Nachfolgend dokumentieren wir die Stellungnahme des Menschenrechtszentrums Memorial zum "Memorandum russischer Menschenrechtler" in englischer Übersetzung

 

Response of the Council of the Memorial Human Rights Center

Over the past year, the possibility of Russia’s withdrawal or expulsion from the Council of Europe has been actively discussed in the media and social networks.

Such a development will inevitably cause extremely serious consequences for the human rights situation in our country.

In the face of this threat, a group of Russian human rights activists issued a special Memorandum, and invited other like-minded members of Russian human rights NGOs to join the appeal. Our colleagues express their great concern and declare that Russia should remain in the Council of Europe, since, for our citizens, the European Court of Human Rights - the most important institution in the Council of Europe – is probably the only higher authority that can protect their basic human rights. Decisions issued by the European Court of Human Rights allow Russian civil society to fight for and sometimes achieve systemic changes in legislation and law enforcement practice. The Memorandum sets forth specific proposals addressed to the Council of Europe by the signatories. They propose to soften the sanctions against the Russian delegation in order to prevent it from pulling out of PACE.

Warum wir das „Memorandum russischer Menschenrechtler“ nicht unterzeichnet haben

Stellungnahme des Menschenrechtszentrums Memorial

 

Der Europarat ist bemüht, Russland als Mitglied zu behalten, auch um den Preis von Zugeständnissen. Die russischen NGOs vertreten hierzu keine ganz einheitliche Position. Nachfolgend dokumentieren wir die Stellungnahme des Menschenrechtszentrums Memorial vom 14. Dezember 2018.

 

"Im letzten Jahr wurde lebhaft in den Medien und sozialen Netzen über ein mögliches Ausscheiden oder einen Ausschluss Russlands aus dem Europarat diskutiert. Eine solche Entwicklung hätte natürlich für die Menschenrechtslage in unserem Land schwerwiegende Konsequenzen.

Angesichts dieser Gefahr hat eine Gruppe russischer Menschenrechtler ein spezielles Memorandum veröffentlicht und Gleichgesinnte aus anderen russischen Menschenrechtsorganisationen aufgefordert, sich ihm anzuschließen. Unsere Kollegen äußern ihre Befürchtungen und betonen, dass ein Verbleib Russlands im Europarat erreicht werden müsse, denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), das wichtigste Institut des Europarats, sei für Bürger unseres Landes oft die einzige Instanz, an die sie sich wenden können, um ihre Rechte zu verteidigen. Unter Berufung auf Entscheidungen dieses Gerichts versucht die russische Zivilgesellschaft, mitunter auch erfolgreich, wesentliche Änderungen in Gesetzgebung und Rechtspraxis durchzusetzen. Das Memorandum enthält konkrete Vorschläge der Unterzeichner an den Europarat. Sie plädieren dafür, die Sanktionen des Parlamentarischen Rats gegenüber der russischen Delegation in Teilen zu mildern, um der russischen Führung keinen Anlass zu bieten, die „Tür zuzuschlagen“.

Stellungnahme zu Fragen des Europäischen Gerichts für Menschenrechte

Oleg Sentsov, 2015 in einem skandalösen Prozess zu einer zwanzigjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, hatte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen sein Verfahren und etliche Gesetzesverstöße in diesem Zusammenhang geklagt - das Verfahren sei politisch motiviert, die angeblichen Beweise seien gefälscht und die Schuldbekenntnisse, soweit es sie gegeben habe, durch Folter erpresst. Sowohl Sentsov selbst als auch einer der Mitangeklagten, Gennadij Afanasjev, hatten von Folterungen berichtet (letzterer hatte mit dieser Begründung seine ursprürnglichen, Sentsov belastenden Aussagen vor Gericht widerrufen. Zu sieben Jahren Haft verurteilt, ist er inzwischen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs mit der Ukraine freigekommen).

