Zur Geschichte des Hauses Slovo (Wort) - einer Residenz für ukrainische Schriftsteller in Charkiv, die Ende der 1920-er Jahre gebaut wurde. Die meisten ihrer Bewohner wurden in den 1930-er Jahren Opfer der Säuberungen

 

Iryna Skatschko

 

Ihre Ukrainisierung - das ist eine Methode, uns alle, die Ukrainer, zum Vorschein zu bringen und uns dann alle zu vernichten, damit auch von unserem Geist nichts mehr übrig bleibt…“

Mykola Kulysch: „Myna Mazajlo“

 

…Das ruhige Zentrum Charkivs. Auf dem Platz neben dem grauen, vierstöckigen Bau fegt ein Hausmeister versonnen die abgefallenen Fliederblüten weg. Im Sandkasten liegt Spielzeug herum. Einige Fenster sind mit Sperrholz vernagelt, irgendwo unter den Mauern liegen Glasscherben herum, die Spuren der jüngsten Angriffe auf das Stadtzentrum. Auf den ersten Blick würde man nicht sagen, dass dieses Haus das Museum der ukrainischen Erschossenen Renaissance hätte werden können. 

 


Aussicht auf das „Slovo", 2007. Foto: Vizu / Wiki Commons

 

In den Wohnungen der Klassiker leben gewöhnliche Stadtbewohner (abgesehen von der ehemaligen Wohnung des Publizisten Petro Lisovskyj, das ist eine literarische Residenz). Auf einer Gedenktafel in Form eines geöffneten Buches stehen über hundert Namen. An dieser Stelle befand sich recht lange eine ganz andere Gedenktafel. Dort stand lediglich der Name eines Mannes, der es geschafft hatte, den Terror zu überleben und Bildungsminister der Ukrainischen SSR zu werden – des Klassikers der ukrainischen Literatur Pavlo Tytschina. 

 

 

Pavlo Tytschina, Ivan Piddubnyj, Ostap Vyschnja, Petro Pantsch, I. Scheremet, Ivan Mikitenko, Volodymyr Sosjura. 1925

 

Geschichte und Mythos

In den 1920-er Jahren strömte die gesamte Blüte der ukrainischen Kultur in die damalige Hauptstadt der Sowjetischen Ukraine. Das Leben pulsierte – es wimmelte von Theatern, literarischen Zirkeln, es gab zahlreiche Zeitschriften. Im Bestreben, die nationalen Ränder des Imperiums unter Kontrolle zu halten, verfolgte Moskau einige Zeit die Politik der „Einwurzelung“, der Ukrainisierung. Die ukrainische Kultur erlebte eine Renaissance. Danach warf sie der Große Terror praktisch auf den Nullpunkt zurück. Aber das geschah später. Zunächst bestand das Hauptproblem darin, dass die Blüte der Nation keinen Wohnraum hatte. Die Dichter hausten in Kommunalwohnungen, Journalisten nächtigten häufig gleich in der Redaktion.

Die Idee, die Wohnungsfrage für die ukrainischen Schriftsteller auf einen Schlag zu lösen, entstand in der Gruppe „Pluh“ (Pflug), einer Organisation von Bauernschriftstellern in der Ukraine. Der Sowjetmacht kam dieser Gedanke gelegen. Man gründete eine Genossenschaft. Der Staat teilte Mittel zu, aber die Bewohner mussten ihren Anteil innerhalb von 15 Jahren abzahlen. Allerdings war irgendwann das Geld zu Ende. „Slovo“ wurde zu einem langwierigen Bauprojekt. Es heißt, Hilfe sei „von ganz oben“ bekommen – von Stalin.

1928 fand in Moskau eine „Ukrainische Woche“ statt. In die Hauptstadt kamen auch die künftigen Bewohner des „Slovo“. Es heißt, der Vorsitzende der Genossenschaft, Ostap Vyschnja, habe dem Generalsekretär eine Mitteilung übergeben mit Beschwerden über die sich hinziehenden Baumaßnahmen. Am selben Abend sei ein Koffer mit Geld in das Hotel gebracht worden, in dem die ukrainischen Schriftsteller nächtigten. Vermutlich ist das eine Legende. Allerdings war das Haus bereits zum Ende dieses Jahres fertiggestellt.

