Als die Häuser von den Luftangriffen zusammenfielen wie Kartenhäuser, nahm sie Abschied vom Leben

Oleksandr Vasyljev

Ninel Tschernyschenko aus Borodjanka sah mit eigenen Augen, wie russische Flugzeuge gezielt Bomben auf Wohnhäuser warfen. Trotzdem glaubt sie an den Sieg, den Frieden und den Wiederaufbau der Ukraine.

Zum Videointerview


Ninel Tschernyschenko aus Borodjanka im Gebiet Kyjiv


Wie verlief der erste Tag der großangelegten Invasion Russlands für Sie?

Aus irgendwelchen Gründen hatte ich keine Angst. In meinem Herzen glaubte und wusste ich, dass wir alles überleben würden.

Was passierte in den ersten Tagen in Borodjanka?

Die Menschen glaubten, wahrscheinlich so wie ich auch, dass alles gut wird und wollten ihre Häuser nicht verlassen.

Wann kamen die Russen nach Borodjanka?

Am 1. März waren sie hier auf der 'Durchfahrt'. Wir wohnen in der Hauptstraße, die gesamte russische Kriegstechnik fuhr an uns vorbei. In der Nacht vom 1. auf den 2. März übernachteten wir nicht in unserer Wohnung. Als wir dann am zweiten in unsere Straße zurückkamen, sahen wir echtes Grauen.

Ich wünsche niemandem, so etwas zu sehen, so entsetzlich war das alles. Alle Fenster, alle Türen waren herausgeflogen, alles war zertrümmert, auseinandergerissen, zerrissen wie die Seele und grauenvoll anzusehen.

Rundherum lagen Leichen, wir wussten nicht, wohin wir treten sollten… . Dann haben wir aus unserer Wohnung alles geholt, was wir konnten.

Wie beschädigt war Ihr Haus und gab es dort Todesopfer?

Aus unserem Haus ist niemand umgekommen. Ein Junge aus dem Nachbarhaus, das zerbombt wurde, starb. Bemerkenswert ist, dass alle Bomben, die die Russen in Borodjanka abwarfen, derart präzise waren, dass es neben den Häusern überhaupt keine Krater gibt, es gibt sie nur mitten in den Häusern.

Das Nachbarhaus wurde stark beschädigt. Dort kamen viele Menschen um. Die Leichen lagen einfach auf den Straßen, wir fanden verstreut herumliegende Arme, Beine, Köpfe. Dann schleppten die Hunde die Überreste in den Hof. Es waren sehr viele.

Begingen die russischen Soldaten  während der Okkupation Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung?

Viele erzählten, dass die Russen in den ersten Tagen auf Menschen schossen, die sie zufällig bemerkten. Ich habe auch gehört, dass die Russen in ein Haus gingen, in dem eine Familie wohnte.

Sie sagten dem Mann, dass sie seine Frau wollen und sie mitnehmen würden. Er begann zu protestieren. Sie erschossen ihn vor den Augen seiner Verwandten. Und dann erschossen sie zwei ihrer eigenen Soldaten, damit die das niemandem erzählen.

Jetzt fällt mir ein, dass es an der Ausfahrt aus Borodjanka so einen Übergang gibt. Dort lebten in einem Haus ein Mann, seine Frau und die Kinder. Die Orks gingen einfach in das Haus und erschossen die Familie, um selbst dort zu leben und den Verkehr kontrollieren zu können, sie fuhren einen Panzer in den Hof und sagten, dass sie jetzt dort leben würden. Sie liefen rum, suchten Nazis. Aber fanden keinen einzigen. Sie töteten einfach normale Menschen.

Warum, glauben Sie, haben die Russen gezielt Wohnhäuser bombardiert?

Ich denke, sie haben das vorsätzlich gemacht, weil sie große Angst hatten, dass die Hausbewohner Molotowcocktails auf sie werfen würden. Ich habe gesehen, wie ihre Kolonne in den ersten Tagen zwischen den Häusern auf der Hauptstraße fuhr. Die Mündung des ersten Panzers war nach links gerichtet, die des nächsten in die andere Richtung. Hinter ihnen fuhren gepanzerte Fahrzeuge und beschossen die Häuser aus Maschinengewehren.

