Interview mit Ajscha Astamirova

 

Am 4. Juli findet in Moskau die Verhandlung im Kassationsverfahren von Michail Krieger statt, eines Aktivisten und Vorstandsmitglieds von Memorial im Gebiet Moskau, der wegen seiner Facebook-Posts zu sieben Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. In der Kolonie hat er Ajscha Astamirova geheiratet, die ebenfalls Mitglied von Memorial ist. Memorial hat mit Ajscha Astamirova über ihre Erlebnisse in der Protestbewegung und über Michail Krieger gesprochen. Nachstehend bringen wir das Interview mit geringfügigen Kürzungen.

 

 
Ajscha Astamirova


Erzählen Sie etwas über sich: Wo sind Sie geboren und wohin sind Sie später umgezogen?

Ich bin Tschetschenin und stamme aus einer Bergarbeitersiedlung in Zentralasien. Nach Moskau kam ich zum ersten Mal in den 1980-er Jahren. Ich bin Geologin, deshalb reiste ich viel, und 1984 blieb ich endgültig in Moskau. Ich schloss dort das Studium ab, heiratete, bekam einen Sohn. Als ich mein Diplom erhielt, fiel das Land gerade auseinander. Ich wurde sehr krank und war gezwungen, in Moskau zu bleiben.—

Vor diesem Hintergrund kam es zu den beiden tschetschenischen Kriegen. Meine Angehörigen verließen wie ich Zentralasien, sie zogen in den Kaukasus. Wir hatten keinen Kontakt miteinander, ich wusste nicht, wie und wo ich sie hätte suchen können. Als ich mich auf die Suche nach ihnen machte, wurde ich mit einer Person bekannt, die fast genauso heißt wie ich – nicht Astamirova, sondern Estemirova. Ich lernte sie durch Anja Karetnikova kennen. Sie kam zu unseren Mahnwachen. Als sie dann ermordet wurde, stellte sich heraus, dass sie – Natalja Estemirova – eine Cousine zweiten Grades von mir war. Mit ihrer Hilfe hätte ich meine Verwandten einige Jahre früher finden können. In ihrer Familie waren zwar keine Revolutionäre, aber Aktivisten, und als ihr Familienoberhaupt bereits in den 1920-er Jahren verhaftet wurde, registrierte seine Frau die Kinder unter ihrem Mädchennamen Estemirova, um sie vor Repressalien zu schützen.

Von meinem Urgroßvater weiß ich, dass er auch verhaftet wurde. Meine Brüder versuchten, etwas herauszufinden, erfuhren aber nur wenig. Weshalb er verhaftet wurde und wo er dann hingekommen ist, haben sie nicht in Erfahrung bringen können. 

Wie haben Ihre Aktivitäten begonnen?

Ich ging auf Demonstrationen, verbreitete Flugblätter, telefonierte die Leute zusammen. Ich war immer gegen den Krieg, …  dafür, dass … man nicht für seine Meinung eingesperrt und einem nicht grundlos Verfahren angehängt werden. 

Und so wurde ich involviert. Dann, als der Zweite Tschetschenien-Krieg begann, überlegte ich lange, ob ich auf Kundgebungen gehen sollte oder nicht. Es machte Angst, zu Mahnwachen zu gehen. Es fanden welche auf dem Puschkin-Platz statt, bei McDonalds. Nach der Geiselnahme im „Nordost“ gingen Mischa Krieger und Anna Karetnikova dorthin, ich kam später dazu. Zuerst hatte ich immer Angst, aber später verflog das.

Was half Ihnen dabei?

Man kann nicht die ganze Zeit Angst haben.

Wissen Sie, ich war immer angreifbar. Zu dieser Zeit war mein Sohn in Moskau in der Wohnung seines Vaters angemeldet, und ich existierte war für meinen Ex-Mann schon nicht mehr. Ich wurde nicht registriert. Und dann wurde noch mein Pass geklaut. Ohne Pass und Anmeldung war ich niemand und nirgends: eine Tschetschenin und dann noch ohne Ausweis. Einmal wurde ich doch festgenommen, ganz zufällig, und die Polizisten freuten sich sehr, dass sie eine Tschetschenin erwischt hatten.

