Auf der Gedenkveranstaltung von Memorial zum 10. Todestag von Natalja Estemirova sprach unter anderem auch ihre Tochter Lana Estemirova. Lana schreibt derzeit an einem Buch über ihre Mutter und ihre Kindheit in Tschetschenien. Auf der Veranstaltung las Tschulpan Chamatova per Videoübertragung aus einem Kapitel des Buches über den letzten Tag Nataljas aus der Sicht ihrer Tochter. Wir bringen einen Ausschnitt in deutscher Übersetzung.

 

„Lana, wo ist mein Parfüm?“ Hektische Worte, in der Stimme ein Vorwurf. Ich habe zuhause eine eigene Ordnung eingeführt und lehne Mamas System, Kleinigkeiten aufzubewahren mit Verachtung ab. Ich habe mein eigenes System. Hätte sie mir vielleicht, wenn ich dieses verfluchte Parfüm an seinem Platz gelassen hätte, an diesem Morgen etwas anderes gesagt, in einem anderen Ton? „Lana, wo ist mein Parfüm?“ Das ist der letzte Satz, den ich von Mama gehört habe. Sie ging und hinterließ einen leichten Duft von Nina Ricci. Und danach habe ich sie nicht mehr lebend gesehen.

Warum leuchtete Mama so in den letzten Tagen? Lag eine verborgene Bedeutung dahinter? Oder versuche ich lediglich Anzeichen dafür zu finden, dass man sie hätte retten können?

Als sich der Schlüssel im Schlüsselloch dreht, gehe ich in den Flur, um Mama zu begrüßen. Mama geht zur Küchentür, ihre Haut strahlt, als würde sie von innen beleuchtet. Auf ihren kastanienbraunen Haaren funkelt noch golden die untergehende Sonne. Um sie herum tanzen Myriaden von Staubkörnchen und fügen Zauber hinzu. „Mama“, flüstere ich begeistert, „Du leuchtest ja ganz!“ Als Antwort ein verlegendes „Oh, Lanuska, ach du wieder.“ Ich erinnere mich an das unsichere Lächeln und die Spuren von Müdigkeit in ihrem Gesicht. Sie war so schön!

Die Tür fiel hinter Mama zu. Ich schlief ein. Später sagte man mir, dass Mama, in dem Moment als sie aus dem Eingang nach draußen ging, von einigen Männern gepackt und zu einem Auto gezerrt wurde. Sie wehrte sich und kratzte sie, nach den DNA-Spuren unter ihren Fingernägeln zu urteilen. Sie schrie um Hilfe, aber unsere Fenster gehen auf die andere Seite hinaus. Ich hörte nichts. Die Nachbarn aber hörten es ganz genau. Und saßen still in ihren Wohnungen. „Wenn die Zeugen in den ersten zwei Stunden gemeldet hätten, dass sie entführt wurde, hätte man sie möglicherweise finden und retten können“, sagte der Ermittler mir. Wenn einer von ihnen bei uns an die Tür geklopft hätte, mich gewarnt hätte, wäre alles anders gekommen. Aber die Nachbarn versteckten sich erschreckt, Mama wurde zu ihrer Hinrichtungsstätte gebracht und ich verschlief alles. Der Wecker klingelte um acht. Während ich aufwachte, ging ich gedanklich die to-do-Liste durch. Frühstücken. Wohnung aufräumen. Danach Französisch. Dann Tasche packen und zu Memorial fahren. Mich dort mit Mama treffen und zusammen aufs Land fahren – ich werde dort für ein paar Tage bei Verwandten bleiben, während Mama auf Dienstreise ist. [...]

Oh, bald Zeit aufzubrechen. Ich schicke Mama eine SMS: Bist du schon bei Memorial? Keine Antwort. Ich schreibe an ihre zweite Nummer. Warum ist es nur immer so schwer, sie zu erreichen? Ich beginne im Schrank zu wühlen, um Sachen für eine Woche zu packen. [...] Ich brauche mehr Röcke! Nach langer Überlegung nehme ich das weiße Kleid mit den dünnen blauen und rosa Streifen und die rosa-grünen Sandalen. Ich hasse dieses Kleid, fühle mich in ihm wie ein kleines Mädchen. […] Warum nur zieht Mama mich an wie ein kleines Kind?

