Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 4.6.-1.6.2023


Die Stadt spricht

In dieser Woche wurden in verschiedenen russischen Städten Antikriegs-Aufschriften gesichtet: in Moskau und St. Petersburg, in der Republik Baschkortostan, in der Region Chabarovsk, in der Region Krasnodar, im Gebiet Vladimir, im Gebiet Murmansk, im Gebiet Leningrad, im Gebiet Amur und im Gebiet Voronezh.

Aufschriften in Moskau: „Frieden für die Welt!“ und „Alle wollen Frieden!“



Aufschrift
in St. Petersburg: „Putin ist ein Kriegsverbrecher“.

 

Aufschrift in der Republik Baschkortostan: „Dieses Wohnhaus haben russische Raketen zerstört. Putins Armee beschießt täglich friedliche Bürger der Ukraine. Wir müssen das beenden!“
Kyjiv, Charkiv, Mariupol, Odessa, Cherson, Mykolaiv, Borodianka, Slovyansk, Nikopol, Zaporizhzhia“.

Die Menschen reißen weiterhin Ankündigungen zur Anwerbung von Vertragssoldaten von den Wänden. Foto aus Moskau (aus der persönlichen Sammlung der Ersteller).

 

Einzelmahnwachen und Demonstrationen

In Tula hat ein Mann eine Einzelkundgebung mit dem Plakat „Ich bin gegen die SVO“ [Militärische Spezialoperation] abgehalten. Der den Sicherheitskräften nahestehende Sender „Tula.EkstremiZm“ teilte mit, dass das Gericht den Mann zu 48.000 Rubel (3 monatliche Mindestlöhne) verurteilt hat wegen „Diskreditierung der Armee“.


Viktor Gilin stellte sich mit dem Plakat „Herr Machonin! Ich fordere eine Beendigung der Militärischen Spezialoperation!“ an das Verwaltungsgebäude des Bürgermeisters des Gebiets Perm. Der Rentner wurde von Polizisten festgenommen.


Sergej Tschurkin ging in Barnaul mit einem Plakat mit dem Wort „Peace“ und dem Friedenszeichen (☮) auf die Straße. Der Aktivist wurde festgenommen.


Sabotage

Zhanna Romanovskaja, 55-jährige Beamtin und Leiterin der Finanzabteilung des Ministeriums für Architektur und Bauwesen des Gebiets Vladimir, warf drei Molotow-Cocktails auf ein Rekrutierungsbüro. Die Tore des Gebäudes fingen Feuer, das Feuer wurde sofort gelöscht, die Frau an Ort und Stelle festgenommen.

In Magnitogorsk versuchten Unbekannte, das städtische Rekrutierungsbüro in Brand zu setzen. Am 4. Juni schickte das Gericht einen Verdächtigen für zwei Monate in Untersuchungshaft in eine Isolationszelle. Demselben Verdächtigen wird Brandstiftung an Eisenbahnanlagen zehn Tage davor zur Last gelegt.

Der Kreml hat erklärt, dass Radiofrequenzen gehackt worden seien. Am 5. Juni hatten einige Radiosender in den Gebieten Rostov, Belgorod und Voronezh eine gefälschte „Ansprache Putins“ übertragen, in der vom „Einmarsch ukrainischer Truppen“, der „Ausrufung des Kriegsrechts“ und Plänen für eine „Generalmobilmachung“ die Rede war, außerdem wurde den Bewohnern der Grenzgebiete „eine Evakuierung ins Innere Russlands“ empfohlen.

Der FSB hat einen Einwohner von Primorje festgenommen, weil dieser Informationen über militärische Einrichtungen an die Ukraine weitergegeben hatte. Die Strafverfolgungsbehörden eröffneten ein Strafverfahren wegen Hochverrats. TASS berichtet, dass der Verdächtige Informationen über Gebäude von Strafverfolgungsbehörden und militärische Einrichtungen gesammelt hatte. In seinem Haus fanden FSB-Beamte Molotow-Cocktails.