Petr Zaikin, der Anwalt Ojub Titievs, hat beim Stadtgericht Schali (Tschetschenien) im Namen Titievs am 15. Mai eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung beantragt. Titiev, Leiter der Vertretung des Menschenrechtszentrums Memorial in Grozny, war am 18. März 2019 in einem fabrizierten Verfahren wegen Aufbewahrung von Drogen zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Das Gericht hatte bei seinem Urteil die Kategorie des Verbrechens von „schwer“ auf „mittelschwer“ herabgesenkt. Diese Abmilderung gibt dem Verurteilten auf formeller Grundlage die Möglichkeit, eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung zu beantragen, sobald ein Drittel der Strafe abgeleistet ist. Die Zeit in der Untersuchungshaft wird dabei angerechnet.

Titiev, der den Schuldspruch nicht anerkennt, hatte gegen das Urteil keine Berufung eingelegt. In einer Erklärung sagte er: „Dieses Urteil gibt mir die Möglichkeit, wahrscheinlich schon nach dem Monat Mai dieses Jahres aus der Haft freizukommen und in vollem Umfang zur Arbeit im Menschenrechtszentrum Memorial, die im Januar 2018 unterbrochen wurde und Sinn meines Lebens ist, zurückzukehren.“

22. Mai 2019

 

 

Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial

Der FSB versucht durch zahlreiche Verhaftungen, Druck auf die Menschenrechtsbewegung der Krimtataren auszuüben.

Ende März kam es auf der Krim zur größten Welle an Durchsuchungen und Verhaftungen unter den Krimtataren seit Beginn der Annexion der Halbinsel durch unser Land. Zwei Dutzend Aktivisten wurden verhaftet - sie werden verdächtigt, der Vereinigung Hizb ut-Tahrir anzugehören. (Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat diese als terroristisch eingestuft und ihre Tätigkeit auf dem Territorium Russlands verboten.) Den Verhafteten drohen Jahrzehnte Freiheitsentzug in einer Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen. Alle 24 Beschuldigten befinden sich in Einzelhaft, 23 wurden etappenweise in den Verwaltungsbezirk Rostov gebracht. (...)

In Pensa und St. Petersburg wird derzeit wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung namens „Set“ (Netz) mehreren jungen Leuten der Prozess gemacht. Der Vereinigung, von der angeblich Zellen in Moskau, Petersburg, Pensa und Weißrussland existieren, wird vorgeworfen Terrorakte vorbereitet zu haben mit dem Ziel, einen bewaffneten Aufstand herbeizuführen und die Macht zu ergreifen.

Den Angeklagten werden unterschiedliche Vergehen zur Last gelegt: Gründung einer terroristischen Vereinigung, Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung, unerlaubter Waffenbesitz, illegale Aufbewahrung von Sprengstoff, versuchte Brandstiftung oder Sprengung aus rowdyhaften Beweggründen, Drogenhandel in großem Umfang. Ihnen drohen zwischen fünf und zehn Jahren Freiheitsentzug. Zu ersten Verhaftungen und Geständnissen von Aktivisten der Antifaschistischen Bewegung kam es ab Oktober 2017. In der Folge stellte sich heraus, dass die Aussagen unter Folter zustande gekommen waren, wobei sich das Verfahren vor allem auf eben diese Geständnisse der Angeklagten stützt. Sowohl ein Gutachten der Öffentlichen Beobachtungskommission St. Petersburg (ONK) als auch Fotografien der Angeklagten bestätigen die Foltervorwürfe gegen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane.

Die Angeklagten engagierten sich in der Vergangenheit in unterschiedlichem Maße als Aktivisten, interessierten sich für linke Ideen, einige bezeichnen sich als Anarchisten oder Antifaschisten. Alle verbindet ein - allerdings unterschiedlich starkes - Interesse an Strikeball, einige trafen sich zu „Trainings“ im Wald, wo sie Erste Hilfe und „Überlebenstraining“ praktizierten.

Auch in diesem Jahr wurden die traditionellen Märsche zum 1. Mai wieder von vielen unabhängigen Organisatoren durchgeführt, darunter zahlreiche bürgerlicher Aktivisten, Mitglieder von Protestbewegungen, Künstler, Tierschützer. Bei den Aktionen kam es in ganz Russland zu über 100 Verhaftungen in verschiedenen Städten. Besonders in St. Petersburg gingen die Sicherheitskräfte dabei mit großer Härte vor. Keine dieser Personen hatte durch ihr Verhalten Anlass zu einer Festnahme gegeben; die Aktion in St. Petersburg war von der Stadtverwaltung zuvor genehmigt worden.

