Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 11.6.–17.6.2023


Demonstrationen und Auftritte

Aktivisten aus der Stadt Ivanovo (Zentralrussland) haben am 12. Juni, dem Tag Russlands, eine Figur mit der Aufschrift „Kriegsverbrecher“ an einer Kreuzung aufgehängt. Die Pappfigur wurde an der Straße an ein Gerüst für Blumen gebunden. Zuvor war an Ostern in derselben Stadt ein Baum neben dem Regionalregierungsgebäude mit blauen und gelben Bändern und Ostereiern geschmückt worden.

In Moskau ist am Tag Russlands eine neue Arbeit des Künstlers Philippenzo aufgetaucht mit der Aufschrift „Izrossilovanije“ und dem Wappen Russlands [der Künstler hat im Wort „Iznasilovanije“ - Vergewaltigung - die Wortwurzel 'nas' durch 'ross' aus „Rossija“ – Russland – ersetzt]. In den sozialen Netzwerken schrieb der Künstler „Das, was dieses Land heute vollbringt, kann man nicht mit anderen Worten bezeichnen.“

Kommunale Abgeordnete aus St. Petersburg und Moskau haben eine Petition verfasst mit dem Aufruf, die Truppen unverzüglich aus der Ukraine abzuziehen. Sie fordern, in dem von der Explosion des Wasserkraftwerks Kachovska betroffenen Gebiet die Möglichkeit einer humanitären UNO-Mission zu organisieren, die Einstellung der Kriegshandlungen und die Rückkehr der russischen Armee in die allgemein anerkannten russischen Grenzen. Die Petition haben bekannte Aktivisten aus verschiedenen Regionen unterschrieben, die Sammlung der Unterschriften dauert an.

Die Petersburger Künstlerin Jelena Ossipova hat auf dem Nevskij Prospekt eine weitere Einzelkundgebung mit folgendem Plakat abgehalten: „Russland benötigt eine Rehabilitation nach schwerer Erkrankung.“ Zwei Wochen zuvor war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo sie mit einem Schlaganfall nach zahlreichen Demonstrationen und Verhaftungen behandelt wurde. Ein Teil ihrer Plakat-Gemälde befindet sich nach wie vor zur Überprüfung beim Ermittlungskomitee.

 


Am 12. Juni vereinten sich alle großen unabhängigen Medien, um einen Solidaritätsmarathon zur Unterstützung russischer Politischer Gefangener durchzuführen. Die Bewegung „Feministischer Anti-Kriegswiderstand“ schloss sich dem Marathon mit der Aktion „Du bist nicht allein“ an und unterstützte Frauen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind oder wegen ihrer Anti-Kriegshaltung verfolgt werden. Im Internet wurden virtuelle Wandgemälde mit den Portraits der verfolgten Frauen auf Gerichts- und Verwaltungsgebäuden gepostet. Die Portraits waren von russischen und belarusischen Künstlerinnen für eine Ausstellung in Paris vorbereitet worden.
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Russische Offiziere haben die Untergrundorganisation „Orden der Republik“ gegründet, sie sprechen sich gegen das Putin-Regime und gegen den Krieg in der Ukraine aus und helfen anderen Soldaten, nicht in den Krieg geschickt zu werden. Die Mitglieder des „Ordens“ nennen sich selbst „Geheimdienst im Exil“ und betonen, dass sie weder mit den ukrainischen Streitkräften, dem RDK [Russisches Freiwilligenkorps] noch mit der Legion „Freiheit für Russland“ in Verbindung stehen. „Der Krieg in der Ukraine muss unverzüglich gestoppt werden, die Ukrainer sind ein Brudervolk, man darf nicht gegen Angehörige kämpfen“, erklären die Führer des Ordens in einem Interview.

Unterdrückung

Der Aktivist Anatolij Beresikov, der nach Kriegsbeginn in Rostov am Don Anti-Kriegsflugblätter des ukrainischen Projekts „Ich will leben“ verteilte, ist nach einer Reihe administrativer Verhaftungen in der Haftanstalt gestorben. Anatolij hatte über Folter und Drohungen geklagt und die Befürchtung geäußert, dass man ihn in der Haftanstalt töten könnte. Die Ermittler behaupten, dass Beresikov sich umgebracht habe, aber Menschenrechtsaktivisten sind sich sicher, dass er durch Folter zu Tode kam und teilten mit, dass seine persönlichen Sachen sowie sein Geld verschwunden sind.