Verfolgungen

Ehemalige Mitglieder der Demokratie- und Antikriegsbewegung „Vesna“ [Frühling] und ein Aktivist, der der Bewegung nicht angehört, wurden bis zum 5. August in Untersuchungshaft genommen. Ihnen drohen reale Haftstrafen, einer von ihnen könnte wegen der angeblichen Straftaten in Summe zu bis zu 48 Jahren Haft verurteilt werden. Nach Angaben der Anwälte stützen sich die Strafverfahren auf im Jahr 2022 veröffentlichte Posts von „Vesna“-Mitgliedern.

Gegen die Aktivistin und Lehrerin für Bildende Künste Darja Sergejeva wurde wegen Antikriegs-Posts bei Instagram und der Aktion „Der Februar dauert ein Jahr“ ein Strafverfahren eröffnet. Am 24. Februar 2023 hatte die junge Frau Nelken an ein Denkmal gebracht sowie ein Plakat mit den Portraits umgekommener Ukrainer und der Aufschrift „Um so viele Sünden abzuwaschen, reichen die Gebete nicht“. Am 9. Juni kam es bei ihr zu einer Hausdurchsuchung und die Aktivistin wurde zu einem Verhör mitgenommen. Bereits früher war Darja zu einer Geldstrafe wegen „Diskreditierung der Armee“ verurteilt worden, damals hatte sie auf einen Wahlzettel „Nein zum Krieg, Putin vor Gericht wegen Vorbereitung und Entfesselung eines aggressiven Krieges“ geschrieben.


Gegen den Permer Ex-Abgeordneten Konstantin Okunev wurde das achte Protokoll seit Kriegsbeginn wegen Posts im Internet erstellt, drei davon wegen Beleidigung Putins. Zuvor hatte Okunev in den Sozialen Netzwerken Putin einen „Lügner“ genannt und die Folgen von „Putinismus“ und Krieg erörtert.

Im Büro von Anna Zhilzova, die bei der „Föderalen Agentur für Lufttransport“ arbeitet, hing seit 2022 ein Anti-Kriegsplakat, das Kollegen gesehen hatten. Im Mai 2023 wurde es im Rahmen einer Brandschutzinspektion bemerkt. Im Juni wurde Zhilzova zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubel (6 monatliche Mindestlöhne) verurteilt.

Das Gericht verurteilte Artem Losovoj zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (etwa 2 monatliche Mindestlöhne), weil er ein Video über militärische Propagandatechniken verbreitet hat.

Roman Stelmach wird wegen „Diskreditierung der Armee“ angeklagt, weil er ein Bild aus dem Zeichentrickfilm „Neues aus Entenhausen“ mit der Aufschrift „Nein zum Krieg!“ in einem geschlossenen Social-Media-Account veröffentlicht hat.

Polizisten machten es ausfindig, um eine Haftverschärfung zu ermöglichen, nachdem Roman eine Einzelmahnwache zur Unterstützung Navalnyjs abgehalten hatte.

Vladislav Kraval wurde zu sechs Jahren Lagerhaft im allgemeinen Regime verurteilt wegen der Aufschrift [in etwa] „F**** den Krieg“ und wegen eines Fake-Anrufes über den vermeintlichen Brand eines Rekrutierungsbüros. Die Aufschrift hatte er an einem Z-Banner am Kulturpalast in Uchta angebracht. Kurz vor dieser Aktion hatte der Mann auf einer Mobilisierungsliste in Komi den Namen seines Sohnes gesehen.

Wegen eines Gesprächs in der Küche des Wachhauses eines Militärlabors in Kamtschatka wurde Aleksandr Mjalik wegen „Diskreditierung der Armee“ angeklagt. Mjalik hatte sich in Gegenwart eines medizinischen Mitarbeiters und sechs seiner Untergebenen - Schützen einer paramilitärischen Garde – scharf über den Präsidenten und seine Anhänger geäußert. Sie alle sagten gegen den Kommandeur aus.