St. Petersburg:

In St. Petersburg wurden 69 Personen festgenommen, darunter Teilnehmer verschiedener Bewegungen und Aktion wie „Unbefristeter Protest“ [Bessrotschnij Protest]und „Frühling“ [Vesna], Feministinnen und Demonstranten, die freie Wahlen gefordert hatten. Die Feministinnen wurden später am Tag ohne Protokoll wieder entlassen. Zuvor hatte man sie im Gefangenentransporter im Kreis durch die Stadt gefahren, danach auf der Polizeiwache fotografiert und Fingerabdrücke genommen. Andere verhaftete Personen hatten Plakate mit Aufschriften getragen, unter anderem „Putin ist nicht ewig“ oder „Petersburg gegen EDRA“ [„Edinaja Rossija“ Einiges Russland]. Ein Journalist wurde bei der Festnahme von Polizisten verprügelt und dabei verletzt, ebenso mindestens zwei weitere Personen, darunter eine Frau, beide mussten ins Krankenhaus gebracht werden.

Zu Gewaltanwendung kam es auf dem Nevskij Prospekt bei der Festnahme eines Videobloggers, der versucht hatte, die Aktionen zu filmen. Verhaftet wurden auch der Koordinator des Büros von Alexej Navalnyj in St. Petersburg, Aleksandr Schurschev, sowie der Oppositionspolitiker der Vereinigung „Offenes Russland“ [Otkrytaja Rossija] Andrej Pivovarov. Beide wurden bereits zu 10 Tagen Haft verurteilt. Die meisten anderen in Haft Genommenen wurden gegen Abend freigelassen, gegen mehrere wurde ein Protokoll wegen Verletzung des Versammlungsrechts aufgenommen. Ihnen drohen Haft- und Geldstrafen. Vier Personen wurden in Petersburg schon vor dem Beginn des Marsches festgenommen, zwei davon sind Aktivisten der Partei „Das andere Russland“ [Drugaja Rossija]. Sie wurden später wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch in Moskau kam es bereits in der Nacht vor dem 1. Mai zu Festnahmen: 6 Mitglieder der „Vereinigung des Volkswiderstandes“ [Assoziazija narodnovo soprotivlenija - ANS] wurden zu „prophylaktischen Gesprächen“ auf die Polizeiwache gebracht. Sie dürfen bis zum 9. Mai an keinen öffentlichen Versammlungen mehr teilnehmen.

Zu weiteren Festnahmen kam es in:

Petropavlovsk-Kamtschatskij: 16 Personen

Die Festgenommenen wurden mittlerweile wieder auf freien Fuß gesetzt.

Velikij Novgorod: 10 Personen

In Velikij Novgorod wurden 10 Personen verhaftet, darunter fünf Minderjährige, von denen vier wieder freigelassen wurden. Die fünfte Person wurde in ein Übergangszentrum für minderjährige Gesetzesbrecher gebracht. Die übrigen vier Verhafteten befinden sich ebenfalls wieder auf freiem Fuß.

Tomsk: 10 Personen

Die Festgenommen wurden inzwischen wieder freigelassen.

Kursk: 8 Personen

Die Festgenommen wurden wieder freigelassen, einer davon zu 15 000 Rubel und zwei zu 10 000 Rubeln Strafe wegen Verletzung des Versammlungsrechts verurteilt.

Novosibirsk: 5 Personen

Die Festgenommenen wurden wieder auf freien Fuß gesetzt.

Syktyvkar: 1 Person

Die Festgenommene wurde wieder freigelassen.

Jekaterinburg: 1 Person verhaftet

Der Festgenommene wurde wieder freigelassen.

Krasnodar: 1 Person verhaftet.

Der Festgenommene wurde wieder freigelassen.

 

2. Mai 2019

 

 

 

Vor einigen Tagen konnten Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, Freunde von Ojub Titiev, darunter auch Oleg Orlov, Titiev in der Siedlungs-Kolonie besuchen, in der er seine Haft verbüßt. Am 18. März war Titiev zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden und befindet sich seit dem 5. April in der Kolonie Nr. 3 in Argun. Orlov berichtete über seinen Besuch bei „Meduza“.

