In mehreren Medien äußerte sich Ojub Titiev nach seiner Freilassung in Interviews. Wir bringen Auszüge.

 

Ojub, ich verstehe, dass Journalisten Ihnen den ganzen Tag ein und dieselben Fragen stellen, aber ich kann es nicht ungefragt lassen, wie geht es Ihnen?

Es geht mir wunderbar, ich bin einfach froh, alle Freunde zu sehen, ich habe lange niemanden mehr gesehen, schon anderthalb Jahre nicht mehr. Was das für ein Gefühl ist, verstehen Sie wahrscheinlich.

Ihre Frau und Ihre Kinder haben Tschetschenien direkt nach Ihrer Verhaftung verlassen. Sind sie wieder zurückgekehrt?

Nein, sie sind nicht zurückgekommen. Ich habe sie noch nicht gesehen. Wir haben nur kurz telefoniert, sie wissen, dass ich es nach Hause geschafft habe.

Sie haben im Verlauf des ganzen Prozesses ziemlich gut durchgehalten. Woher haben Sie die Kraft genommen?

Die Kraft hat mir die Unterstützung meiner Freunde, nahestehender Menschen und Kollegen gegeben, aber auch der Journalisten und der internationalen Gemeinschaft. Ich habe verstanden, dass es eine sehr starke, kraftvolle Unterstützung gab. Deshalb habe ich mich immer sicher gefühlt.

Hätten Sie sich, als alles begann, vorstellen können, dass sich tausende Menschen aus der ganzen Welt für Sie einsetzen würden?

So etwas zu erwarten ist unmöglich. Aber das ist langsam angewachsen. Dass mich meine Kollegen unterstützen, war mir immer bewusst, und ich habe diese Unterstützung gefühlt.

Internationale Menschenrechtsorganisationen sind eine Sache, aber haben Sie die Unterstützung Ihres eigenen Volkes gespürt, dem Sie geholfen haben, wofür Sie ja eigentlich hinter Gitter gelandet sind?

Das habe ich. Überall, wo man mich hinbrachte, haben alle davon gesprochen, dass sie alles ganz genau verstehen und wissen, dass das eine fabrizierte Sache ist. Und das keiner diesen Unfug [mit den Drogen] glaubt.

Warum glauben Sie ist es derzeit für Tschetschenen selbst in der Tschetschenischen Republik gefährlicher als für ethnische Russen? Oder scheint das nur so?

Nein, das ist keine Illusion. Die russischsprachige Bevölkerung hat heutzutage die Unterstützung des Kreml, des Präsidenten. Das wissen sie. Wir, die Tschetschenen, spüren davon nichts. Es gibt einfach so gut wie keinen Schutz für den einfachen Tschetschenen von Seiten des Kreml.

Womit haben Sie die Machthaber so sehr verärgert, dass man beschloss, Ihnen eine Lektion zu erteilen?

Das hat mit mir als Person wahrscheinlich gar nichts zu tun. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie Memorial schließen wollten. Und das haben sie erreicht.

Wissen Sie, warum das alles [die Verhaftung] ausgerechnet im Januar 2018 passierte?

Um ehrlich zu sein, ich habe noch nicht alles analysiert, ich werde das versuchen und einen Bericht für Memorial über meine Zeit in beiden Institutionen schreiben und versuchen, dort zu einigen Schlussfolgerungen zu kommen.

Wird Memorial seine Arbeit in Tschetschenien fortsetzen?

Nein, wir haben unser Büro sofort geschlossen. Meine Kollegen hörten auf zu arbeiten und kümmerten sich um ihre eigene Sicherheit. Wir werden in anderen Regionen weiterarbeiten, aber nicht in Tschetschenien.

 Hat sich Ihre Motivation für die Menschenrechtsarbeit in den letzten 20 Jahren verändert?

2001 war hier Krieg, es gab Entführungen und Morde. Dem musste man etwas entgegenstellen. Ich sah die Arbeit von Memorial, der einzigen Organisation, auf die ich damals stieß, die den Tschetschenen tatsächlich half. Deshalb erklärte ich mich bereit, bei Memorial zu arbeiten. Gefahr existierte in all den Jahren. Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, alles ist geblieben, wie es war: Entführungen, Folter, Morde.

