Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 30.5.2023 – 04.06.2023


Die Stadt spricht

Weiter unten Fotos aus verschiedenen russischen Städten, die im Telegram-Kanal des Journalisten Roman Super https://t.me/romasuperromasuper veröffentlicht wurden.

Aufkleber an Türen von Aufzügen: „Krieg ist …, wenn Christus auferstanden ist, aber er nicht.“ „Für Frieden“.

Auf der Bank: „Nein zum Krieg“. Aufkleber auf einer Autoscheibe: „#Ich bin für Frieden“.

Aufkleber: "Der Preis des Krieges - Zehntausende von Menschenleben. Bürger! Wegen des von der Russischen Föderation entfesselten Krieges wird jemand nie wieder dem Frühling begegnen, sich nie wieder verlieben, nie wieder ein Buch lesen ... Versteht doch! Blitzschnell ist jemand einfach gestorben, der Staat hat ihm das Leben genommen."

„Activatica“ berichtet von Anti-Kriegsflugblättern, die in Krasnodar aufgetaucht sind. Das Online-Medium schreibt, dass Aktivisten Flugblätter aufhängen mit den Überschriften „Putin lässt die Seinen immer im Stich“ und „Der Krieg begräbt unser Land“. In den Texten auf den Flugblättern heißt es, dass nur der sofortige Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine und Friedensverhandlungen das sinnlose Blutvergießen beenden können.

Einzelkundgebungen und Demonstrationen

Aleksej Dozorov, Abonnent des Telegram-Kanals von Roman Super, schreibt, dass er kürzlich beim Moskauer Halbmarathon in einem gelb-blauen T-Shirt gelaufen ist mit der Aufschrift: „Wenn du für Frieden bist, gib mir High-Five“. Hier sein Zitat: „Ich habe ein Meer vom Emotionen bekommen, Leute, die am Straßenrand standen oder mit entgegengelaufen sind, haben gelächelt und mir die Hand zum Abklatschen hingestreckt, nachdem sie die Aufschrift gelesen hatten. Ich habe ziemlich oft das Wort „Ja!“ gehört oder eine freundschaftliche Berührung an der Schulter gespürt, von denen, die mich überholt haben.“ Während des Laufs wurde Aleksej zweimal festgenommen, beim zweiten Mal, als er schon durchs Ziel gelaufen war, brachte man ihn auf die Polizeistation, ein Protokoll gegen ihn wurde nicht aufgenommen.


Am 30. Mai wurde am Puschkin-Denkmal Dmitrij Gluschkov mit einem Plakat mit der Aufschrift „Nein zum Krieg!“ festgenommen. Gegen ihn wurde ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Armee“ erstellt.


Am 1. Juni hielt in Jekaterinburg Anna Sajfutdinova eine Einzelkundgebung ab mit dem Plakat „Es kämpft – der Opa. Es sterben – die Kinder!“ Anna nimmt konsequent an Anti-Kriegsprotesten teil. Am 1. Mai zum Beispiel wurde sie wegen des Plakats „Frieden für die Welt“ festgenommen.


Am 2. Juni führte in Togliatti Jelena Vasiljeva eine Einzelkundgebung durch mit dem Plakat „1. Juni – Tag zum Schutz des Kindes. Nein zum Krieg!“, dabei ersetzte sie die Buchstaben „ой“ im russischen Wort für Krieg durch das Peace-Zeichen. Sie schrieb an die Redaktion von „Activatica“: „Ja, ihr könnt das Foto mit meinem Gesicht veröffentlichen. Ich heißte Vasiljeva Jelena. Ich bin Mutter eines Säuglings. Bei dieser schrecklichen Tragödie leiden und sterben Kinder. Das ist für mich ein großer Schmerz. Wir, erwachsene Menschen, müssen das beenden!“


In Kazan stellte sich eine Aktivistin am 1. Juni mit dem Plakat „Bring Kids Back UA“ an das Einkaufszentrum „Mega“.


Am 4. Juni gingen Marina Zagorodneva und Vitalij Ioffe in St. Petersburg mit gelb-blauen Luftballons in den Händen spazieren. Sie wurden festgenommen.


Am 4. Juni wurde in Lipezk ein Protokoll gegen Jelena Zjablova wegen „Diskreditierung der Armee“ erstellt, weil sie ein Plakat gehalten hatte mit der Aufschrift“ 466 Tage Grauen. Hört auf! Nein zum Krieg! Freiheit für politische Gefangene.“

In Moskau hielt am 4. Juni Artur Sikorskij ein Blatt Papier mit der Aufschrift „#STOP“ in der Hand. Er wurde festgenommen, gegen ihn wurde ein Protokoll wegen „wiederholter Verletzung des Versammlungsrechts“ aufgenommen. Nach dem entsprechenden Paragraphen droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 30 Tagen oder eine Geldstrafe von bis zu 300.000 Rubeln [19 monatliche Mindestlöhne].


Sabotage

Am 1. Juni tagsüber warf eine 52-jährige Bäckerin in der Stadt Insa im Gebiet Uljanovsk eine Flasche mit leichtentzündlicher Flüssigkeit auf den Boden eines Einberufungsamtes.

