Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 23.4.2023 – 29.04.2023


Gedenken an die Toten von Uman

Seit Beginn der russischen Invasion bringen die Menschen Blumen zu den Denkmälern ukrainischer Kulturschaffender und zu den Gedenkstätten für die Opfer von Repressionen als Zeichen der Trauer um ukrainische Zivilisten, die durch russischen Beschuss getötet wurden.

Als am Abend des 28. April, dem Tag eines massiven Raketenangriffs auf ukrainische Städte, bekannt wurde, dass beim Einschlag einer Rakete in ein Wohnhaus in Uman 23 Menschen ums Leben gekommen waren, organisierten Moskauer erneut eine spontane Gedenkfeier am Lesja-Ukrajinka-Denkmal. Später wurde Julia Petrova dort festgenommen, die ein Schild mit der Aufschrift "Ihr könnt die Blumen wegwerfen, aber aus der Erinnerung tilgen könnt ihr nichts".

 


Texte: „Uman. Dnipro“, „Ihr könnt die Blumen wegwerfen, aber aus der Erinnerung tilgen könnt ihr nichts", „Uman. Wir werden nicht vergessen.“

Ebenso entstanden nach dem 28. April spontane Mahnmale in Joschkar-Ola, Vologda und Izehvsk.

 
Text: „Uman. Dnipro. 24.04.2023.“


Kultur und Kunst

Gegen den Bandleader der Gruppe „Nestschastnij Slutschaj“ Aleksej Kortnev wurde ein Strafverfahren wegen „Beleidigung von Regierungsvertretern“ (Art. 319 StGB RF) eingeleitet, weil er den Sicherheitskräften den Mittelfinger gezeigt haben soll, als diese im Februar unter dem Vorwand der Rauchentwicklung im Nachbargebäude eines seiner Konzerte abbrachen. Kortnev spricht sich gegen den Krieg aus, seine Konzerte werden regelmäßig abgesagt.

In Russland wurden die letzten Aufführungen mit Lija Achedzhakova abgesagt, die am 26. sowie 27. April in Moskau im Theater der Nationen hätten stattfinden sollen, angeblich „aus technischen Gründen.“ Zuvor war das Theaterstück „Märchen über den letzten Engel“ des Regisseurs Andrej Mogutschij in St. Petersburg abgesagt worden, der Regisseur selbst wurde vom Posten des Künstlerischen Leiters im Bolschoj-Drama-Theater entlassen.

Die Erzählung „Pikalka“ von Leonid Kaganov hat den ersten Platz in der Kategorie „Web-Publikation“ des russischen Fantasie-Portals „Fantlab“ gewonnen. Jedoch fiel den Lesern auf, dass die Anfangsbuchstaben der ersten zwölf Zeilen der Erzählung die Worte „Слава Украинe“ [Slava Ukraine – Ruhm der Ukraine] bilden. Die User des Portals, die für die Erzählung Kaganovs gestimmt hatten, erhielten Mitteilungen der Verwaltung, mit der Aufforderung, ihre Wahl zu ändern, danach wurde die Möglichkeit, die Bewertung des Werks einzusehen und für es abzustimmen, entfernt, schließlich nahm man die Erzählung komplett aus der Liste der Preisträger heraus.

Das Malyj Dramatitscheskij Teatr in St. Petersburg hat die Aufführungen „Hamlet“ sowie „Kabale und Liebe“ mit dem Schauspieler Danila Kozlovskij um einen Monat verschoben. Mitte April hatte die Staatsanwaltschaft eine Überprüfung des Vorwurfs der „Diskreditierung der Armee“ durch den Schauspieler begonnen, der nach Kriegsbeginn in die USA geflohen war und zu Demonstrationen aufgerufen hatte.

Zwei Werke des Straßenkünstlers BFMTH sind in St. Petersburg und Moskau aufgetaucht.
St. Petersburg: „Wahlplakat“, Text: „Das Land ist groß. Es ist genug Erde für alle da.“ [Das russische Wort für Erde hier mit dem Zeichen Z als Anfangsbuchstabe geschrieben anstelle des korrekten Buchstabens S.]. Moskau: „Derzhavtschina“ (Wortspiel, Kombination aus derzhava - Staatsmacht - und rvatschina - Rost).