 Gab es Momente, in denen Sie wirklich Angst hatten?

Ich hatte in all den 17 Jahren der Arbeit Angst und war besorgt. Ich wusste genau, dass alles jeden Moment auseinanderfallen kann, und ich hatte mich daran gewöhnt, mit diesem Wissen zu leben. Aber Angst oder nicht, die Arbeit muss gemacht werden, man muss etwas tun.

Und hinter Gittern?

 In der Untersuchungshaftanstalt und in der Kolonie gab es alle möglichen Momente - ruhige, unruhige und ängstliche.

Gab es Momente, in denen Sie dachten: Zum Teufel mit ihnen! Ich werde ein Geständnis unterschreiben.

Natürlich nicht [lacht]. Es gab nichts dergleichen, das konnte es nicht geben, und das wird es nie geben. Der Islam untersagt, sich zu Handlungen zu bekennen, die man nicht begangen hat. Leider waren die Umstände so, dass ich gegen das Urteil keine Berufung einlegen konnte. Ich war gezwungen, das nicht zu tun. Aber ich werde später auch über diese Umstände sprechen.

Haben Sie die Beiträge der örtlichen Fernsehsender getroffen, in denen behauptet wurde, Sie seien ein Drogenabhängiger?

Alle wissen ganz genau, dass das nicht stimmt. Ich war nie drogenabhängig. Ich habe niemals auch nur Alkohol konsumiert, nie geraucht.

Und der Versuch Sie zu beschmutzen, als solcher? War das nicht beleidigend?

Das ist nicht beleidigend, weil es nicht wahr ist. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Das berührt mich absolut nicht.

Mit was für Leuten waren Sie inhaftiert? Was waren das für Menschen?

Es gab viele verschiedene Leute. Eine Strafkolonie ist wie ein Schlafsaal, in dem es sowohl gute, wundervolle Menschen gibt, die ich kennengelernt habe und mit denen ich in Kontakt bleiben möchte, als auch Menschen, die nicht unbedingt eine solche Beziehung benötigen. Es war eine abwechslungsreiche Gruppe. Ich habe im Laufe der anderthalb Jahre viel gelernt.

Was haben Sie gelernt?

Ich habe das Strafvollzugssystem in unserer Republik von innen heraus kennengelernt. Ich habe die inhaftierten Personen kennengelernt, habe erfahren, wofür sie inhaftiert wurden, und gesehen, wie viel Prozent von ihnen unschuldig waren. Wenn ich frei gewesen wäre, hätte ich diese Zahlen nicht erfahren, und nun kann ich dieses System analysieren. Ich habe sehr nützliche Informationen gesammelt.

Und wie viel Prozent waren unschuldig?

Innerhalb eines Jahres und drei Monaten liefen neun Personen durch meine Zelle in der Untersuchungshaft. Nur drei von ihnen waren Kriminelle. Das gibt Ihnen eine Vorstellung.

War der Rest aus politischen Gründen verhaftet worden?

Nicht alle von ihnen. Einige waren aus Launen fahrlässiger, krimineller Polizisten dort. Das ist nicht einmal Politik. Es ist nur das System der Rechenschaftspflicht für strafrechtliche Ermittlungen im russischen Innenministerium. Jedes Jahr muss jeder Mitarbeiter seine Statistiken zur Aufdeckung von Straftaten verbessern. Wenn Sie also im letzten Jahr 10 Personen verhaftet haben, müssen es in diesem Jahr 11 sein. Das ist eine kriminelle Logik, aber herrscht immer noch. Wenn ein Mitarbeiter seine Statistiken nicht erhöht, wird er entlassen und muss sich Verbrechen ausdenken und unschuldige Personen einsperren. Davon müssen wir wegkommen. Wir müssen einen Ausweg aus dieser Situation finden.

Ist Ihnen klar, zu welcher Gruppe Sie gehören?

