Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 21.5.2023 – 29.05.2023


Aktionen und Auftritte gegen den Krieg

In Saratov hielt der Aktivist Andrej Kalaschnikov am Tag des Gedenkens an die Deportation der Krimtataren eine Einzelkundgebung ab. Er sprach sich für die Beendigung
des Krieges in der Ukraine aus, erinnerte an die Deportationen der Völker des Kaukasus und forderte die Freilassung politischer Gefangener.

In Astrachan sind Anti-Kriegsflugblätter aufgetaucht mit dem Aufruf, sich in den Farben der ukrainischen Flagge zu kleiden.

Die Aufschriften auf den Flugblättern lauten: „Du bist nicht allein!“, „Trage gelb-blaue Kleidung!“, „Das grüne Band – Einheitssymbol des Protests“, „Nein zum Verbot von Farben!“

Die Schule Nr. 12 mit vertieftem Deutschunterricht in Perm weigerte sich, die „Gespräche über Wichtiges“ mit Teilnahme von Kämpfern, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind, sowie weitere patriotische Veranstaltungen durchzuführen. Gegen die Leitung der Schule wurde Anzeige von einer älteren Lehrerin erstattet. Zuvor hatten Mitarbeiter des FSB die Schule besucht.

Wegen Verstoßes gegen das Gesetz zum Gebrauch der Staatssprache wird eine Person des öffentlichen Lebens aus Perm eine Klage gegen das Verteidigungsministerium einreichen, weil am Haus der Offiziere Banner mit der Aufschrift „Za pobedu! Za pravdu!“ hängen. [„Für den Sieg! Für die Wahrheit!“] geschrieben mit dem Z-Symbol anstelle des korrekten Buchstabens S]. Sie bezieht sich auf ein Gesetz, das im Februar von der Staatsduma verabschiedet worden war mit dem Ziel, „die russische Sprache vor dem übermäßigen Gebrauch von Entlehnungen zu schützen.“


In Moskau wurden Dmitrij und Julija Golovlev, beide Staatsbürger von Belarus, festgenommen, weil sie in dem Moskauer Bezirk Tschertanovo Severnoe blau-weiße Luftballons und Fahnen in die Luft steigen ließen. Dmitrij Golovlev wurde auf die Polizeistation „Vostotschnoe Birjulevo“ gebracht und wegen Rowdytums angeklagt.

Zwei Hotels in Krasnaja Poljana weigerten sich, Dekoration zum Tag des Sieges aufzuhängen und informierten die Gäste über ihre „Neutralität“. Sie wurden von der Generalstaatsanwaltschaft sowie vom Gouverneur, dem Abgeordneten Aleksandr Chinsteijn, angezeigt. Danach verfügte der Bürgermeister von Sotschi, Aleksej Kopajgorodskij, die Schaffung einer Gruppe, die alle öffentlichen Räume daraufhin überprüfen sollte, ob diese nach den Vorgaben der Behörden gestaltet wurden.

 

Straßenprotest

Fotos aus verschiedenen Regionen im Telegramkanal von Roman Super. Aufschriften: „Krieg ist das Böse“ [geschrieben mit Z-Symbol anstelle des korrekten Buchstabens S], „Genug mit Krieg“, [in etwa] „Fick den Krieg“,“Pinja [abfällig für Putin] aufs Schafott“, „Frieden wird vermisst! Er ist schön, gutherzig, fröhlich, liebt alle Menschen und benimmt sich nicht ungehörig. Er spielt nur auf seinem Territorium und dringt nicht auf fremdes ein. Frieden schenkte uns Ruhe und Hoffnung. Helft uns, Frieden wiederzufinden!“ [in etwa] „Das Böse des Krieges soll gefickt sein!“, „Putin nach Den Haag!“


Projekt Kidmapping

In Russland haben Anti-Kriegsaktivisten mit Unterstützung der „Novaja Gazeta Europa“ und dem unabhängigen Informations- und Medienprojekt „Teplizy Sozialnych Technologij“ das Projekt „Kidmapping“ ins Leben gerufen, um Informationen über den Aufenthaltsort deportierter Kinder auf dem Territorium Russlands, Belarus' und in den besetzten Gebieten der Ukraine zu finden. Gemeinsam mit DOXA hat Kidmapping eine Untersuchung darüber veröffentlicht, was in Russland mit Kindern aus der Ukraine geschieht und wer an ihrer Verschleppung beteiligt ist.

