Am 28. Januar wurde der Menschenrechtler Dinar Idrisov in Petersburg Opfer eines brutalen Angriffs. Idrisov schilderte OVD-Info den Vorgang im Einzelnen.

 

Um halb zwei kam ich auf den Platz der Proletarischen Diktatur, wo sich schon Menschen zum „Wählerstreik“ versammelt hatten. Ich war dabei, einen live-Stream bei facebook zu schalten. Ich drehte mich eine Zeitlang im Kreis und fing an, die Polizeiautos zu filmen. Als sich die Menge in Bewegung setzte, ging ich in ein Haus an der Kreuzung Tverskaja-/Odessa-Straße, um dort von oben zu filmen. Ich betrat den Hauseingang mit einer Frau, stieg in die oberen Stockwerke, um zu fragen, ob ich aus einer der Wohnungen filmen könnte. Niemand öffnete und ich ging wieder nach unten. Im Erdgeschoss sah ich drei Männer, die sich unterhielten. Vor mir verließ die Frau den Hauseingang und ging an den Männern vorbei.

Vielleicht hätte ich in diesem Moment schon aufmerksam werden müssen, aber ich wollte genauso an ihnen vorbeilaufen, aber in diesem Moment traten sie mir in die Beine. Ich fiel auf die Knie und bekam sofort einen Schlag auf die Schläfe. Sie stürzten sich auf mich und verprügelten mich. Sie nahmen mir meine Handys ab – ich hatte zwei, mit einem hatte ich gestreamt – und begannen demonstrativ, sie zu zertreten. Mit der Kamera, die ich an einem Mikrostativ an der Brust befestigt hatte, machten sie dasselbe. Alles ging ohne Worte vor sich. Danach begannen sie systematisch meinen Kopf zu traktieren, vor allem mit Fußtritten. Ich versuchte, mich mit dem Arm zu schützen – und sie brachen ihn mir.

Plötzlich wurden die Schläge durch Schritte unterbrochen, es kamen Leute die Treppe herunter. Die drei Männer liefen sofort nach draußen und ließen mich im Hauseingang zurück. Die Hausbewohner nahmen mich mit zu sich, ich erinnere mich nicht, wie ich zu ihnen geriet, scheinbar war ich nicht ganz bei Bewusstsein.

In der Wohnung wusch ich mich und dann klingelte es an der Tür. Ich denke, dass diese Leute mich suchten und die Stockwerke abliefen. Daraus schließe ich, dass das keine bezahlten Provokateure waren, sondern eher Geheimdienstleute. Sie hatten professionell zugeschlagen, der erste Schlag hätte durchaus letal ausgehen können.

Die Bewohner reagierten nicht auf das Klingeln und machten nicht auf. Dann ging einer von ihnen hinaus, und nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Gefahr vorbei war, brachte er mich durch eine Hintertür nach draußen. Ich rief keine Polizei und fuhr selbst zur Unfallstation und von dort ins Krankenhaus, wo ich jetzt bin – in der Kiefer- und Gesichtschirurgie. Ich habe eine Fraktur des linken Wangenknochens, außerdem wurde eine Netzhautverletzung vermutet, doch es stellte sich heraus, dass das Auge heil geblieben ist. Rechts habe ich ein Hämatom in der Schläfenregion, ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung und einen Armbruch, der eine schwierige Operation erfordert, außerdem Prellungen des Thorax und im Bereich von Lendenwirbelsäule und Kreuzbein – sitzen, aufstehen und liegen ist schmerzhaft. Die Rippen und inneren Organe sind unversehrt. Man kann sagen, ich habe Glück gehabt.

In der letzten Zeit gab es keinerlei Drohungen an meine Adresse. NODler [Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung NOD] schreiben mir manchmal, aber das zähle ich nicht. Ich weiß nicht, womit dieser Überfall zusammenhängen könnte, mit der gestrigen Kundgebung, mit meinem aktuellen Engagement in Menschenrechtsfragen oder mit einem Post bei facebook zur Verfolgung von Antifaschisten und den Methoden des FSB. Durch meinen Stream konnte man leicht herausfinden, wo ich war. Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich noch nie beschattet worden.