Als ich diese Packung [Drogen] sah, wusste ich natürlich sofort, was passiert war. Ich bin kein gewöhnlicher Verurteilter - es war von Anfang an klar, warum sie mich ins Gefängnis geworfen haben, es waren keine Erklärungen erforderlich.

Können Sie das heutige Tschetschenien mit einem Satz beschreiben?

Es ist eine Diktatur, das wissen wir alle. Aber die gibt es nicht nur hier, sondern im ganzen Land.

Sie sprechen von einer Diktatur. Das klingt in Ihrer Situation mehr als mutig. Haben Sie keine Angst?

Natürlich habe ich Angst um die mir Nahestehenden und um meine Kollegen. Aber das, was ist, ist einfach offensichtlich. Alle wissen, was das für ein Regime ist. Ein totalitäres Regime. Nicht nur in Tschetschenien, sondern im ganzen Land. Das, was in Tschetschenien vor sich geht, passiert mit der Billigung des Kreml und des Präsidenten. Er lässt das alles zu. Es ist seine Schöpfung.

Welches Verhältnis haben Sie zu Ramzan Kadyrov?

 Ich kenne ihn gar nicht, habe ihn nie getroffen. Ich habe überhaupt kein Verhältnis zu ihm.

Tut er für Tschetschenien eher positive oder negative Dinge?

Vielleicht tut er positive, aber im Bereich der Menschenrechte wird hier so gut wie nichts getan.

Würden Sie gerne die Polizisten treffen, die Ihnen die Drogen untergeschoben haben, und was würden Sie Ihnen sagen?

Ich habe nicht den geringsten Wunsch, sie zu sehen. Ich will sie hinter Gittern sehen für das, was sie anrichten und angerichtet haben. Ich hoffe, dass sie dort landen.

Streben Sie eine Annullierung der Haft und des Urteils an?

Ich denke schon. Man muss bis zum Ende versuchen, eine Annullierung des Urteils und eine Bestrafung der Schuldigen zu erreichen.

Hält Sie die Freilassung auf Bewährung nicht zurück? Es gibt die Auffassung, dass Sie mit dem Verzicht auf Widerspruch gegen das Urteil indirekt Ihre Schuld anerkannt haben.

Freilassung auf Bewährung, das ist kein Sieg. Fast anderthalb Jahre hinter Gittern und vier Jahre Freiheitsentzug sind kein Sieg. In dem Straflager, in dem ich saß, waren viele, die nach demselben Paragraphen 228.2 verurteilt wurden. Nicht einer von ihnen erhielt eine Strafe wie ich. Ihre waren kürzer, sie erhielten bis zu drei Jahren. Praktisch alle, 90 Prozent, gehen dort mit einer Freilassung auf Bewährung raus. Man hat bei mir also keine Ausnahme gemacht. Ich habe jetzt noch eine Bewährungsstrafe von über zweieinhalb Jahren vor mir. Das muss man erst mal irgendwie überstehen.

Haben Sie von der Sache mit Ivan Golunov gehört?

Ich habe es verfolgt, meine Kollegen haben mir davon erzählt. Ich bin sehr froh, dass alles so ausgegangen ist. Er hat gelitten, aber ich glaube, seine Freilassung ist ein Sieg für sich.

Wie erklären Sie sich, dass die Öffentlichkeit Sie nicht in derselben Weise verteidigen konnte?

Alles hängt von der Reaktion des Präsidenten ab. Ich habe ihn zwei Tage nach meiner Verhaftung kontaktiert und eineinhalb Jahre später immer noch keine Antwort erhalten. Ich bin sicher, dass die Reaktion im anderen Fall [Golunovs] eine augenblickliche war, und deshalb hat sich alles wie normal entwickelt. Alles hängt davon ab, was der Präsident von uns hält. Was auch immer er denkt, so geht es aus.

Quellen:

https://meduza.io/en/feature/2019/06/21/scary-or-not-there-s-work-to-be-done
https://www.kavkazr.com/a/eto-detische-putina/30012724.html

 

 

Juni 2019

 

 

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