Die ganze Kindheit und Jugendzeit schämte ich mich für meine Nationalität. Als dieser Krieg anfing, war ich mit befreundeten Geologen zusammen. Ein sehr guter Freund, der mir bis dahin sogar den Hof gemacht hatte und vielleicht nicht wusste, dass ich Tschetschenin bin, sagte mir, alle Tschetschenen seien miese Betrüger, und man sollte sie töten.

Kontakte nach Tschetschenien hatten Sie nicht?

In unserem Ort waren fast alle Umsiedler. Aber es kam mir nicht in den Kopf, dass wir auch welche sind, ich wusste das nicht einmal! In der Klasse sagte die Mathematiklehrerin etwas davon, aber ich bezog das nicht auf mich. In der Familie wurde darüber nicht gesprochen.

Meine Mutter gehört zur tschetschenischen Bergbevölkerung, aufgewachsen ist sie aber in Zentralasien. 1943 wurden sie umgesiedelt, mein Vater war 15 Jahre, meine Mutter auch in dem Alter. Nach einem oder zwei Jahren arbeiteten sie schon in einem Kombinat. Das Quecksilberkombinat mit seiner Ausstattung war aus der Ukraine hergeschafft worden, und das Personal bestand im Wesentlichen aus Ukrainern.

Meine Eltern wollten in den Kaukasus zurückkehren, und Ende der 1950-er Jahre begaben sie sich ohne Genehmigung dorthin. In der Tschetschenisch-Inguschischen Republik wurde ich 1961 geboren. Aber es war schwer, Arbeit zu finden, und sie kehrten nach Chajdarkan im Gebiet Oschsk (Kyrgystan) zurück. Deshalb kam ich immer von irgendwo anders her.

Als der ersten Tschetschenien-Krieg begann, scherzte ich, dass es ungerecht sei, und nicht nur, weil das in Tschetschenien war. Ich war immer gegen Jelzin und erwartete von ihm nichts Gutes, und der Krieg bestätigte mich in dieser Haltung. (….)

 


Ajscha Astamirova. Foto: Alexandra Astachova

 

Wie haben Sie die Michail Krieger kennengelernt? 

Bei einer Mahnwache. Irgendwann ab 2003 ging ich zu Protestkundgebungen, und er schon ein halbes Jahr vorher. Damals zeichnete ich viel für eine anschauliche Agitation bei den Mahnwachen und Demonstrationen. Wir hielten lange Kontakt, und nach sechs oder sieben Jahren wurden wir enge Freunde – ich, Anja Karetnikova und Mischa. Mischa ist ein fröhlicher Mensch, er singt die ganze Zeit! …Wir trafen uns jeden Abend bei Anna Karetnikova. Und verbrachten einen ganzen Winter lang alle Abende zusammen. 

Wie haben Sie Michails Verhaftung erlebt? 

Als der Krieg begann, dachte ich nicht an die Risiken und äußerte mich in der ersten Zeit sehr scharf in den sozialen Netzwerken. Am Anfang hatte ich keine Angst. Aber danach schon.

Als sie ihn das erste Mal festnahmen, waren wir in der Wohnung. Damals nahmen sie vor dem 9. Mai Aktivisten fest. Sie klopften an die Tür. (….) Ich öffnete, er kam auch zur Tür, und sie griffen ihn sich sofort. Ich sagte ihnen, sie sollten ihn sich wenigstens die Schuhe anziehen lassen, ihm die Möglichkeit geben, sich anzuziehen. Sie nahmen ihn fest und brachten ihn weg. Es wurde leer. 

Danach wurde er im Sommer noch mehrere Male festgenommen. Am Auto hatte er Plakate mit der Aufschrift, dass Navalnyj sein Präsident sei, und solche Sachen. Meine Tochter und ich rieten davon ab, jetzt mit diesen Plakaten herumzufahren, sie würden einen anhalten und festnehmen. Und hier mit dem kleinen Enkel auf der Datscha, das ist nicht einfach. Er nahm dann die Plakate weg, und die Festnahmen hörten auf.

Aber dann – wir waren gerade im Begriff, auf die Datscha zu fahren, um das Wasser abzustellen und alles winterfest machen. Und da kam ein Anruf - Mischa sei festgenommen worden. Das war im November.