Ich werde natürlich versuchen, diese Sache weiter zu verfolgen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Untersuchung irgendwo ins Stocken geraten.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

4. Februar 2018

Der Tod Arsenij Roginskijs bedeutet für MEMORIAL einen unschätzbaren Verlust. Er war nicht nur der Vorstandsvorsitzende von MEMORIAL International, sondern auch die anerkannte und unbestrittene Leitfigur. Er ist unersetzlich - Persönlichkeiten dieser Kapazität sind gibt es nicht allzu oft.

Natürlich wird die Arbeit ohne ihn wesentlich schwerer. Aber sie geht natürlich weiter. Gerade Arsenij Roginskij ist es zu verdanken, dass MEMORIAL nicht zu einer Organisation geworden ist, die auf eine einzige Führungskraft zugeschnitten wäre. Unsere gesamte Tätigkeit wie auch unsere einzelnen Projekte beruhen nach wie vor auf Eigenständigkeit und persönlicher Verantwortung. Die Resultate unserer Arbeit werden der Öffentlichkeit von einer Reihe ganz verschiedener Personen vorgestellt; viele von ihnen sind im In- und Ausland gut bekannt.

Auf der nächsten Vorstandssitzung soll ein neuer Vorsitzender gewählt werden. Es wird neue Projekte geben, und für diese Projekte, ihre Diskussion und Durchführung kommt der jungen Generation von „Memorialern“ eine immer größere Bedeutung zu.

In den letzten Jahren ist die Arbeit von MEMORIAL schwerer geworden. Der Druck von Seiten der Staatsmacht hat sich zusehends verschärft. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Kürzlich wurde der MEMORIAL-Verband von Krasnodar als „ausländischer Agent“ registriert, weil er internationale wissenschaftliche Tagungen durchgeführt hatte, das Verfahren gegen Jurij Dmitriev in Petrosavodsk, eine weitere verleumderische Fernsehsendung bei NTV Mitte Januar, fortgesetzte Repressalien gegen das Menschenrechtszentrum – Anfang des Jahres wurde der Leiter unserer Vertretung in Grosnyj auf Grund einer gefälschten Beschuldigung verhaftet, danach wurden ein Brandanschlag auf unsere Vertretung in Inguschetien und auf ein weiterer auf ein Auto von MEMORIAL in Dagestan verübt.

Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – stoßen immer mehr junge Gleichgesinnte zu uns, die neue Gesichtspunkte und neue Ideen bringen. Eine der wichtigsten Aufgaben der letzten Jahre – unsere Anhängerschaft zu konsolidieren und zu erweitern – wird somit erfolgreich gelöst, sie bleibt jedoch auch in den kommenden Jahren aktuell.

Jetzt gilt es das Erbe Arsenij Roginskijs zu bewahren, nicht zuletzt auch seine Arbeiten zu veröffentlichen, die er nicht mehr abschließen oder für die Publikation vorbereiten konnte. Das lag weitgehend auch daran, dass er unter den derzeitigen schwierigen Umständen der Erhaltung und Weiterentwicklung von MEMORIAL so viel Zeit gewidmet hat.

Wir sind uns dessen bewusst, dass sich viele um das Schicksal von MEMORIAL Sorgen machen, und möchten unseren Freunden sagen: Die Arbeit, der Arsenij Roginskij so viel gegeben hat, wird fortgeführt. Wir wissen Eure Unterstützung zu schätzen und zählen auch in Zukunft darauf.

Der Vorstand von MEMORIAL International

 

Moskau, 1. Februar 2018

Erklärung zum Verfahren gegen Ojub Titiev

Am 9. Januar wurde Ojub Titiev, der Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial in Tschetschenien, festgenommen. Man wirft ihm vor, Drogen aufbewahrt zu haben. Die Anschuldigung wurde auf denkbar einfache Weise fabriziert: Die angeblich in seinem Auto gefundenen Drogen haben die Ermittlungsorgane selbst dort platziert. Das ist ein alter, primitiver und nicht sehr erfindungsreicher Trick.

Ist Titievs Verhaftung eine Initiative der tschetschenischen Behörden oder haben die lokalen Polizisten einen entsprechenden Wink aus Moskau bekommen?

Die Kräfte, die Memorial mit allen Mitteln kompromittieren wollen, gehen vielleicht davon aus, dass die öffentliche Meinung ohnehin längst an die totale Rechtlosigkeit in Tschetschenien gewöhnt ist und Titievs Verhaftung in jedem Fall darauf zurückführen wird.