Sabotage

Im Gebiet Orenburg ist ein junger Mann festgenommen worden, der nach Angaben der Ermittler Brandanschläge auf ein Einberufungsamt sowie auf einen Relaisschrank an einer Eisenbahnstrecke vorbereitet hat. Beim FSB ist man davon überzeugt, dass er unter der Leitung ukrainischer Spezialkräfte handelte. Die Sicherheitskräfte eröffneten ein Strafverfahren wegen Vorbereitung eines terroristischen Anschlags.

Geldstrafen, Ordnungs- und Strafverfahren

Ein Gericht im Gebiet Vladimir hat den Aktivisten Ivan Kavinov wegen Posts bei Telegram über den Krieg in der Ukraine wegen „Falschmeldungen“ zu drei Jahren Haft in einer Strafkolonie strengen Regimes verurteilt. Der Grund für Kavinovs Strafverfolgung waren sieben Reposts in einem Telegram-Chatraum. Er leitete dort Nachrichten über Folter und Gewalt gegen friedliche Ukrainer weiter. Memorial hat Ivan Kavinov als politischen Gefangenen anerkannt.

Die Staatsanwaltschaft hat 8 Jahre Haft für Igor Baryschnikov, einen älteren, krebskranken Einwohner von Kaliningrad, gefordert. Im Mai 2022 hatte er auf Facebook Beiträge über Butscha und Mariupol veröffentlicht. Ärzte waren zu dem Schluss gekommen, dass Baryschnikov haftunfähig istund dringend eine Operation in St. Petersburg benötigt. Jedoch gestattet man ihm nicht, die Region zu verlassen.

Valerij Nikitschenko, 73-jähriger Rentner aus St. Petersburg, wurde wegen seiner Website valenik.ru angeklagt, die „Armee zu diskreditieren.“ Die Sicherheitskräfte interessierten sich für Ankündigungen und Fotos von Protesten sowie für einige „Karikaturen zur Unterstützung der Ukraine“, berichtet OVD-Info. Außerdem wurde Nikitschenko die gesamte Ausrüstung als „Beweismittel“ abgenommen.

 

Eine 62-jährige Einwohnerin des Gebiets Orenburg rief in einem offenen Chat bei Viber dazu auf, keine Einberufungsbescheide anzunehmen und nicht zum militärischen Rekrutierungszentrum zu gehen und erhielt dafür eine Geldstrafe von 15.000 Rubel (etwa 1 monatlicher Mindestlohn). Die Untersuchung sah darin eine „Diskreditierung der russischen Armee.“

Ivan Lossev aus Tschita wurde erneut wegen „des Traums über Selenskyj“ mit einer Geldstrafe belegt Dieses Mal hatte er einen Screenshot der Sendung von Telekanal Dozhd veröffentlicht, in der er über die vorherigen Geldstrafen berichtete. Die Videosequenz war mit dem Titel „Rettet die Ukraine“ versehen. Zuvor hatte Lossev Geldstrafen erhalten wegen Posts mit der Beschreibung des Traums vom ukrainischen Präsidenten und wegen Kommentaren beim Sender Dozhd sowie beim russischen BBC.

Der ehemalige Landwirtschaftsminister des Gebietes Archangelsk, Vladimir Litschnyj, wurde wegen eines Fotos mit durchgestrichenem Putin zu einer Geldstrafe verurteilt. Im April hatte Litschnyj ein Foto Putins aus einem Journal ausgeschnitten, ihn durchgestrichen und das Wort „Mörder“ darauf geschrieben. Das Foto hatte er an eine Informationstafel im Eingangsbereich eines Wohnhauses gehängt. Der „Übeltäter“ wurde mit Hilfe einer Überwachungskamera gefunden, das Gericht befand ihn für schuldig, „die Armee diskreditiert zu haben.“


Aleksej Semjonov, Ökoaktivist aus Komi, wird der Prozess gemacht, weil er vor einem dörflichen Kulturhaus einen Müllsack abgelegt hat mit der gelb-blauen Aufschrift ZOO – Performance „Izhma probt ein Treffen mit Grus 200.“ [das Z-Symbol ersetzt auf dem Müllsack die Zahl 2, Izhma ist ein Dorf in Komi, Grus 200 bezeichnet gefallene Soldaten]. Auf diese Weise rief Semjonov dazu auf, die Mobilisierung zu sabotieren.