Er wurde auf der Arbeit festgenommen, als er dabei war, das Auto auszuladen. Jemand im Café nebenan sah, wie schwarz maskierte Leute kamen und jemanden festnahmen. Seine Tochter fuhr schnell in die Wohnung, um den Hund zu holen. Sie schaffte es, kam raus, stieg ins Auto – und sofort kamen sie und führten eine Haussuchung durch. Dort nebenan ist eine Polizeidienststelle, offenbar standen diese Leute schon da bereit.

Alles lief darauf zu, dass man ihn schließlich verhaften würde. Sie nehmen die Leute der Reihe nach fest, für nichts und wieder nichts. Wenn man Mischas Facebook-Seite oder andere Sachen ansieht, kann man ihm viele Artikel anhängen. Jetzt haben sie gerade Artjom Krieger festgenommen, ihm haben Sie Kontakt zu Navalnyjs Stiftung zur Korruptionsbekämpfung angehängt – was hat Artjom mit dieser Stiftung zu tun? Was für eine abwegige Begründung für eine Festnahme. 

Was haben Sie gemacht, woran haben Sie in den ersten Tagen nach der Verhaftung gedacht?

Ich dachte sofort, dass das für lange ist. Und sofort hatte ich das Gefühl der Leere und Einsamkeit, wie schon damals im Mai. Es war gleich klar, dass sie ihn jetzt nicht mehr rauslassen.
Woran ich gedacht habe? Erstens daran, herauszukriegen, wo er ist und wie es ihm geht, das erste Päckchen vorzubereiten, Medikamente zu finden und überhaupt Sachen in dieser zerstörten Wohnung. Das war ein Monat voller Unruhe, wie im Traum. Ich war auch noch nicht offiziell seine Frau. Und zum Gericht brachte man ihn ausschließlich nach sechs Uhr abends, wenn man schon nicht mehr ins Gerichtsgebäude hineingelassen wird. Wir mussten also draußen bleiben.

 


17. Mai 2023: Michail Krieger wird nach dem Urteil aus dem Gerichtssaal geführt. Foto: Darja Kornilova

 

Konnten Sie Michail dann sehen?

Nein. Ich sah ihn erst in Mai, als der Prozess begann. Und einmal auch per Video. (….) Wir schrieben uns Briefe. Die Briefe kommen auch an. Er bekommt viel Post, manchmal kommt er mit den Antworten nicht gleich nach.

Sie haben vor kurzem geheiratet. Wie ist das abgelaufen?

In der Untersuchungshaft in Matrosskaja Tischina war das schwierig. Wir haben einen Antrag gestellt, da hieß es, kommen Sie in einem Monat wieder. Dann nach einem Monat hieß es, der Antrag ist nicht formgerecht. Nach einem weiteren Monat kommt man wieder, und es gibt wieder einen Einwand - es sie nicht das richtige Formular. Mit solchen Sachen haben wir fast ein Jahr zugebracht. Als alles dann beim Standesamt war und das Datum festgesetzt wurde, war er gerade auf dem Transport in die Kolonie. In der Kolonie wurde DANN innerhalb eines Tages die Genehmigung zur Heirat erteilt.

Das ging glatt. Mit der Dame vom Standesamt gingen wir zum Stab. Dort holten Sie Mischas Akte; zeigten, wo der Stempel hin muss und wo Mischas neuer Zivilstand einzutragen ist. Danach holten sie Mischas Pass und stempelten ihn auch. Dann begab ich mich mit dieser Dame in die Kolonie, dorthin, wo die Päckchen angenommen werden. Nach einer halben Stunde kam Mischa in Begleitung mit seinem Offizier.

 


Ajscha Astamirova bei der Heirat mit Michail Krieger in der Kolonie. Foto: Alexandra Astachova

 

Hier an diesem Schalter teilten wir ihm mit, dass er verheiratet ist und er das Papier über die Registrierung der Heirat unterschrieben muss. Wir übergaben dieses Papier an diesem Schalter, Mischa unterschrieb. Sie gestatteten uns, uns die Hand zu geben. Das war’s. Sie baten dringend, diesen Schalter und die Personen nicht zu fotografieren.