Titievs Familie – seine Frau, seine Kinder sowie weitere Verwandte - befinden sich derzeit in Frankreich. Freunde hatten sie bewogen, Tschetschenien zu verlassen, um sie vor möglichen Gefahren zu schützen (Familienmitglieder von Häftlingen oder Verfolgten sind gewöhnlich starkem Druck ausgesetzt). Sein Bruder Jakub ist mit seiner Familie in Tschetschenien geblieben und besucht ihn regelmäßig. Die Straf-Siedlungen unterscheiden sich von Kolonien gewöhnlichen Regimes vor allem dadurch, dass die Verurteilten Familienbesuch bekommen und außerhalb der Kolonien zur Arbeit in Betrieben eingesetzt werden können (ohne Begleitmannschaft, ohne Absperrungen).

Der Besuch Orlovs und seiner Freunde verlief ohne Probleme. Titiev berichtete über seinen Tagesablauf, der bisher ziemlich eintönig ist, denn er ist vorläufig jedenfalls nicht zur Arbeit eingeteilt und daher den ganzen Tag ohne eigentliche Beschäftigung, was ziemlich belastend ist. Etwa 70 % der Verurteilten arbeiten, die übrigen bleiben in der Kolonie; sie dürfen sich in ihren Zellen zwar aufhalten, allerdings nicht schlafen. Titiev teilt seine Zelle mit sieben Personen (sie haben doppelstöckige Betten). Es gibt eine Bibliothek, außerdem einen größeren Hof – letzteres ist eine deutliche Verbesserung im Vergleich zur Untersuchungshaft, wo nur ein sehr kleiner Hof zur Verfügung stand.

Titiev äußerte keine Klagen, weder über die Haftbedingungen noch über das Verhalten des Aufsichtspersonals und ebensowenig über das Essen. Wie Orlov berichtet, sind die Hafteinrichtungen in Tschetschenien im Vergleich zu denen im übrigen Russland in relativ gutem Zustand, sie sind ziemlich neu, auch die Isolatoren. Er hofft mit Titiev auf seine baldige Freilassung – da er durch die lange Untersuchungshaft ein Drittel seiner Strafe bereits verbüßt hat, wird er in diesem Monat bereits eine vorzeitige Haftentlassung beantragen können.

 

1. Mai 2019

 

 

Preisverleihung in Moskau

Seit nunmehr 20 Jahren organisiert Memorial alljährlich landesweit in Russland den Schülerwettbewerb für Oberschüler zur Geschichte. Memorial blickt auf zwei Jahrzehnte intensiver, abwechslungsreicher, teils aufregender und erfolgreicher Arbeit in diesem Projekt zurück.

Am 25. April fand die diesjährige Preisverleihung für die Gewinner statt.

1647 Arbeiten waren eingereicht worden, und 43 davon wurden ausgezeichnet. Die Verfasser reisten aus 24 russischen Regionen nach Moskau, viele aus kleinen Ortschaften und Dörfern, um an der Feier teilzunehmen und die Auszeichnung entgegenzunehmen. Eine Prämie erhielten übrigens auch die Lehrkräfte, die ihre Klassen zur Teilnahme an der Ausschreibung ermuntert und die Arbeiten betreut hatten.

Zur Feier waren etliche prominente Gäste gekommen, darunter Ljudmila Ulizkaja, die die Jury des Wettbewerbs leitet, Irina Prochorova, (Chefredakteurin der „Neuen Literarischen Rundschau“), Michail Fedotov (Vorsitzender des Menschenrechtsrats), Vladimir Lukin (Mitglied des Föderationsrats und früherer Menschenrechtsbeauftragter) sowie Markus Ederer (Botschafter der EU in der Russischen Föderation).

Es gab zwar auch in diesem Jahr Versuche nationalistischer Gruppen, die Veranstaltung zu stören, das wurde aber durch polizeiliches Eingreifen vereitelt, so dass die Zeremonie ungehindert stattfinden konnte.

 

29. April 2019

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