Jurij Ljapkalo mit seinem Sohn in Mariupol

 

Oleksandr Vasyljev

 

Jurij Ljapkalo und sein dreijähriger Sohn Hlib versuchten, fast zwei Monate unter permanentem Beschuss zu überleben, ohne normales Essen, ohne Wasser, Wärme und Kommunikation. Im April 2022 gelang ihnen die Evakuierung. Mittlerweile leben sie in Tschechien, aber Hlib sucht bis heute manchmal immer noch Schutz, wenn er Donner am Himmel hört.

Als die Vollinvasion begann, lebte ich mit meinem dreijährigen Sohn, mit meiner Freundin und deren 15-jähriger Tochter zusammen. In den ersten Tagen des Krieges verstanden wir nicht, was vor sich ging. Keiner glaubte daran, alle sagten, das ist unmöglich. Am linken Flussufer der Stadt wurde schon gekämpft, auf unserer Seite gab es nur Echos. 

Dann bemerkten wir, dass die Menschen wegliefen und ihre Sachen zusammenpackten. Mit jedem Tag, sogar mit jeder Stunde kam der Beschuss immer näher und näher und man konnte schon nirgendwo mehr hin, denn von irgendwelchen Evakuierungsmaßnahmen war keine Rede, niemand wusste irgendetwas. Bald gab es kein Wasser mehr, kein Gas, kein Strom und keine Verbindung nach außen. Das Steinzeitalter begann. Es begannen Plünderungen in den Geschäften, die Menschen schleppten alles mit. Alles, was sie konnten, schleppten sie mit. Wir wohnten im vierten Stock, gingen aber nicht ein einziges Mal in den Keller hinunter, wir wollten nicht unter der Erde sterben.

 

 
Jurij Ljapkalo mit seinem Sohn Hlib

 

In der Wohnung war es unter Null, wir froren. Essen kochten wir mit den Nachbarn im Hof auf dem Feuer. Es kam vor, dass wir unter Beschuss gerieten. Einmal gab es starken Beschuss, alle versteckten sich, aber ich lief nach draußen, um die Suppe vom Feuer zu holen. Ich musste meinen Sohn ernähren und etwas anderes zu essen gab es nicht. 

Dann, als sich die Lage verschlechterte und das Haus von dem ständigen Beschuss buchstäblich permanent wackelte, entschieden wir, weiter wegzugehen, dorthin, wo es ruhiger war, meine Tante, meine Großmutter, mein Cousin und mein Patenkind wohnten dort. Eine Familie in dem Haus war weggegangen und hatte die Wohnung hinterlassen, also zogen wir dort ein. 

Jeden Tag gingen wir, wie man so schön sagt, auf die Jagd: Wir suchten Proviant, wenigstens irgendetwas. Wir hatten kein Wasser und ein Brunnen war irgendwo über zwei Kilometer weit entfernt auf einem Privatgrundstück. Als wir dorthin gingen, um Wasser zu holen, war das ein Ticket ohne Rückfahrkarte. Einmal sind wir gelaufen und rundherum lagen Leichen von Zivilisten. Sie waren während des Beschusses getötet worden. Und man weiß auch nicht, ob man zurückkehrt oder nicht. Als es schon überhaupt nichts mehr gab, haben wir Tauben gegessen. Wenigstens etwas Fleisch, eine Brühe zum Kochen... Und wenn es regnete, haben wir Regenwasser gesammelt.

 

 
Der dreijährige Hlib im zerstörten Mariupol im Frühjahr 2022

 

An einem Tag gingen mein Cousin und ich auf den Markt „Avtostanzija-2“. Alles, was man von dort mitnehmen konnte, hatten die Menschen schon mitgenommen, aber es gelang mir, einige Äpfel zu finden, eine Packung Tee, Strumpfhosen für meinen Sohn und Feucht-Tücher, die sehr wichtig waren, es gab doch nirgends eine Bademöglichkeit. Und während wir in den Sachen auf dem Markt wühlten, kamen plötzlich zwei „Orks“ (pejorativ für Russen) an. 

„Herren Marodeure, aufstellen!“, sagte sie und feuerten mit dem Gewehr eine Salve in die Luft. Wir stellten uns auf und sie begannen, unsere Dokumente zu kontrollieren, aber ich hatte ausgerechnet keine bei mir. 

Einer der russischen Soldaten fing an, mit Erschießung zu drohen und ließ eine Maschinengewehrsalve neben meinen Füßen los. Dann zwangen sie mich auf die Knie, durchsuchten und schlugen mich und ließen uns danach laufen. Als wir nach Hause zurückkamen, gerieten wir unter Beschuss. 

