Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 25.6. – 1.7.2023

Spontane Mahnmale für die Opfer des Beschusses von Kramatorsk

Nach dem Raketenbeschuss vom 27. Juni auf ein Restaurant im Zentrum von Kramatorsk tauchen in russischen Städten spontane Mahnmale auf.

Einwohner Moskaus haben Blumen an das Denkmal von Lesja Ukrajinka gelegt. Im Tomsk wurden am Stein der Trauer - dem Denkmal für die Opfer politischer Repressionen - blau-gelbe Kunstblumen mit schwarzem Trauerband niedergelegt. In der Stadt Kungur in der Region Perm entstand am Mahnmal für die Opfer der Stalinistischen Repressionen ein spontanes Gedenkzeichen. Blumen zum Gedenken an die getöteten Bewohner der Ukraine tauchten auch in Jekaterinburg auf.

 


Sabotage

Im Gebiet Irkutsk kam es zu einem weiteren Brandanschlag an einem Relaisschrank. In der Nacht zum 30. Juni setzten Unbekannte an der Strecke Zabituj – Tscheremchovo an der Grenze zwischen den Bezirken Alarskij und Schteremchovskij einen Schaltschrank in Brand. Der Zugverkehr wurde für einige Zeit unterbrochen, verletzt wurde niemand. Es wurde ein Strafverfahren wegen „Beschädigung von Transportwegen“ eingeleitet. Die Brandstifter werden noch gesucht.

 

Einzelkundgebungen und Demonstrationen

Engagierte Bürger aus Jegorevsk haben Einzelkundgebungen mit Anti-Kriegsplakaten abgehalten: „Ich will in einem Russland leben, in dem es keine Kriegspropaganda gibt“, „Ich will in einem Russland leben, wo es Freiheit des Wortes gibt“, „Ich will in einem Russland leben, wo der OMON keine Kinder verprügelt“. Außerdem tauchten auf den Straßen der Stadt Flugblätter mit den neuen Einberufungsregeln auf und wie man der Armee entgehen kann, indem man Zivildienst wählt; außerdem an welche Menschenrechtsorganisationen man sich um Hilfe wenden kann, um eine Einberufung zu vermeiden.

 

Verfolgungen

Innerhalb von zwei Tagen gelang es russischen Bürgern, das Geld für den 85-jährigen Vladimir Ovtschinnikov zu sammeln, den das Gericht zu einer Strafe von 35.000 Rubeln (2,2 monatliche Mindestlöhne) für sein Anti-Kriegsgraffiti „Politik des Fleischwolfs“ verurteilt hatte. Nach den Worten des Künstlers aus Kaluga ließen die Polizisten keine Expertise des Bildes anfertigen und die Richterin kommentierte ihre Entscheidung nicht. Ovtschinnikov hatte zwei Fleischwölfe - mit dem Buchstaben Z und der Aufschrift 1937 - dargestellt, die Menschen zermahlen. Einer der Fleischwölfe steht als Symbol für die sowjetischen Repressionen, die zweite erinnert daran, dass diese Lektion bis heute nicht gelernt wurde.

 

„Russland hat einen Krieg begonnen und die Ukraine überfallen. Russland ist ein Aggressor und tötet unschuldige ukrainische Bürger“. Für diese Worte wurde eine Studentin aus Krasnokamensk in Transbaikalien zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt. Sie hatte sagte dies mitten im Unterricht in Anwesenheit des Professors sowie der ganzen Gruppe gesagt. Das Gericht wertete ihre Aussage als „Diskreditierung der russischen Armee“.

Ein Fluglotse aus Magadan, der einen Einberufungsbefehl erhalten hatte, wurde wegen zweifacher Befehlsverweigerung zu knapp drei Jahren Haft in einer Ansiedelungskolonie verurteilt. Er war nicht in den Krieg in der Ukraine gezogen, weil er laut eigenen Aussagen aus religiösen Gründen keine Waffe gegen andere Menschen richten könne.

Das Gericht hat Aleksej Gaschev aus Perm eines terroristischen Anschlags, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung sowie des Staatsverrats für schuldig befunden und zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Der FSB hatte ihn, Michail Sokolov und Dmitrij Strelkov zu Agenten des ukrainischen Inlandsgeтheimdienstes erklärt. Laut Sicherheitskräften haben Gaschev, Sokolov und Strelkov Terroranschläge sowie Sabotageakte vorbereitet und durchgeführt. Am 24. Juni 2022 hatten Gaschev und Sokolov Molotov-Cocktails in ein Einberufungsbüro im Bezirk Kirov in Perm geworfen. Sie wurden an der Grenze zwischen der Region Perm und dem Gebiet Sverdlovsk festgenommen. Sokolov war bereits zuvor schon einmal zu elf Jahren Lagerhaft in strengem Regime verurteilt worden.