Das Ismajlovskij-Gericht in Moskau hat Konditorin Anastasija Tschernyscheva wegen Torten mit Anti-Kriegsaufschriften zu 35 000 Rubel Geldstrafe [2 monatliche Mindestlöhne] verurteilt. Tschernyscheva wurde der „Diskreditierung der Armee“ für schuldig befunden. Einen Tag zuvor waren Polizisten zu ihr nach Hause gekommen und hatten sie zur Polizeistation gebracht. Der Polizei waren die Konditorin und ihre Torten nach einer Veröffentlichung des Fernsehsenders „Zargrad“ aufgefallen.


Texte: „Fick' den Krieg“, „Nein zum Krieg“, „Die Sonne wird wieder aufgehen, das ist ja auch ein bisschen Feuer ...“ [Zeile aus einem Lied von Jurij Schevtschuk, Gruppe DDT], „Freiheit für Russland, Frieden der Ukraine.“


Strafrechtliche Verfolgung

Die Anklage wegen „Falschmeldungen“ gegen Jurij Kochovez, der im Sommer 2022 an einer Straßenumfrage von Radio Svoboda teilgenommen hatte, wurde verschärft. „Eine linguistische Expertise ergab“, dass Kochovez angeblich „aus politischem, ideologischem, rassischem, nationalem oder religiösem Hass oder Feindschaft Fälschungen über die Armee verbreitet hat.“ Ihm drohen nun bis zu 10 Jahren Gefängnis.

Ein Einwohner der Stadt Jekaterinburg hat einen elfjährigen Jungen, der eine Kopfbedeckung mit dem Buchstaben Z trug, als „Trottel“ bezeichnet und ihm gesagt, „Steck dir die Kappe in den Arsch.“ Dieser Moment wurde auf Video festgehalten. Am nächsten Tag nahmen OMON-Mitarbeiter den Mann fest und es tauchte ein Video auf, in dem der Mann sich vor der Kamera entschuldigt. Zunächst wurde gegen ihn wegen „geringfügigem Rowdytum“ ein Verwaltungsverfahren, später dann aber ein Strafverfahren eingeleitet. Ihm drohen bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug.

Sergej Vedel (Klokov), ehemaliger Techniker am Innenministerium, wurde schuldig gesprochen, „Falschmeldungen“ über die russischen Streitkräfte verbreitet zu haben. Ihm drohen sieben Jahre Lagerhaft. Das Gericht stufte ein Telefongespräch mit Freunden und Kollegen als öffentlich ein. Das Gespräch war von Sicherheitskräften abgehört worden, was laut Ermittlungsangaben ein „Gefühl der Alarmbereitschaft, Angst und Unsicherheit seitens des Staates“ hervorrief.

Die Rentnerin Marina Novikova aus Seversk, eine der ersten wegen „Falschmeldungen“ Angeklagten in der RF, wurde zu einer Geldstrafe von 1.000.000 Rubeln (62 monatliche Mindestlöhne) verurteilt. Zuvor hatte sie das Gericht gebeten, eine Haftstrafe gegen sie zu verhängen, weil sie eine Geldstrafe nicht begleichen kann. Der Prozess wurde ihr gemacht wegen Veröffentlichungen im Telegram-Kanal „Pravda goroda Severska“ [die Wahrheit der Stadt Seversk]. „Ich habe alles getan, was ich konnte, damit meine Mitbürger mich hören und die richtige Wahl treffen, indem sie sich auf die Seite des Guten und des Lichts stellen. Ich habe alles getan, was ich konnte, damit meine Enkelin sich nicht für ihre Großmutter schämen muss“, sagte Marina in ihrem Schlusswort vor Gericht.

Ein Gericht hat Andrej Kizevalter aus dem Gebiet Moskau in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, weil er in der Stadt Mozhajsk am Kulturzentrum ein Z-Banner mit Farbe übergossen hatte; er wurde des Vandalismus für schuldig befunden. Das Gericht erließ ihm seine Strafe, verfügte jedoch „die Zwangsbehandlung in einer medizinischen Einrichtung mit stationärer psychiatrischer Versorgung.“

Studenten einer medizinischen Hochschule im Gebiet Tver haben die russische Flagge angezündet, nun sucht die Polizei nach den Verdächtigen. Es wurde ein Strafverfahren wegen „Flaggenschändung“ eingeleitet.

