Auf der heutigen Vorstandssitzung von MEMORIAL International wurde Jan Raczynski einstimmig (mit eigener Enthaltung) zum Vorsitzenden gewählt. Er ist der Nachfolger von Arsenij Roginskij, der am 18. Dezember 2017 verstorben war.

 

Jan Raczynskij

 

Jan Raczynski, ursprünglich Mathematiker und Programmierer, war seit Anbeginn Mitglied von MEMORIAL. Er gehört dem Menschenrechtszentrum MEMORIAL an und hat bis in die jüngste Zeit an Menschenrechts-Missionen in Konfliktgebiete teilgenommen. Vor allem aber betreut er die große Datenbank der Opfer des politischen Terrors, deren letzte aktualisierte und neu gestaltete Version Ende letzten Jahres im Internet erschienen ist (die älteren Versionen sind auch als CDs verfügbar).

2016 erschien unter Raczynskis Ägide ein umfangreiches Nachschlagewerk mit Kurzbiographien führender NKWD-Funktionäre der Jahre 1935-1939 (die zur Zeit der Großen Säuberung verantwortliche Posten innehatten).

Jan Raczynski wurde für die verbleibende Amtszeit des derzeitigen Vorstands zum Vorsitzenden gewählt. Ende des Jahres wird auf der Mitgliederversammlung aller MEMORIAL-Verbände (die alle vier Jahre stattfindet) der Vorstand – und damit auch der Vorsitzende – neu bestimmt.

 

22. März 2018

Die Juristen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Interessen der NGOs vertreten, die in Russland zu „Ausländischen Agenten“ erklärt wurden, haben im Namen der insgesamt 61 NGOs ein gemeinsames Dokument als Reaktion auf die Position der russischen Behörden vorbereitet. Unter ihnen ist Kirill Koroteev, Jurist beim Menschenrechtszentrum Memorial. Im Interview erklärt Koroteev das Hauptziel der Klage in Straßburg, was in den letzten fünf Jahren mit den antragstellenden Organisationen passiert ist und warum der Begriff „Ausländischer Agent“ so verwerflich ist.

 

Wir veröffentlichen das Interview gekürzt.

 

Was war das Hauptziel der Klage beim EGMR? Eine Entschädigung? Gezahlte Strafen zurückzuerhalten oder die Anerkennung eines Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention?

Die Kompetenzen des EGMR liegen in erster Linie in der Feststellung einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und das ist es, was wir vor allem vom Gerichtshof wollen. Der Gerichtshof kann das russische Gesetz weder abschaffen noch verändern, er kann nur feststellen, an welcher Stelle das Gesetz problematisch ist. Wir behaupten, dass bereits die Existenz eines Gesetzes, das professionelle NGOs als Feinde und Spione bezeichnet, die Menschenrechtskonvention verletzt. Wir setzen darauf, dass der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention in diesem Punkt feststellt und die Behörden in Ausführung dieser Entscheidung das Gesetz aufheben. Verbessern kann man es nicht.

Laut Gesetz gelten als „Ausländische Agenten“ die Organisationen, die eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten und sich politisch betätigen. Warum erschreckt dieser Status die NGOs so?

Diejenigen, die in dem Thema drin sind, haben sich schon lange daran gewöhnt – ihre Haut ist dicker geworden, die Empfindlichkeit geringer. Die aber, die das nicht sind, können vielleicht noch mit größerer Unbefangenheit erkennen, dass „Ausländischer Agent“ ein Terminus aus dem Vokabular unserer Vergangenheit, der 30er Jahre, ist. In vielen Wörterbüchern des Russischen ist die erste Bedeutung dieses Wortes Spion. Der besondere Jesuitismus, der in dem Gesetz steckt, besteht darin, dass er von den Organisationen verlangt, dass sie sich selbst als „Ausländische Agenten“ bezeichnen, was in der Übersetzung aus der Bürokratensprache folgendes heißt: Die Organisationen müssen erklären, dass sie Feinde und Spione sind. Hinzu kommt auch die Hervorhebung des völlig irrsinnig definierten Begriffs „politische Tätigkeit.“ Nach dem Gesetz von 2012 bedeutet dies nicht die Teilnahme an Wahlen oder die Unterstützung von Kandidaten, nein, jeder beliebige Text auf einer Website kann „politische Tätigkeit“ sein! Wenn die russischen Behörden behaupten, dass damit die ausländische Finanzierung politischer Tätigkeit kontrolliert wird, dann ist das natürlich auch nicht wahr. Einschränkungen bis hin zur Liquidierung, wie sie viele Organisationen hinnehmen mussten, sind gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention unzulässig, solange es nicht um Aufrufe zur Gewalt geht. Im Großen und Ganzen überprüft der EGMR vor allem die Motive, die die Behörden für die Einführung der Beschränkungen haben.