Der Moskauer Vitalij Kolzov ist zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt worden, weil er vor einem Jahr zwei Flaschen mit Benzin auf einen Gefangenentransporter geworfen hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte für den mehrfachen Vater 19,5 Jahre Haft in strengem Regime gefordert. Zuvor hatten die Geschworenen sich geweigert, Kolzov wegen „Angriff auf das Leben Strafverfolgungsbeamter“ für schuldig zu befinden und Angehörige der Nationalgarde erklärten, dass der Schaden am Gefangenentransporter ersetzt worden sei. Kolzov befindet sich seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft.


Die Transfrau Elis Femina wurde wegen der Worte „Ruhm der Ukraine“ festgenommen. Sie rief sie aus während eines Streits mit Wachleuten in einem Klub. Auf der Polizeiwache wurde die Frau verhöhnt, gezwungen sich auszuziehen, mit einem Verhör beim FSB und damit bedroht, an die Front geschickt zu werden. Sie wurde für 15 Tage verhaftet, ihre Passdaten im Internet veröffentlicht, außerdem kündigte man ihr auf der Arbeit.

Ein Bewohner Tambovs (Zentralrussland) hat sich geweigert, einen Bekannten anzuzeigen, der der Legion „Freiheit für Russland“ beitreten wollte. Er wurde zu 30.000 Rubel (ca. zwei monatliche Mindestlöhne) Geldstrafe verurteilt, weil er die Vorbereitung einer Straftat nicht angezeigt hatte. Der Bekannte selbst wurde im vergangenen Jahr festgenommen und zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt.

Zwei Männer, die für den ukrainischen Geheimdienst gearbeitet haben sollen, wurden wegen Hochverrats festgenommen, sie sollen eine technische Dokumentation von Beispielen militärischer Produkte weitergegeben haben. Sie werden verdächtigt, Explosionen auf der Eisenbahnstrecke in den Gebieten Kursk und Belgorod vorbereitet zu haben. Bei den Festgenommenen wurden angeblich eine Bombe, Dokumente und 150.000 Dollar beschlagnahmt.

Wegen der Forderung, den Krieg in der Ukraine zu beenden und die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai abzusagen, wurde ein Aktivist zu 15.000 Rubeln (ein monatlicher Mindestlohn) Geldstrafe verurteilt. Der Mann hatte sich in Kirov mit einem Plakat und blau-gelben Flugblättern auf den Platz vor das Theater gestellt.

In Moskau und Kaliningrad haben Sicherheitskräfte bei Politikern im Rahmen des Verfahrens gegen Ilja Ponomarev Hausdurchsuchungen durchgeführt. Ponomarev wird beschuldigt, Falschmeldungen über den Krieg verbreitet zu haben, er wurde in Abwesenheit verhaftet. Zu den Durchsuchungen kam es bereits im Dezember, nun hat das Gericht nach Angaben von „Avotsak LIVE“ 16 Durchsuchungsanträge in diesem Verfahren registriert.

Natalja Kuklina aus Petrosavodsk (nordwestliches Russland) wird wegen „Diskreditierung der Armee“ in einem Strafprozess angeklagt, der Grund dafür ist nicht bekannt. Bereits früher waren gegen Kuklina mindestens sieben Protokolle wegen des analogen Verwaltungsstrafparagraphen aufgenommen worden. Der Grund dafür waren im Einzelnen Anti-Kriegsflugblätter, Sticker und ein Post im Sozialen Netzwerk VKontakte.

Das Justizministerium hat mit der Überprüfung der Sozial-, Kultur- und Bildungseinrichtung „Jelzin-Zentrum“ im Hinblick auf eine Tätigkeit als „Ausländischer Agent“ begonnen, berichtet „RIA Novosti“. Am 25. Februar 2022 hatte sich die Leitung des Jelzin-Zentrums gegen den Krieg in der Ukraine gestellt. Zuvor hatten verschiedene Pro-Regierungsaktivisten die Schließung der Institution gefordert.
Der Autor des Films „Die gewöhnliche Entnazifizierung“ (Anspielung auf den bekannten Film von Michail Romm „Der gewöhnliche Faschismus“) Aleksandr Schtefanov wurde von Sicherheitskräften im Gebiet Belgorod festgenommen. Schtefanov hatte seinen Film in Mariupol zum Jahrestag des Krieges mit der Ukraine gedreht. Nach Erscheinen des Films riefen Pro-Regierungsaktivisten dazu auf, den Blogger bei den Sicherheitsbehörden anzuzeigen.

Wegen seiner Weigerung im Krieg zu kämpfen verurteilte ein Gericht in St. Petersburg einen Mobilisierten zu sieben Jahren Lagerhaft. Er war vom Stützpunkt in der sogenannten Luhansker Volksrepublik weggelaufen, hatte sein Maschinengewehr mitgenommen und hatte sich in eine andere Stadt begeben. Dort ließ er sich in einem verlassenen Haus nieder, legte Zivilkleidung an, verbrannte seinen Militärausweis und vergrub sein Maschinengewehr. Nach einer Woche jedoch stellte er sich den Behörden.