Im Gebiet Amur wurde unter der Anklage des „Staatsverrats“ der 47-jährige Ostap Demtschuk, Lokführer bei der Russischen Eisenbahn, verhaftet. Die Ermittler sind der Ansicht, er habe von September des letzten Jahres bis Januar dieses Jahres Geld überwiesen, welches danach im Interesse der ukrainischen Streitkräfte verwendet worden sei. Worauf sich die Anklage stützt, wurde nicht mitgeteilt.

Wegen eines Plakates mit der Aufschrift „Nein zum ***g“ wurde Denis Glubizkij aus der Region Altaj zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt: Er wurde für schuldig befunden, die russische Armee diskreditiert zu haben.

In St. Petersburg wurde bereits das elfte Strafverfahren in der Stadt auf Grundlage des Paragraphen zu „Falschmeldungen“ eingeleitet. Das Nevskij-Gericht hat Nikolaj Veprikov aus Petersburg in Untersuchungshaft genommen, eingeleitet wurde das Verfahren gegen ihn, weil er bei VKontakte Beiträge über im Krieg in der Ukraine Getötete und über Politische Gefangene gepostet hatte.

Sergej Tochtejev, Musiker aus Vladivostok, wurde zur Zwangsbehandlung in die Psychiatrie eingewiesen. Ein Ermittler hatte einen entsprechenden Antrag bei Gericht eingereicht, dem gab das Gericht am 28. Juni statt und schickte Tochtejev in die Klinik. Gegen den Musiker wurden fünf Verfahren wegen „Diskreditierung der Armee“ eingeleitet.

 

Kunst und Kultur

Die Musiker der Punk-Rockband „Smena“ aus Staraja Russa wurden gezwungen, ihr Konzert auf dem Festival „Rokot nad Ilmenem“ [Rauschen über dem Ilmensee] vorzeitig abzubrechen, das in der Gegend von Velikij Novgorod stattfand. Die Gruppe hätte noch einige Lieder spielen sollen, hinter der Bühne teilte der Mitorganisator des Festivals mit, dass der Grund für den Abbruch der Satz „Im Land meiner Träume wünscht sich niemand Krieg“ aus einem Lied sei.



Ligalajs (D.O.B.) & Mr. Freeman haben ein Musikvideo zum dem Anti-Kriegssong „FRIEDEN!!FÜR!!EUER!!HAUS!!“ gedreht. Das Video ist angefüllt mit Bedeutung, enthält Ausschnitte mit Vyssozkij, Bilder von zerstörten Häusern in der Ukraine, außerdem Darstellungen künstlicher neuronaler Netze, die auf erschreckende Weise die Realität des heutigen Russlands ergänzen. Der Clip wurde unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz auf der Grundlage eigener Bearbeitung erstellt (auf Basis der Software Stable Diffusion).

https://www.youtube.com/watch?v=3JKkd_WTAZg&cbrd=1

 


Die Stadt spricht

Hacker aus Jekaterinburg schalteten auf dem Display einer Gegensprechanlage an einem Haus im Wohnkomplex Botanika die Worte „Ruhm der Ukraine“.


Krasnojarsk agitiert gegen Krieg und Mobilmachung!
In der ganzen Stadt sind Aufkleber verteilt: An einem Stand, der zum Vertragsdienst beim Militär aufruft: „Leben ist mehr wert als Geld“, an einem Stand der Regierungspartei „Jedinaja Rossija“: Partei der MoGilisierung“ [im russischen Wort für Mobilmachung wurde hier b durch g ersetzt, mogila ist das russische Wort für Grab]; außerdem: „Putin ist ein Feigling“, und „Zu lange an der Macht gesessen“.

In den verschiedensten Städten Russlands spricht man sich gegen den Krieg aus. Die Fotografien stammen aus Moskau, Ljuberzy, St. Petersburg, Vologda, Vladimir, Nizhnij Novgorod, Novosibirsk, Tomsk, Orenburg, Vladivostok, Kaspijsk, in der Republik Dagestan und Dzerzhinsk.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

9. August 2023

 

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