Noch vor kurzem gab es ziemlich oft Nachrichten zum Eintrag von Organisationen in das Register „Ausländischer Agent“. Zurzeit herrscht praktisch Stille. Womit hängt das zusammen?

Erstens ist das Register gut gefüllt. Und zweitens haben sich die Aufgaben der Behörden offenbar geändert. Alle zu vernichten, die im Register stehen, macht keinen großen Sinn, weil man über die durchgeführten Prüfungen Rechenschaft ablegen und entsprechend das Personal halten muss, das Dokumente bewertet. Die Intensität ist zweifellos geringer geworden. Ich glaube, dass die Klage 2017 dazu beigetragen hat, die Intensität zu senken; das heißt, das Justizministerium hat erkannt, dass weitere Maßnahmen eine Stärkung der Position des Antragstellers bedeuten.

Im derzeitigen Stadium informieren Sie den EGMR, welche Veränderungen es bei den Organisationen gegeben hat. Seit dem Moment der ersten Klage sind fünf Jahre vergangen. Wie hat sich das Schicksal der NGOs seither verändert?

Das ist völlig unterschiedlich. Die einzige, die nicht in das Register aufgenommen wurde, ist die Moskauer Helsinki Gruppe, aber nur weil sie auf ausländische Finanzmittel verzichtet hat. Golos zum Beispiel hat der Verzicht auf ausländische Finanzierung nicht vor dem Eintrag ins Register bewahrt. Viele Organisationen, die registriert wurden, wurden aufgelöst – das sind keine Einzelfälle. Die ersten, die einem einfallen, sind das Anti-Diskriminierungszentrum Memorial in St. Petersburg und die LGBT-Organisation Vychod. Außerdem das Komitee gegen Folter, aber die Leute arbeiten trotzdem weiter. Das scheint mir das Wichtigste und nicht so sehr, in welcher Form die Organisationen im Verzeichnis der juristischen Personen stehen.

Die Juristen ersuchen den EGMR um eine Kompensation der Geldstrafen, die über die NGOs verhängt wurden. Von welchen Summen sprechen wir hier?

Das ist bei jeder Organisation anders. Die Geldbußen sind natürlich spürbar. Es gab Organisationen, denen es gelang, sich gegen die Geldstrafen zu wehren. Das Gesetz hat vor allem die kleineren Organisationen getroffen: Angenommen, das Jahresbudget liegt bei 10.000 Euro, dann betragen die Kosten für die Einhaltung des Gesetzes ein Viertel des Budgets oder mehr. Die Einzigen, die die genaue Summe kennen können, sind das Justizministerium oder die Verwaltung der Föderalen Kasse.

Soweit ich weiß, bleibt Ihnen nicht viel Zeit, um auf die Position der russischen Behörden zu antworten, die keinerlei Gesetzesverstoß im Agentengesetz entdecken können. Höchstwahrscheinlich wird der EGMR 2019 seine Entscheidung verkünden und sich auf Ihre Seite stellen. Und dann? Die „NGO-Agenten“ werden ihre Kompensationen erhalten und das war’s? Alle gehen nach Hause?