Mit der Zeit gab es nirgends mehr etwas zu essen, Tauben flogen schon keine mehr. Wir hatten noch einen Hund, aber den haben wir nicht gegessen, weil es unser Hund war. Dann beschlossen wir, irgendwie nach Essen zu suchen. Wir erfuhren, dass neben dem Supermarkt „Metro“ angeblich Russen standen und humanitäre Hilfe verteilten. Wir beschlossen, dorthin zu gehen, sonst wären wir verhungert. Wir liefen etwa vier Stunden, um uns herum Verwüstung, sehr viele Leichen, Gräber in jedem Hof... Wir kamen in das von Russen besetzte Gebiet. Übrigens gab es sehr viel Gerede, dass ukrainische Soldaten auf Zivilisten geschossen haben sollen. So etwas gab es nicht! Ich lief an ihnen vorbei, genauer an Asov-Kämpfern, niemand hat etwas gesagt oder jemanden angerührt. 

Schließlich kamen wir beim „Metro“ an, dieser Teil der Stadt war bis auf die Grundmauern zerstört. Ich war mal in Prypjat, das war eine blühende Stadt im Vergleich zu dem zerstörten Mariupol. Dort herrschte das blanke Grauen: Niemand beseitigte die Leichen, es gab sehr viel zerstörtes Kriegsgerät. Krieg eben...

 

 
Hlib Ljapkalo, Mariupol, Frühjahr 2022

 

Als wir am „Metro“ ankamen, sagte man uns, dass es heute keine humanitäre Hilfe geben würde. Wir blieben hungrig, mussten irgendwo übernachten, denn zurück zur Wohnung konnten wir schon nicht mehr, das waren ja drei, vier Stunden Fußmarsch und wir hatten die Großmutter dabei, die das nicht mehr geschafft hätte. 

In der Nähe gab es irgendwelche Lebensmittellager, dort gingen wir zum Übernachten hin, kletterten in irgendeine Zelle, plötzlich sehen wir etwa 20 Meter von uns eine Leiche „sitzen“. Tja, wohin damit...? 

Morgens wachten wir auf, gingen wieder zum „Metro“, dort sagten sie, dass es auch heute keine humanitäre Hilfe geben würde. Wir liefen zurück. 

Ich möchte noch etwas zu den Luftangriffen sagen. Das war der Horror. Auch nachdem wir aus Mariupol schon raus waren, fing mein Sohn an, einen Unterschlupf zu suchen, sobald er am Himmel irgendeinen Donner hörte. Sie bombardierten schrecklich, warfen dabei die Bomben überall ab, trafen Wohnbezirke, wo es überhaupt keine militärischen oder infrastrukturellen Einrichtungen gab. Das war so furchtbar.

 

 
Hlib Ljapkalo, Mariupol, Frühjahr 2022

 

Dann erfuhren wir, dass Busse aus der Stadt heraus nach Taganrog fahren. Wir liefen los, stellten uns in die Schlange, kletterten in den Bus, es war ein fürchterliches Gedränge. Am ersten Kontrollpunkt wurden alle Männer aufgefordert, herauszukommen und sich aufzustellen. Jeder wurde in einen Wagen gesetzt, um ein Gespräch zu führen. Ich ging als Letzter, weil der Kleine ständig aus dem Bus heraussprang und „Papa, Papa!“ schrie. 

Schließlich kontrollierten sie mein Telefon, fragten, was das für ein Kind sei, das ich bei mir hätte. Dann gefiel ihnen nicht, dass mein Telefon zu sauber war und sie begannen zu drohen, genauer gesagt, mit Erschießung. Sie schlugen mich und ließen mich laufen. Als wir aus Mariupol heraus waren, sahen wir in einem Ort Licht von einer Laterne und der Kleine fragte: „Papa, was ist das?“ Stellen Sie sich vor, wie sehr wir Licht nicht mehr gewöhnt waren. 

Wir standen die ganze Nacht am Zoll. Menschen, die ihnen verdächtig vorkamen, wurden einzeln zur Filtration herausgerufen. Aber alles verlief glimpflich, wir fuhren weiter nach Taganrog, dort holten uns Freunde ab und brachten uns nach Sevastopol. Von Sevastopol fuhren wir dann weiter nach Tschechien.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Das Video mit Jurij Ljapkalo finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

 

25. Juni 2024

 

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