Wir hätten das Recht auf einen Besuch für drei Tage gehabt. Aber als ich kam und das Telefon abgab, hatte ich in der Tasche ein altes Nokia-Mobiltelefon, das ich gar nicht bemerkt hatte, ich wusste nicht, dass es da war. Und als ich fast schon die letzte Kontrolle passiert hatte, fanden sie dieses Nokia - und sagten mir „auf Widersehen“. Und der dreitägige Besuch kam wegen dieses alten Mobiltelefons nicht zustande. Wir sahen uns nur am Schalter, als er unterschrieb.

Wird es noch eine Möglichkeit geben?

Wir haben ausgerechnet, dass der nächste längere Besuch Mitte oder Ende August stattfinden müsste. Natürlich nur, wenn er gestattet wird. Jetzt war ein Tag der offenen Türen für alle, die kommen konnten, sie durften einen Tag in der Kolonie verbringen. Aber Mischa wurde ein Besuch von Angehörigen aus irgendeinem Grund nicht gestattet.

Wir werden nicht vorausplanen. Vier längere Besuche sind pro Jahr vorgesehen, und wir werden versuchen, sie auszunutzen. Zweimal im Monat kann man telefonieren, getrennt durch die Scheibe. Aber wenn ich mit den Hunden auf der Datscha bin, ist das schwerer zu organisieren. Die Hunde alleinzulassen - nach Moskau zu fahren dauert schon mindestens drei Stunden.

Haben Sie daran gedacht, Russland zu verlassen?

Verstehen Sie, ich habe fünf Hunde, und sie sind alt. (….)

Solange die alle da sind, kann ich nirgendwohin. Ich würde gerne irgendwohin ausreisen, vielleicht in den Norden, aus irgendeinem Grund zieht es mich dorthin.

Alle sind weg – die einen sitzen, andere sind ausgereist. Und wir leben quasi im Untergrund. In der Familie meines Sohnes sind alle eher „dafür“. Wir kennen unsere Einstellungen, deshalb sprechen wir nicht über dieses Thema, um uns in der Familie nicht zu zerstreiten.

Mit den Studienkollegen ist es ähnlich. Wir haben enge Kontakte mit Kommilitonen und Freunden aus anderen Studiengängen. Ich habe im Moskauer Institut für Geologie studiert, bei uns ging es demokratisch zu, Gedankenfreiheit und überhaupt die Freiheit wurden geschätzt. Die Professoren sagten: „Da, wo Sie arbeiten werden, wird Ihnen niemand was erlauben und niemand helfen, deshalb müssen sie imstande sein, unorthodox zu denken und in jeder Lage richtige Entscheidungen zu treffen.“ Unter uns mag es ein bis zwei offene Z-Idioten geben, die übrigen halten den Mund, aber die Einstellung ist bei vielen in Ordnung.

Noch eine Frage zum Abschluss. Warum darf man jetzt die Hände nicht in den Schoß legen, wo kann man Hoffnung schöpfen, wie kann man durchhalten und nicht aufgeben?

Dieser Horror kann ja nicht ewig dauern. Vielleicht wird der Irrsinn sich noch so fünf Jahre hinziehen, aber länger nicht. Aber wie weit wird man in dieser Zeit die Gehirne vollhauen und die Moral ausrotten?

Es gibt viele einfach ungebildete Menschen, die sich für nichts interessieren. "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts, Hauptsache, man lässt mich in Ruhe, und nach mir die Sintflut." Das ist wie ein Sumpf. Mein Sohn ist an sich nicht dumm, er ist bald 40, aber er erzählt solchen Unsinn.

Deshalb muss man versuchen, sich seinen gesunden Menschenverstand zu bewahren und  wenigstens auf seine Nächsten irgendwie einzuwirken, Gleichgesinnte zu unterstützen und den anderen auf ihnen zugängliche Weise nahezubringen, dass das, was passiert, nicht normal ist. Mir mag das egal sein, wir haben unser Leben hinter uns. Aber der Jugend steht das Leben noch bevor.

Übersetzung: Vera Ammer

2./3. Juli 2024

 

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top