Protokolle, Durchsuchungen, Festnahmen

Gegen den Leiter von Memorial Jekaterinburg Aleksej Mosin wurden zwei Protokolle wegen „Diskreditierung der Armee“ aufgenommen. Polizisten kamen früh morgens zu dem Historiker und brachten ihn zur Polizeistation. Anlass der Festnahme waren Veröffentlichungen über den Krieg in der Ukraine auf der Seite der Organisation: Zuvor hatte das „Orenburger Kosakenheer“ seinen Unmut darüber zum Ausdruck gebracht, dass dort die Wörter „Invasion“ und „Aggression“ im Zusammenhang mit dem Vorgehen Russlands verwendet wurden.

In St. Petersburg hielt Ilja Polezhajev eine Einzelkundgebung ab mit dem Plakat: „Bürger, fordern wir gemeinsam die Beendigung des Krieges, der uns alle in Gewalt ertränkt.“ Polizisten nahmen ihn fest, brachten ihn auf die Polizeistation und erstellten ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der RF.“

 

In Sotschi wurde gegen einen Einheimischen ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Armee“ erstellt, weil er in einem Chatroom diskutiert hatte: Er nannte den Krieg einen Krieg und zitierte zudem eine Untersuchung des FBK [von Navalnyj gegründete Stiftung für Korruptionsbekämpfung] darüber, wovor Putin Angst hat.

Zwei junge Leute aus Tula wurden zu 30.000 Rubel Geldstrafe [ca. 2 monatliche Mindestlöhne] wegen „Diskreditierung der Armee“ verurteilt, weil sie „Slava Ukraine“ gerufen hatten.

„Eine Welt ohne Krieg, Russland ohne Putin!“ Mit diesem Plakat wurde heute auf dem Nevskij-Prospekt in St. Petersburg Jelena Abramova festgenommen.

 

Eine Dozentin aus Krasnojarsk wurde „der Aufstachelung zum Hass“ für schuldig befunden wegen Reposts von der Website ihres Sohnes, der Russland verlassen hat. Wie aus der Verlautbarung auf der Homepage des Gerichts hervorgeht, steht das Verwaltungsverfahren gegen Kareva in Zusammenhang mit einer Überprüfung, die Sicherheitskräfte zuvor gegen ihren Sohn durchgeführt hatten.

In Naberezhnye Tschelny sind Jungens im Alter von 14, 15 und 18 Jahren festgenommen worden, weil man sie verdächtigt, einen Schaltschrank in Brand gesetzt zu haben. Gegen sie wurde ein Strafverfahren wegen „vorsätzlicher Sachbeschädigung“ und „Sabotage“ eingeleitet. Die 14- und 15-jährigen Schüler dürfen die Stadt nicht verlassen, der 18-jährige wurde verhaftet.

In Ufa wurde eine Gedenktafel für einen im Krieg umgekommenen Einwohner mit Farbe übergossen. Die Polizei versucht, die Täter zu ermitteln.

Gegen Aleksandr Rybalko wurde wegen eines Plakats mit den Worten „Mir“ [Frieden] ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ erstellt.

 

Mobilmachung

Ilja Beljajev aus dem Gebiet Leningrad, Mobilisierter der Militäreinheit 02511, wurde am 27. April in der Stadt Aleksejevka im Gebiet Belgorod in einer Schlucht aufgefunden. Nach Ermittlungsangaben beging er Selbstmord, indem er sich mit einer Granate in die Luft sprengte.

Seit Beginn der Mobilisierung bis Ende April 2023 sind bei den russischen Militärgerichten 1064 Fälle von militärischem Ungehorsam und Dienstverweigerung eingegangen. Mehr als 90 Prozent davon beziehen sich auf unerlaubtes Entfernen vom Dienst während der Mobilmachung. Die meisten dieser Verfahren enden mit einer Bewährungsstrafe, die Mobilisierten werden an die Front zurückgeschickt.

 

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