Man darf die Macht deklarativer Entscheidungen internationaler Gerichte nicht unterschätzen. Allein die Tatsache einer solchen Entscheidung (und ich habe bezüglich einer schnellen und vollständigen Umsetzung der Entscheidung des EGMR durch die russischen Behörden keine Illusionen), die Bedeutung der Analyse und Schlussfolgerungen des EGMR sind allen schnellen Erwartungen überlegen. Eine solche Bestandsaufnahme durch das EGMR wird über viele Probleme des russischen Rechtssystems durchgeführt. Wahrscheinlich aber wird erst die zukünftige Generation die Früchte der Straßburger Analyse ernten können. Ich denke, wir müssen die Dinge perspektivisch betrachten. 1965, während des Prozesses gegen Sinjawski und Daniel schrieb Aleksandr Jessenin-Volpin seinen berühmten Apell: „Respektiert die sowjetische Verfassung.“ Aber im Ernst: 1965 gab es keine Möglichkeit, die Normen des Verfassungs- und Völkerrechts zu wahren. Trotzdem haben sich die Dinge in etwas mehr als 20 Jahren ganz wesentlich geändert. Mir scheint, dass die Veränderungen heute trotz allem noch schneller vor sich gehen, deswegen ist es unnötig, sich auf die Existenzform der NGOs als juristische Person zu konzentrieren. Das sind lebendige Menschen mit ihren Ideen und ihrer Arbeit. Die können sie in unterschiedlicher Form tun. Wie sagte Konstantin Arbenin: „Zaren geraten in Vergessenheit – Wir aber sind aber immer noch alle da.“

 

Erschienen am 9. März 2018

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

 

Am 13. März – fünf Tage vor den Präsidentenwahlen - hat das russische Justizministerium die Europäische Plattform für Demokratische Wahlen EPDE  ebenso wie ihre Partnerorganisation, das "International Election Studies Center" (IESC) in Litauen zu "unerwünschten Organisationen" erklärt. Die EPDE besteht aus 14 NGOs vorwiegend aus postsowjetischen Ländern sowie aus Skandinavien. Sie setzen sich für freie Wahlen in ganz Europa ein und organisieren die Beobachtung von Wahlen.

Am Tag zuvor hatte der russische Fernsehkanal Ren-TV einen Hetzbeitrag ausgestrahlt, der sich gegen finanzielle Unterstützung russischer Organisationen und Publikationen durch ausländische Stiftungen richtete und vor allem diese beiden Organisationen im Visier hatte.

Das 2016 gesetzlich eingeführte Register für „unerwünschte Organisationen“ verbietet den so eingestuften ausländischen NGOs und Stiftungen – bisher sind es dreizehn - jegliche Tätigkeit in Russland. Eine Kooperation russischer Organisationen mit ihnen ist strafbar. Die Verbände der russischen Wahlbeobachtungsorganisation Golos (die als eine der ersten zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden war) sind dadurch gezwungen, ihre Zusammenarbeit mit ihnen einzustellen.

 

13. März 2018

Ungeachtet des kürzlich vom Serbskij-Institut erstellten gerichtsmedizinischen Gutachtens, das die Vorwürfe gegen Dmitriev in vollem Umfang entkräftet hat, hat die Staatsanwältin Jelena Askerova gestern 9 Jahre Haft für ihn gefordert. Am 22. März wird Dmitrievs Anwalt Anufriev sein Plädoyer halten, Dmitrievs Schlusswort ist für den 27. März vorgesehen.

Das Urteil wird Ende März erwartet.

 

21. März 2018

Das Bezirksgericht Staropromyslovski in Grosnyj hat die Untersuchungshaft von Ojub Titiev, dem Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, um zwei Monate bis zum 9. Mai verlängert. Sein Anwalt Petr Zaikin hatte bei der Verhandlung stattdessen als Alternative eine persönliche Bürgschaft für Titiev beantragt.

Zur Verhandlung waren auch Svetlana Gannuschkina und Oleg Orlov (Menschenrechtszentrum Memorial) gekommen sowie Präsidentschaftskandidat Grigorij Javlinskij, der zugunsten Titievs auftrat und sich für ihn verbürgte. (Ebenfalls für Titiev verbürgt hat sich Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak, die allerdings bei der Verhandlung nicht anwesend war.) Weder Ermittler noch Staatsanwalt brachten erneute Beweise dafür, dass Ojub Titiev für den Fall einer persönlichen Bürgschaft anstelle der Untersuchungshaft sich den Ermittlungen entziehen oder Druck auf Ermittler, Zeugen usw. ausüben könnte.

Der Menschenrechtsaktivist war am Morgen des 9. Januar verhaftet worden. Am nächsten Tag verjagten Polizisten seine Angehörigen aus ihrem Haus. Sie suchten Titievs Sohn und seinen Bruder und drohten der Familie mit Unannehmlichkeiten. Am Abend desselben Tages wurde Titiev wegen angeblichen Drogenbesitzes angeklagt. Das Gericht verhängte zwei Monate Haft.

6. März 2018

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