 Und überhaupt, wo ist sie? Ich schaue auf mein Telefon: keine Antwort. Ich werde wütend. Warum macht sie das immer so? Bittet selbst anzurufen und nimmt dann nicht ab! Ich wähle wieder und wieder. Lange Töne „ins Nirgendwo“. Gut, dann fahre ich eben ins Büro, warte dort und plaudere mit ihren Kollegen. Ich setze mich in den Bus ins Zentrum. Alle zehn Minuten rufe ich wieder an. Merkwürdig: Jetzt ist sie auf beiden Telefonen nicht erreichbar. In was für eine Geschichte ist sie denn nun wieder geraten? Die Verärgerung wächst. Wenn sie doch nur schneller ins Büro käme, ich will unsere Reise nicht um noch einen Tag verschieben. Ich steige aus dem stickigen Bus. Zwei Minuten Schnellschritt in der Mittagssonne und ich bin bei Memorial. Die meisten von Mamas Kollegen sind am Platz, sie aber nicht. „Wisst ihr nicht, wann sie kommt? Habt ihr sie heute schon gesehen?“ Alle rundherum beginnen sich Sorgen zu machen. Keiner kann sie erreichen: Beide Telefone sind ausgeschaltet. Irgendetwas ist passiert. Wahrscheinlich sitzt sie im Büro von irgendeinem Beamten und kann ihr Telefon nicht aufladen. Oder hat man sie festgenommen? So etwas passiert Mama ständig. Ich bin sicher: Sie kehrt mit einer weiteren wahnsinnigen Geschichte zurück. Die Uhr tickt: zwei Stunden, drei, vier, fünf. Alle versuchen mich zu überzeugen, dass Mama in Ordnung ist. Dass alles gut wird. Warum erzählt ihr mir das? Natürlich ist alles gut mit ihr, das ist doch Mama! Wo das Leben sie auch hin verschlägt, sie kehrt immer heil und unversehrt zurück! Und heute wird sie zurückkehren, sie muss zurückkehren... . Irgendjemand schlägt vor, dass ich am Abend zu Taisa, einer der Mitarbeiterinnen von Memorial, gehen soll. […] Aber was ist dann mit Vanessa, meiner Katze? Mama wollte mich aufs Land bringen und am Abend nach Hause zurückfahren. Wer soll die Katze füttern? Wenn sich jemand darum kümmern wird, gut, dann fahre ich mit zu Taisa. Ich bin sicher, dass Mama nachts zurückkommt. Sie soll mich sofort abholen, ich will hören, was ihr passiert ist. Taisa hat eine wundervolle Familie. Ihre Mama macht das Abendessen. […]

„Taisa, gibt es Neuigkeiten?“ Ich frage alle fünfzehn Minuten. Es gibt keine. Sie wird Bescheid sagen, sobald sie etwas erfährt. Ich versuche Mama anzurufen. Keine Antwort. Wenn sie sie festgenommen hätten, würde man sie doch wahrscheinlich telefonieren lassen? Alles ist in Ordnung … alles in Ordnung. […] Iss das Abendessen, das Taisas Mama extra für dich gekocht hat. Alles ist sehr lecker, aber ich bekomme keinen Bissen herunter. In den Magen ist das Monster der Panik eingezogen. Stückchen für Stückchen, versuche ich mich mit dem Magen zu verständigen, aber die Sorge füllt ihn völlig aus. Alles ist in Ordnung. Entspann dich. […] Ich bin so dankbar für die Gastfreundschaft. Sie haben Mitleid mit mir, aber das ist nicht notwendig. Mama holt mich doch bald ab. Es ist alles in Ordnung … . Jemand ruft mich an. Ich nehme ab und höre das Wehklagen dieser schrecklichen Frau.

„Lana“, sagt sie unter Tränen. „Wie... wie geht es dir?“

„Warum weinst du?“

„Hat man es dir noch nicht gesagt? Weißt du es noch nicht?“

„Was weiß ich noch nicht?“

„Deine Mutter lebt nicht mehr. Sie haben sie umgebracht.“ Weinen...