Ein Haus beschossen sie, weil ein Junge ein Bild von der russischen Kriegstechnik in Borodjanka ins Internet gestellt hatte. Sie identifizierten das Haus und beschossen es.

Dann kam ein Flugzeug. Es flog sehr tief, es dröhnte sehr stark. Wir standen da und verabschiedeten uns. In solchen Momenten versteht man, zehn Schritte nach links, zehn nach rechts – und man kommt um. Wir hofften nur noch auf Gott.

Wir sahen, wie die Bomben auf das Nachbarhaus fielen. Es fiel einfach vor unseren Augen zusammen, innerhalb von drei Sekunden war es nicht mehr da. Das war so grauenvoll, dass ich es gar nicht beschreiben kann.

Und da kommt dasselbe Flugzeug wieder, nur diesmal in eine andere Richtung. Und man steht wieder da, nimmt Abschied, das Haus bebt… Dann zerbombten sie das Haus 371. Das machten sie absichtlich, das war kein Zufall! Alle acht Häuser, die beschädigt wurden, wurden auf diese Weise zerstört.

Was wurde aus Ihrem Eigentum?

Meine Wohnung ist zerstört, die Wohnung meiner Tochter ist völlig ausgebrannt, das Auto ist zertrümmert, die Garage zerstört, alles ist zerstört. Wir sitzen auf der Straße, der einzige Trost ist, dass wir leben. Jetzt haben wir zu schätzen gelernt, dass wir wenigstens am Leben geblieben sind.

Haben die Russen geplündert und in den Wohnungen in ihrem Haus gelebt?

Ich bitte um Entschuldigung, aber als ich nach Hause zurückkehrte, sah ich eine schmutzige Toilettenschüssel. Meine Wäsche hatten sie mitgenommen, ihre schmutzige da gelassen. Der Größe nach war klar, dass es Menschen von kleiner Körpergröße waren, vielleicht Burjaten. Es gab viele Plünderungen. Im Nachbarhaus wohnten ihre Offiziere und gegenüber in einem Privathaus die Soldaten. Natürlich waren alle Türen der Häuser offen: Geh und mach, was du willst.

Meinem Mann haben sie Bauwerkzeug geraubt, viel Schuhe und Kleidung haben sie gestohlen. Sie haben Sachen mitgenommen, die unsere Leute nicht einmal interessieren.

Bekommen Sie vom Staat jetzt Unterstützung?

Nach der Rückkehr aus der Evakuation erhielten wird den Status VPO (vorübergehend umgesiedelte Person), weil wir unsere Wohnstätte verloren hatten. Wir haben die Formalitäten erledigt und bekommen jetzt monatlich 2.000 Hryvna [ca. 48 Euro]. Sie haben gesagt, dass ist vorübergehend, bis wir eine Unterkunft zur Verfügung gestellt bekommen.

Welche Gefühle hatten Sie, als Sie aus der Evakuierung nach Hause zurückgekehrt sind?

Die ersten vier Monate habe ich viel geweint. Mein Mann und ich kamen in die Wohnung und dachten, dass man dort wohnen könnte, wenn nur die Decke nicht zerstört und die Wände nicht eingestürzt wären. Und ich wollte noch sagen, dass die Orks nicht wissen, was die Ukrainer für fleißige Arbeiter sind. Wir werden alles wieder aufbauen, alles wird gut werden bei uns. Und unsere Soldaten werden alle Feinde besiegen. Ich wusste immer, dass der Sieg auf unserer Seite sein würde, dass die Krim unsere sein und alles unseres sein würde. Nur hätte nur nicht gedacht, dass es zu so einem Preis geschehen würde.

Hat sich Ihre Haltung den Russen gegenüber verändert?

Ich verstehe überhaupt nicht, wie die Welt sie erträgt. Es gibt doch einen Gott auf der Erde. Sie werden alles zurückbekommen. So kann man friedliche Menschen nicht schikanieren. Man darf keine Kinder vergewaltigen. Ich glaube, dass wir schon im Frühling siegen werden. Dass wir feiern werden, uns freuen und alles wieder aufbauen werden. Alles wird bei uns gut werden. Möge Gott uns beistehen!


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Ein Video-Interview mit Ninel Tschernyschenko finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

8. August 2023

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top