Die Baratschnyj-Gasse (seit 1930 – Straße der Roten Schriftsteller) lag damals fast an der Stadtgrenze: in frischer Luft und mit viel Grün. Die Form des Gebäudes erinnert an ein „C“ (S für Slovo — Wort — im kyrillischen Alphabet). Die Bewohner sollten dann als „Slovjany“ bezeichnet werden. Vier Stockwerke, fünf Eingänge, 66 Wohnungen, in jeder drei bis vier Zimmer, hohe Decken, riesige Fenster. Die größten Wohnungen von hundert Quadratmetern wurden der Genossenschaftsleitung zugeteilt – Ostap Vyschnja und Serhij Pypylenko. Im Souterrain befand sich ein Kindergarten, auf dem Dach ein Solarium.

„Eine kleine Betonfläche und in die Wand montierte Duschen — so hatte man die Möglichkeit, an einem warmen Sommertag in Ruhe zu baden und sich an die Sonne zu legen“, erzählte später Volodymyr Kulysch, der Sohn des Dramatikers Mykola Kulysch. „Das Solarium war bei den Erwachsenen nicht besonders beliebt, umso mehr aber bei uns Kindern. Wenn wir Schulkameraden von diesem Wunder erzählten, wollte uns das kaum jemand glauben.“

 

Bewohner

Die unter einem Dach lebenden ukrainischen Schriftsteller hatten sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und ebenso ganz verschiedene Ansichten. Der Vorsitzende der Genossenschaft Ostap Vyshnja (eig. Pavlo Hubenko) war Humorist und passionierter Jäger. In den Jahren des nationalen Befreiungskriegs war er hoher Offizier im medizinischen Dienst der Ukrainischen Volksrepublik. 1919 er in Kriegsgefangenschaft der Bolschewiki: „Er wurde in Charkiv bis zum Ende des Bürgerkriegs festgehalten.“ Petro Pantsch und Andrij Holovko waren ebenfalls Petljura-Offiziere. Gegen die Bolschewiki kämpften auch Volodymyr Sosjura, Borys Antonenko-Davydovytsch, Juryj Janovskyj und viele andere. Trotz der Ukrainisierungs-Politik und der kurzen Periode relativer Freiheit standen sie unter ständiger Beobachtung durch die Staatssicherheitsorgane.

Zu gleicher Zeit kämpfte etwa Mykola Chvylovyj auf der Seite der Roten (was ihn nicht daran hinderte, später die Losung „Los von Moskau!“ zu prägen). Den Sozialismus unterstützten Mychajlo Japovyj, Serhij Pylypenko, Majk Johansen und Oles Dosvytnyj.

Im „Slovo“ lebten auch reine Parteiliteraten: Kulyk, Mykytenko, Kyrylenko und Le. Sie schrieben regelmäßig Denunziationen gegen „Volksfeinde“.

Mitte der 1920-er Jahre gehörten viele der künftigen Bewohner des „Slovo“ der literarischen Gruppierung VAPLITE an (Vilna akademija proletarskoji literatury – Freie Akademie für proletarische Literatur). Leiter der Akademie war Mykola Chvylovyj. Mychyjlo Jalovyj, Mykola Kulysch, Arkadij Ljubtschenko, Oleh Dosvytznyj, Majk Johansen, Pavlo Tytschina und andere schlossen sich ebenfalls an. Trotz aller Unterschiede in ihren Erfahrungen und politischen Ansichten sowie ihrer Zugehörigkeit zu teils recht weit voneinander entfernten literarischen Strömungen, verband sie der Wunsch, die ukrainische Kultur auf europäisches Niveau zu bringen. Von daher auch die Losung „Los von Moskau!“ Niemand von ihnen zog indes die Ideen des Kommunismus in Zweifel.

 

Pavlo Tytschina in seiner Wohnung im „Slovo", 1930. Proslovo.com

 

Terror

Am 20. Januar 1931 kam es zu einer der ersten Verhaftungen im „Slovo“: In der Wohnung Nr. 27 wurde die Schauspielerin Halyna Orlivna abgeholt (sie erhielt fünf Jahre Verbannung und das Verbot, in die Ukraine zurückzukehren).

Im März desselben Jahres wurde der Publizist Pavlo Chrystjuk aus der Wohnung Nr. 25 verhaftet, ehemaliges Mitglied der Zentralen Rada, einer der Gründer der Ukrainischen Partei der Sozialrevolutionäre (er starb in einem Lager in der Region Chabarovsk).

Nach einem Jahr kam die Reihe an den Dichter, Prosaiker und Publizisten Ivan Bahrjanyj. Wegen „konterrevolutionärer Agitation“ verbrachtet er einige Monate in Einzelhaft und wurde dann in eine Sondersiedlung im Fernen Osten verbannt.

