kindheit in Tschetschenien. Auf der Veranstaltung las Tschulpan Chamatova per Videoübertragung aus einem Kapitel des Buches über den letzten Tag Nataljas aus der Sicht ihrer Tochter. Wir bringen einen Ausschnitt in deutscher Übersetzung.

 

„Lana, wo ist mein Parfüm?“ Hektische Worte, in der Stimme ein Vorwurf. Ich habe zuhause eine eigene Ordnung eingeführt und lehne Mamas System, Kleinigkeiten aufzubewahren mit Verachtung ab. Ich habe mein eigenes System. Hätte sie mir vielleicht, wenn ich dieses verfluchte Parfüm an seinem Platz gelassen hätte, an diesem Morgen etwas anderes gesagt, in einem anderen Ton? „Lana, wo ist mein Parfüm?“ Das ist der letzte Satz, den ich von Mama gehört habe. Sie ging und hinterließ einen leichten Duft von Nina Ricci. Und danach habe ich sie nicht mehr lebend gesehen.

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