Soll man die nächste „Enthüllungs“-Reportage bei NTW abwarten, in der der Memorial-Mitarbeiter als Drogenkonsument oder gar Drogendealer dargestellt wird – ähnlich wie man den Leiter von Memorial Karelien Jurij Dmitriev als Pädophilen verleumdet und ihm Kinderpornographie unterstellt hat? Das Verfahren gegen Dmitriev hält vor Gericht nicht stand – vielleicht will jemand dafür Rache nehmen wollen und eine weiteres betrügerisches Verfahren in die Wege leiten, diesmal gegen Titiev?

Wir wissen auf diese Fragen noch keine Antwort, dafür ist uns aber etwas anderes klar: Diesmal wurde die Provokation in Tschetschenien organisiert, d. h. auf einem Territorium, wo es schon lange keinerlei Gesetz und keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt. Ojub Titiev ist also in größter Gefahr.

Das einzige, was wir in dieser Situation tun können, ist, an die russische und internationale Öffentlichkeit zu appellieren, das Verfahren gegen Titiev ebenso aufmerksam zu verfolgen und so eindeutig und engagiert zu reagieren, wie bereits im Falle Dmitriev. Es gilt zu erreichen, dass das russische Innenministerium die Ermittlungen gegen Titiev übernimmt. Nach mehrmaligen diffamierenden und drohenden Ausfällen des tschetschenischen Regierungschefs Kadyrov gegen Menschenrechtler ist in Grosnyj kein faires Verfahren zu erwarten. Die Unterlagen zu Titievs Anzeige gegen Polizisten müssen ebenfalls der nächsthöheren Instanz übermittelt werden.

Eine breite öffentliche Kampagne hat im Fall Dmitriev bisher ein widerrechtliches Urteil auf Grund eines Pseudo-Gutachtens verhindert. Grosnyj ist nicht Petrosavodsk, hier sind die Verhältnisse weit schlimmer. Aber es geht um das Leben eines aufrichtigen und mutigen Menschen. Es wird nicht einfach sein, hier Erfolg zu haben, aber wir dürfen hier nicht untätig bleiben.

 

24. Januar 2018

Am 27. Januar wurde Jurij Dmitriev, der Vorsitzende von Memorial Karelien, am frühen Morgen nach über einem Jahr aus der Untersuchungshaft in Petrosavodsk entlassen. Er muss vorläufig an seinem Wohnort bleiben, da sein Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.

Im Dezember hatte das Gericht seine Freilassung für den 28. Januar (einen Sonntag) angeordnet.

Die beiden Gutachten, die beim Serbskij-Institut in Moskau in Auftrag gegeben wurden, liegen noch nicht vor. Sobald dies der Fall ist, soll der nächste Verhandlungstermin anberaumt werden.

Ein unmittelbar nach Dmitrievs Freilassung aufgezeichnetes Interview (in russischer Sprache) finden Sie hier.

 

27. Januar 2018

Am 22. Januar abends wurde in Machatschkala (Dagestan) ein Fahrzeug des Menschenrechtszentrums Memorial in Brand gesteckt. Der Fahrer hatte das Auto in der Nähe seiner Wohnung geparkt. Ein Nachbar rief ihn gegen 22 Uhr an und teilte ihm mit, dass das Auto brenne. Die Feuerwehr kam schnell, so dass nur der vordere Teil des Fahrzeugs beschädigt wurde.

Am folgenden Morgen erhielt das Memorial-Büro in Machatschkala zunächst eine SMS und unmittelbar (von derselben Nummer aus) einen Anruf mit der Ankündigung, man werde das nächste Mal das Büro mitsamt seinen Mitarbeitern in Brand setzen. In der letzten Woche war bereits ein Brandanschlag auf das Memorial-Büro in Nasran verübt worden.

Oleg Orlov sagte zu dem Anschlag auf das Fahrzeug: „Das ist ganz offensichtlich ein weiterer Akt zur Abschreckung.“ Die fingierte Anklage gegen den Leiter des Büros in Grosnyj wegen angeblichen Drogenbesitzes, weitere verdächtige Gegenstände, die im Büro Grosnyj vorgeblich „gefunden“ und tatsächlich untergeschoben wurden, der Brand in Nasran und jetzt des Autos stünden in einer Reihe: „Gegen Memorial läuft eine Kampagne der Einschüchterung und Abschreckung – das ist Terror.“ Die Hintermänner der Anschläge in Nasran sowie in Machatschkala vermutet Orlov in Tschetschenien.

23. Januar 2018

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