Das Gericht hat das Urteil gegen den Moskauer Aleksej Netschuschkin, der sein Auto zum Zeichen des Protests gegen den Krieg angezündet hatte, bestätigt: Vier Jahre Lagerhaft im allgemeinen Regime. Er wurde des Rowdytums in Zusammenhang mit Widerstand gegen einen Vertreter der Staatsgewalt für schuldig befunden.

Gegen Kamelija Slisch aus Irkutsk wurde das Urteil wegen „Falschmeldungen“ über den Krieg verkündet: Eineinhalb Jahre auf Bewährung. Das Verfahren war wegen Posts und Reposts bei Telegram eingeleitet worden.

Marsel Kandarov, Vertragssoldat aus Baschkortostan, der sich geweigert hatte am Krieg mit der Ukraine teilzunehmen, wurde zu drei Jahren Haft in einer Ansiedelungskolonie verurteilt. Man hatte ihn in die Ukraine geschickt, wo er einen Monat verbrachte. Nachdem er nach Russland zurückgekehrt war, reichte er ein Entlassungsschreiben ein und verließ den Stützpunkt.

In Kostroma wurde gegen die Einwohnerin Natalja Tarassova ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Armee“ erstellt: Sie hatte bei VKontakte den Text „Öffne die Augen#Nein zum Krieg“ veröffentlicht sowie einen Link zu dem Video: „In den Sarg für einen Lada Granta [Automarke]. Armut – Die Waffe Putins. Warum ziehen Russen in den Krieg?“

In den südlichen Regionen gehen die Repressionen unter Anwendung des Paragraphen zur „Diskreditierung der Armee“ weiter. „Kavkaz.Realii“ bietet eine Auswahl neuer Fälle, von denen wir weiter unten berichten.

In Dagestan erhielt Magomed Saidbegov eine Geldstrafe wegen Kommentaren gegen den Krieg, Schamil Dzhabrailov wegen eines Videos, das er in dem Youtube-Kanal „Studenti Schama“ [Scham: Bezeichnung für Länder des östlichen Mittelmeers] hochgeladen hat mit der Überschrift „Soll man sich über Siege der Ukraine freuen?“

Ein Bezirksgericht hat Vladislav Chamzin aus Astrachan wegen Anti-Kriegsposts in den Sozialen Netzwerken zu einer Geldstrafe verurteilt.

Berichtet wird auch, dass Protokolle gegen Kamil Karimov aus Astrachan sowie gegen Sergej Nesterkov und Jana Tanzura aus Adygeja erstellt wurden.

Zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubeln (ca. monatliche Mindestlöhne) und zu einer ambulanten Zwangsbehandlung in der Psychiatrie wurde eine Einwohnerin von Vladikavkas verurteilt. Man befand sie der „wiederholten Diskreditierung der Armee“ für schuldig. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um Teona Kelechsajeva.

800.000 Rubel [500 monatliche Mindestlöhne] Geldstrafe erhielt Igor Korotkov aus Adygeja wegen des Reposts einer Anti-Kriegssendung von Vladimir Milov in einem Chat von Kriegsbefürwortern.

Der in Tschuwaschien lebende Nikolaj Tschalbajev wurde von einem örtlichen Gericht wegen „Diskreditierung der Armee“ zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (etwa 2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt, weil er auf VKontakte das Foto eines russischen Panzers mit den Worten kommentiert hatte: "Wie viele ukrainische Kinder hat er getötet?“

Ein Gericht in Zlatoust im Gebiet Tscheljabinsk hat die ehemalige kommunale Abgeordnete Natalja Gusseva zu 30.000 Rubeln [ca. zwei monatliche Mindestlöhne] Geldstrafe wegen „Diskreditierung der Armee der russischen Föderation“ verurteilt, weil sie bei „Odnoklassniki“ [Klassenkameraden] zwei Beiträge gegen den Krieg gepostet hatte.