Mindestens sieben Studenten der Staatlichen Universität St. Petersburg wurden von der Universität verwiesen. Sie hatten unter dem Dozenten Michail Belousov studiert, der Anfang Juni von der Universität entlassen worden war, weil er den Krieg kritisiert hatte. Die Studenten wurden vom Pro-Rektor für Jugendpolitik angezeigt: Ihm hatte der Ton nicht gefallen, in dem sie die Nachrichten über den Tod eines Kommilitonen im Krieg in der Ukraine in den sozialen Netzwerken diskutierten.

Der aus Jakutien (Sibirien) stammende Baryschev wurde wegen kriegsfeindlicher Äußerungen im Forum „Chat-Roulette“zu anderthalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Bereits im vergangenen Jahr war er aufgrund eines ähnlichen Paragraphen zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

Sabotage

In der Nacht zum 11. Juni entgleisten im Gebiet Belgorod (Südrussland) 15 Waggons. Aufgrund des Unfalls wurde der Verkehr von Vorortzügen eingestellt.

In St. Petersburg wurde in der Nähe des Bahnhofs Piskarevka ein Relaisschrank der Eisenbahn in Brand gesetzt. In St. Petersburg, wie auch in vielen anderen russischen Städten, sind Brandanschläge auf Bahnanlagen an der Tagesordnung. Im Mai wurde ein Kadett des Militärinstituts für Körperkultur bei einem Brandanschlag festgenommen.

Online-Protest

Hacker haben die Website einer für Z-Propaganda bekannten Schule gehackt und dort die Aufschriften „Ruhm der Ukraine!“ und „Ruhm den Helden“ gepostet. Die Schule in der Region Stavropol (Südrussland) war zuvor dafür bekannt geworden, dass ihre Leitung im Rahmen des Flashmobs „Za naschi!“ [Für die Unsrigen] Kinder in Form des Buchstabens Z aufstellte und sie bunte Papierstücke über ihren Köpfen halten ließ, um die russische Trikolore darzustellen.

Kunst und Kultur

Ein Konzert der Gruppe Animal Jazz wurde in Vladivostok abgesagt, nachdem eine regierungsnahe Bewegung ein Verbot der Band gefordert hatte. Die Aktivisten der Bewegung bezogen sich auf kritische Äußerungen des Bandleaders Aleksandr Krassozkij über die Annexion der Krim und die Ereignisse im Donbas. Höchstwahrscheinlich werden Konzerte der Band im ganzen Land eingeschränkt werden. Die regierungsnahe Bewegung „Ruf des Volkes“ fordert, dass die Musiker auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt werden.

In Novosibirsk ist eine Aufführung mit den Schauspielern Aleksej Serebrjakov und Ksenija Rappoport abgesagt worden, die zuvor ihre Anti-Kriegshaltung zum Ausdruck gebracht hatten. Gleichzeitig wurde über die Absage der Aufführung nicht informiert, sie verschwand einfach von der Webseite des Theaters. Das Stück „Ejnstejn und Margarita“ war zuvor bereits in St. Petersburg und Jekaterinburg abgesagt worden. Kreml-Propagandisten hatten sich gegen das Stück ausgesprochen.

Künstler der Gruppe „JAV“, die auf den Straßen St. Petersburgs auffällige Anti-Kriegs-Street-Art-Werke geschaffen haben, wurden zusammen mit ihren Kindern festgenommen. Der Grund dafür ist eine ihrer Arbeiten namens „Raschka“, die am 12. Juni in St. Petersburg auftauchte und am selben Tag noch übermalt wurde.

Sergej Tschernyschov, Gründer einer der besten Lehranstalten in Novosibirsk namens „Novokolledzh“, trat von seinem Posten zurück, nachdem man ihn zum „Ausländischen Agenten“ erklärt hatte. Er schrieb, dass er alle Verwaltungstätigkeiten sowohl im „Novokolledzh“ als auch in der „Novoschkola“ niederlegt, um die Organisation und ihre Mitarbeiter zu schützen. Das Justizministerium hatte Sergej Tschernyschov am 26. Mai zum „Ausländischen Agenten“ erklärt. Anfang Mai waren drei Verwaltungsverfahren gegen „Novokolledzh“ eingeleitet worden, nachdem sich die Einrichtung geweigert hatte, den Propagandaunterricht „Gespräche über Wichtiges“ abzuhalten.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


6. August 2023 

 

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