Verfolgungen

Am 31. Mai wurde in Rostov am Don Igor Paskar zu acht Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt, weil er im Juni 2022 in Krasnodar zwei Aktionen durchgeführt hatte. Dabei hatte er einen Molotov-Cocktail an ein Banner geworfen mit der Aufschrift „Z Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“ und einen zweiten an das FSB-Verwaltungsgebäude der Region Krasnodar. Er wurde festgenommen, und bei der Durchsuchung fand man Tuben mit gelber und blauer Farbe, die Paskar sich zum Zeichen des Protests gegen die Kampfhandlungen in der Ukraine ins Gesicht gemalt hatte. Wir zitieren aus den letzten Worten des Verurteilten vor Gericht:

„ … in der letzten Zeit konnte ich mich mit eigenen Augen von der herrschenden Ungerechtigkeit bei der Eroberung des Brudervolkes überzeugen – sowohl gegenüber den Kriegsgefangenen und Soldaten der Ukrainischen Armee als auch den einfachen Bürgern der Ukraine. Der Krieg, mit welchen Wortverbindungen er auch immer bezeichnet wird, ist in ihr Haus gekommen und hat ihren Alltag zerstört, und mit welchen Losungen und geopolitischen Interessen sie das auch immer verschleiern, für mich gibt es dafür keine Rechtfertigung ... . Ich möchte gerne eine Frage stellen: Was hat jeder von uns getan, um diesen Albtraum zu beenden?“

In Tomsk wurde der ehemalige Oberst der Miliz Viktor Lavrentev für schuldig befunden, „Falschmeldungen“ über den Krieg verbreitet zu haben und mit einer Geldstrafe von 1.000.000 Rubeln [63 monatliche Mindestlöhne] belegt, außerdem wurde ihm für ein Jahr verboten, in den Sozialen Netzwerken zu schreiben. Lavrentev veröffentlichte seit dem 24. Februar 2022 täglich Anti-Kriegsposts. Am 15. Mai 2022 kam die Polizei zu ihm nach Hause. Grund des Strafverfahrens wurde ein Post über die Zerstörung einer Geburtsklinik in Mariupol. Lavrentev hatte geschrieben, dass daran die Russische Armee beteiligt war. „Ich habe nicht einen dieser Bastarde gewählt, die heute den Krieg begonnen haben. Und ich bin heute mit dem ganzen Herzen bei der Ukraine. Aber die Scham über die eigene Schwäche verbrennt mir das Hirn (…) Wir bekommen genau das, was wir verdient haben. Verdient haben durch unsere Mutlosigkeit, Gleichgültigkeit und süßen Selbstbetrug“, heißt es in einem der Posts von Lavrentev bei Facebook.

Für die Aufschrift „Nein zum Krieg“ am Zentrum „Hilfe für die Front“ in Aleksandrov wurde Jekaterina Kartaschova zu 30.000 Rubeln [ca. 2 monatliche Mindestlöhne] wegen „Diskreditierung der Armee“ verurteilt.

Am 2. Juni wurde das Verfahren gegen Jurij Kochovez dem Gericht übergeben: Er wird wegen Aussagen über den Krieg bei einer Straßenumfrage von „Radio Svoboda“ verfolgt. Kochovez sagte unter anderem, dass Russland „Einkaufszentren bombardiert und in Butscha Zivilisten von unseren Soldaten aus Burjatien und Dagestan völlig grundlos erschossen wurden.“ In diesen Worten entdeckten die Ermittler „Falschmeldungen“ über den Krieg.

Anton Bliznezkij aus Tschita wurde zu neun Geldstrafen wegen „Diskreditierung der Armee“ verurteilt. Laut Urteilsbegründungen hatte er die russischen Soldaten und Beamten „Okkupanten, terroristische Okkupanten, verdammte Okkupanten, Verbrecher und Kriegsverbrecher“ genannt. Er hatte geschrieben, dass die Ukraine sich das ganze Territorium einschließlich der Krim zurückholen wird, hatte sich kritisch über „Z-Patrioten“ geäußert und ebenso eine Notiz über den vergünstigten Transport der Kinder von „Teilnehmern der Spezialoperation“ in öffentlichen Verkehrsmitteln kommentiert.

Online-Protest

Nach der Anzeige gegen eine 68-jährige Rentnerin aus Jugra aufgrund einer Mitteilung bei Viber, wurde diese wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln [2 monatliche Mindestlöhne] verurteilt. Die Eingabe bei der Staatsanwaltschaft gegen sie hatte ein Chat-Teilnehmer bei Viber geschrieben, wo die Frau sich emotional gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen und die Russische Föderation einen Eindringling genannt hatte.

Kriegsdienstverweigerung

Am 26. Mai wurden acht entflohene Mobilisierte zu Haftstrafen von bis zu 7 Jahren verurteilt. Sie waren im September im Gebiet Kaliningrad mobilisiert und im Gebiet Luhansk in der Ukraine stationiert worden. Bevor man sie im Dezember 2022 an die Front verlegen wollte, beschlossen sie, ihren Aufenthaltsort zu verlassen, um Leben und Gesundheit zu bewahren.

Kultur

In Krasnodar wurde ein Konzert von Diana Arbenina („Notschnye Snajperi“), das am 12. Juni hätte stattfinden sollen, abgesagt. Arbenina spricht sich gegen den Krieg in der Ukraine aus.

Sonstiges

Für den Aufkleber „beZumije“ [Wahnsinn; geschrieben mit Z anstelle des korrekten Buchstabens S] auf ihrem Auto erhielt Varlerija Uchova aus Nizhnij Novgorod eine Geldstrafe von 30.000 Rubeln [2 monatliche Mindestlöhne]. Nach Meinung des Gerichts „interpretiert“ der Aufkleber das Z-Symbol „negativ“, was die Armee diskreditiere und die Ziele und Aufgaben des Krieges in der Ukraine verzerre.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

22. Juli 2023

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top