Ein Einwohner der Stadt Norilsk ist wegen Posts bei Facebook für sieben Tage inhaftiert worden. Sergej Kurilenko wurde der „Aufstachelung zu Hass oder zu Feindseligkeiten“ für schuldig befunden wegen der Veröffentlichung von „abfälligen Äußerungen“ gegen Soldaten, ihre Mütter und russische Bürger. Der Mann sagte, er habe die Beiträge als Zeichen der Unterstützung für seine ukrainischen Verwandten veröffentlicht.

Ein Bewohner Kostromas ist zu 30.000 Rubeln Geldstrafe (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt worden, weil er das Anti-Kriegsvideos des Liedes „Hymne der Verdammten“ der Gruppe „Nogu Svelo“ veröffentlicht hatte.

Die Autoren des Youtube-Kanals „Anastasija und Arsenij Otschije“, die sich gegen den Krieg aussprechen, wurden wegen des Videos „VAZHNO [Wichtig].Wie wird man hundertprozentig nicht mobilisiert?“ zu einer Geldstrafe nach dem Paragraphen zur „Diskreditierung der Armee" verurteilt. In dem Video ruft Anastasija dazu auf, nicht in den Krieg zu ziehen und sich nicht dem Befehl zu beugen, Menschen zu töten.

Jegor Savtschenko und Michail Zhidkov aus Kertsch wurden wegen pro-ukrainischer Graffitis für 15 Tage inhaftiert. Ein regierungsfreundlicher Blogger hatte ein Video ihrer Verhaftung durch fünf maskierte und bewaffnete Spezialkräfte veröffentlicht.

Artur Markov, Blogger aus Krasnojarsk, wurde zu 30.000 Rubeln (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) Geldstrafe nach dem Paragraphen zur „Diskreditierung der russischen Armee“ verurteilt und gezwungen, sich vor laufender Kamera zu entschuldigen. Der junge Mann war Anfang April festgenommen worden: Während eines Streams hatte er sich gegen den Krieg ausgesprochen und angekündigt, als Reaktion auf prorussische Kommentare ukrainische Musik einzuschalten.

Sieben Monate Besserungsarbeit unter Einbehaltung eines Teils des Gehaltes zugunsten des Staates forderte der Staatsanwalt im Falle von Diana Nefedova aus Tscheljabinsk, die beschuldigt wird, im April 2022 fünf Beiträge über den Krieg in der Ukraine repostet zu haben.

Überprüfungen, Verbote, Annulierungen

Weil sie im Flugzeug ein Buch auf Ukrainisch gelesen hatte, wurde eine Passagierin festgenommen. Die junge Frau flog von Moskau nach Vladikavkas. Die junge Frau war aufmerksamen Fluggästen verdächtig vorgekommen, und bei der Landung nahmen Sicherheitskräfte die Passagierin an der Gangway in Empfang. Man fand bei ihr Abzeichen und Sticker mit der ukrainischen Flagge.

Der Bürgermeister von Krasnodar verfügte die Überprüfung aller Karaoke-Bars in der Stadt, nachdem in einer davon, „Lja-Mazhor“, das Lied mit dem Text „Die Ukraine ist nicht tot“ gesungen worden war. Der Bürgermeister Jevgenij Naumov gab die Anweisung „die Möglichkeit ähnlicher Vorfälle auszuschließen.“ Die Polizei hat Ermittlungen eingeleitet.

Der Dichter Aleksandr Byvschev aus Orjol wurde in das „Register der Extremisten“ eingetragen. Zuvor hatte man ihn wegen Veröffentlichungen von Anti-Kriegsposts und Gedichten in den Sozialen Netzwerken des Aufrufs zum Terrorismus beschuldigt. Byvschev hatte 2014 begonnen, Texte zur Unterstützung der Ukraine zu schreiben, seither wurden gegen ihn vier Strafverfahren eingeleitet.

Roskomnadzor hat DeepStateMap, eine auf offenen Quellen basierende, interaktive Online-Informationskarte der kriegerischen Handlungen in der Ukraine blockiert.

In Archangelsk wurde das Konzert der Gruppe „Splin“ abgesagt, das zuvor bereits dreimal verschoben worden war. Im April hatte man „Splin“ nach Beschwerden der patriotischen Organisation „Union der Väter“ von den Plakaten des Rockfestivals „Veter Sibirii“ entfernt.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


17. Juli 2023

 

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