„HALT DEN MUND! HALT DEN MUND! DAS IST NICHT WAHR!“

„Lana...“

„HALT DEN MUND! UND RUF MICH NIE MEHR AN!“

Ich werfe das Telefon an die Wand. Laufe ins Badezimmer. Am Waschbecken dreht es mich. Nein. Nein. Nein. Nein. Das ist unmöglich. Nein.

„Was hat sie gesagt“, fragt Taisa. Oh nein, sie sieht so erschrocken aus! „Hör nicht auf diese schreckliche Frau, Lana, sie weiß nicht, was sie sagt... .“ Plötzlich wird es schwarz im Zimmer. Durch einen Nebel höre ich die Schreie von Taisas Mutter. Ich komme auf dem Sofa zu mir. Offenbar hatte ich das Bewusstsein verloren. Ich stehe auf und erinnere mich wieder: Sie haben Mama umgebracht! Aber das ist nicht wahr! Und was, wenn es doch wahr ist? Nein, nein, nein, nein, nein!

Das ist wach mein schlimmster Albtraum! Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie mir jemand diese Worte sagt? Wie oft habe ich um dein Leben gefürchtet, Mama? Wie oft habe ich Gott angefleht, dich zu beschützen? In meinen Kopf dringen absurde, erschreckend alltägliche Gedanken.

„Was wird mit mir“, frage ich Taisa und schaue stumpfsinnig durch sie hindurch. „Wo werde ich wohnen? Was wird mit meiner Katze? Und was mit Mamas Notebook?“ Aus irgendwelchen Gründen dachte ich immer, wenn ich mir DAS vorstellte, an Mamas Sachen – elektronische Geräte, Kleidung, Dokumente. Ihr Schicksal beunruhigte mich genauso wie mein eigenes. Als ob sie, ebenso wie ich, zu Waisen würden. „Natascha kommt zurück“, versucht Taisa mich zu überzeugen. Aber ich höre keine Überzeugung. Sie tut mir leid. Sie kennt mich kaum und steckt nun mittendrin. Vielleicht hatte die schreckliche Frau nicht Recht? Mama kommt morgen zurück... .

„Taisa, um Gottes Willen, sprich mit niemandem! Nimm das Telefon nicht ab! Ruf niemanden an! Weil du nichts verbergen kannst, ich werde alles in deinem Gesicht lesen und es erfahren.“

 „Lanotschka, natürlich, alles, was du willst!“

„Mach die Nachrichten nicht an und sprich nicht mit den Nachbarn, ich flehe dich an!“

„Das werde ich nicht, versprochen.“

Jemand kommt in den Flur. Ich höre Stimmen.

„Wer ist das? Bitte sag ihnen, dass sie gehen sollen!“

„Das ist nichts Schlimmes, Lanotschka, gar nichts Schlimmes. Komm, wir bringen dich schlafen. Morgen fahren wir zu Memorial, Mama wird dort auf dich warten und wir werden über alles lachen.“

(…)

Warum steht bei Memorial so eine Menschenmenge? Hunderte stehen auf der Straße, einige weinen. Wer sind die? […] „Das ist ihre Tochter“, flüstert jemand von hinten. Irgendeine Hand berührt meinen Ellenbogen. Lassen Sie mich … . Wie viele Leute hier sind. Ich komme rein und es herrscht Stille. Alle schauen auf mich. Wahrscheinlich denken sie auch, dass Mama tot ist. Aber das ist unmöglich. Ich muss meine Tanten anrufen, sie beruhigen. Ich stoße alle um mich herum weg und laufe zum Telefon in der Küche. Ich wähle Tante Lenas Nummer und warte, bis sie den Hörer abnimmt. „Hallo, Tante Lena?“ Weinen als Antwort. „Glaub nicht, was sie sagen, Mama ist nicht gestorben. Glaub ihnen nicht!“, sage ich. Und plötzlich, während ich in den Hörer schreie, bemerke ich die blassen und ängstlichen Gesichter um mich herum, Gesichter, die ich seit meiner Kindheit kenne. Geliebte Gesichter. Und da verstehe ich – Mama lebt nicht mehr.

 

24. Juli 2019

 

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