Bald war die Repressionsmaschinerie in vollem Gang: Die Ukrainisierung wurde revidiert, die Renaissance erschossen.

Am 12. Mai 1933 wurde der Dichter, Prosaschriftsteller und Dramatiker Mychajlo Jalovyj verhaftet. Ihm wurden „Spionage“, „nationale Abweichung“ und ein geplanter Anschlag auf Pavlo Postytschev vorgeworfen. Vor Gericht sagte er aus, Mitglieder von VAPLITE hätten „einen Aufstand“ in Charkiv vorbereitet. Er wurde 1937 erschossen.

Am Tag darauf bereits versammelten sich Gäste in der Wohnung Nr. 9. Mykola Chvylovyj hatte Freunde eingeladen — Kulysch, Dosvitnyj, Majk Johansen. Sie wollten gemeinsam essen und Lieder zur Gitarre singen. Mit den Worten „Jetzt werde ich euch zeigen, wie man schreiben muss“ ging der Wohnungsbesitzer plötzlich ins Nebenzimmer — und erschoss sich. Er hinterließ zwei Nachrichten — eine an seine Frau und die andere an Freunde. „JALOVYJS Verhaftung — das ist die Erschießung einer ganzen Generation… Wofür? Dafür, dass wir die aufrichtigsten Kommunisten waren? Ich verstehe nichts. Für die Generation, für Jalovyj bin vor allem ich verantwortlich, Mykola Chvylovyj. „‚Also‘ — wie Mychajlo Semenko sagt —es ist klar. Heute ist ein schöner sonniger Tag. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich das Leben liebe. Heute ist der 13. Erinnern Sie sich, wie sehr ich in diese Zahl verliebt war? Es tut furchtbar weh. Es lebe der Kommunismus. Es lebe der sozialistische Aufbau. Es lebe die kommunistische Partei.“

Dieser Schuss wird das ganze folgende Jahrzehnt nachklingen. Er kennzeichnet den Tod der ukrainischen Renaissance sowie den Tod des „Slovo“. Die Paradetüren werden geschlossen. Das NKVD wird seine Leute im Hof postieren. Den Literaten ist schon nicht mehr nach Briefen zumute, allenfalls versucht mancher sich noch zu retten, indem er Denunziationen gegen seine Nachbarn verfasst. Ivan Bahrjanyj bezeichnet das „Slovo“ als „Krematorium“, als „Untersuchungshaftanstalt“. Der „Schwarze Rabe“ bringt Bewohner weg, in ihre Wohnungen ziehen neue Mieter ein, aber auch sie wird das Schicksal ihrer Vorgänger ereilen. Und zwar so lange, bis im „Slovo“ fast niemand von der „Genossenschaft der Literaten“ mehr übrig ist.

Vom Schicksal der Bewohner des „Slovo“ ist uns längst nicht alles bekannt. Zu den meisten Archiven, die mit dem Großen Terror zusammenhängen, haben wir bis heute keinen Zugang. Sie liegen in der Russischen Föderation.

 

Das  „Slovo" in den 1950-er Jahren. proslovo.com

 

Das „Slovo" und der Krieg

Den Buchstaben „C“ (S für Slovo) in der Form des Hauses kann man bestenfalls aus der Vogelperspektive erkennen oder von einer Drohne aus. Man möchte glauben, dass jene, die über Charkiv „Shahed“-Drohnen abwerfen, von seiner Existenz nichts wissen, dann wäre es sicherer. Zu Beginn der Großinvasion wäre das „Slovo“ ohnehin beinahe zerstört worden. Am 7. März 2022 schlug eine russische Granate neben dem Haus ein. Ziegelsteine fielen von der Fassade des Slovo, Fenster flogen heraus. Zum Glück kam niemand ums Leben. Auf dem grauen Gesicht des Hauses sind bis heute „Pockennarben“ von den Splittern zu sehen.

 

 Foto: Suspilne Charkiv

 

Das  „Slovo" nach dem Einschlag einer russischen Rakete im März 2022. Foto: Michajlo Titarenko. Wiki Commons

 

„Vor hundert Jahren erschossen die sowjetischen Machthaber seine Einwohner, und jetzt hat es auch seine Mauern getroffen“, so hieß es damals in einer Erklärung der gleichnamigen Literatur-Residenz, die europäischen Schriftstellern die Möglichkeit bietet, eine Zeitlang in einer der historischen Wohnungen zu leben und zu arbeiten. „Die russischen Besatzer rauben jetzt bereits den heutigen Bewohnern die Ruhe."

 

3. Juni 2024

 

 

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