Zu zehn Monaten Freiheitsentzug wurde ein Mann aus Astrachan verurteilt, weil er die russische Flagge heruntergerissen hatte.


Eine Frau aus Kaluga wurde auf Anzeige eines Parteimitgliedes von „Jedinaja Rossija“ [Einheitliches Russland] zu 30.000 Rubel (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) Geldstrafe verurteilt. Sie hatte Anti-Kriegsbilder veröffentlicht, Michail Chodorkovskij zitiert und über die Situation in Transnistrien geschrieben.

Ein Einwohner von Belarus, der in Moskau eine blau-weiße Anti-Kriegsflagge an blau-weiße Ballons gebunden in den Himmel steigen ließ, wurde beim Verlassen der Strafvollzugseinrichtung erneut festgenommen, er wird wegen Propaganda von Nazi-Symbolen angeklagt.

Online-Proteste

Russische Menschenrechtsaktivisten haben eine Initiative zwischen verschiedenen Staaten zur Gründung eines speziellen internationalen Sondertribunals unterstützt, das die Verbrechen Russlands in der Ukraine untersuchen soll.

Am 3. Juni streamte ein Einwohner von Nizhnij Novgorod einen Beitrag, in dem er das moderne Russland mit Deutschland der 1930er Jahre verglich und die russische Gesellschaft dafür kritisierte, dass sie nicht gegen den Krieg in der Ukraine protestiert. Außerdem postete er in seinem Blog bei Instagram Fotos von zerstörten ukrainischen Städten und Anti-Kriegsbilder. Am 4. Juni veröffentlichten Novgoroder Kanäle ein Video mit „Entschuldigungen“ des Nizhnji Novgoroders und teilten außerdem mit, dass der Held des Videos vor der Aufnahme von der Polizei festgenommen worden war und voraussichtlich ein Strafverfahren eingeleitet werden wird.

Im Mai verglich Vladimir Jefimov von der Partei Jabloko in Kamtschatka den Sänger „Shaman“ mit einem Faschisten aus der Hitlerjugend. Am 6. Juni wurde Jefimov wegen „Zurschaustellung von Nazi-Utensilien“ festgenommen.

Der Ex-Abgeordnete Sergej Trusch aus Blagoveschtschensk veröffentlichte ein Video mit einem Vergleich des Sängers „Shaman“ mit einem Nazi-Jungen. Trusch erhielt eine Geldstrafe von 1500 Rubel (0,1 monatlicher Mindestlohn) wegen „Zurschaustellung von Nazi-Symbolik“.


Kriegsdienstverweigerung

Im Gebiet Tula wurde einem Mann, der sich nach seiner Mobilisierung unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, in Anwesenheit von 400 Soldaten ein Schauprozess gemacht. Nach der Verkündigung des Urteils (5 Jahre Lagerhaft) „führte“ der vorsitzende Richter „ein Gespräch“ mit den übrigen Soldaten über die strafrechtliche Verantwortung für „Verstöße gegen die Dienstordnung“.


Im Gebiet Brjansk floh ein Wehrpflichtiger mit einem Maschinengewehr von seiner Einheit. Er wurde festgenommen.


Kultur und Kunst

Im Mai brachte Jelisaveta Stischova einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Rette und bewahre dich“ heraus, über Russen, die versuchen, während des Krieges in den Zivildienst zu gelangen.


In Irkutsk wurde zum Tag der Stadt ein „Baum des Lebens“ aufgestellt, an den man Botschaften auf hellblauen, dunkelblauen und weißen Bändern hinterlassen und an den Baum binden konnte. Diese wurden mit Antikriegslosungen beschrieben.

Aufschriften: „Frieden für die Ukraine, Freiheit für Russland“, „Freiheit für politische Gefangene“, „Einen friedlichen Himmel“.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


5. August 2023

 

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