Endloses Putzen von Böden und Androhung von Vergewaltigung

Wie Mithäftlinge Druck ausüben

„Für ein separates Bett muss man fünf- bis zehntausend Rubel jeden Monat zahlen – das ist vergleichbar mit der Unterbringung in einem Hostel in der Innenstadt von St. Petersburg. Weigert man sich, wird man in den Magen oder auf den Nacken geschlagen. Auf das Gesäß oder die Fersen schlägt man seltener, das hinterlässt Spuren.“ So beschrieb 2018 Julij Bojarschinov, Angeklagter im Verfahren 'Set' [Netzwerk], seine Ankunft in der Petersburger Untersuchungshaftanstalt 6 'Gorelovo'. In seinem Bericht ist die Rede von Druck und Gewalt nicht von Seiten der Mitarbeiter der Untersuchungsanstalt: Das alles erledigen andere Häftlinge, die mit der Verwaltung zusammenarbeitenden 'Aktivisten'. Für diese gab es in den Zellen von 'Gorelovo' immer freie Schlafplätze, eine spezielle Person bereitete das Essen für sie zu, nur für sie gab es heißes Wasser in der Dusche, zwei von drei Toiletten waren für die 'Aktivisten' reserviert.

 „Wenn man einen Häftling beeinflussen will, beginnt man mit der Isolierzelle“, berichtet Denis Timochin, Mitarbeiter der Organisation 'Rus Sidjaschtschaja' [Sitzendes Russland], die Häftlingen hilft. „Man wird in eine besondere Zelle gebracht. Dort sitzen speziell geschulte Leute, die für irgendwelche Vergünstigungen durch die Verwaltung physischen und psychologischen Druck ausüben können. Zum Beispiel versuchen sie, durch Schläge oder Folter Geständnisse zu erzwingen oder, dass jemand gegen seine Komplizen aussagt.“ 

Mit der Macht der 'Aktivisten' in der Isolierzelle sind nicht nur politische Häftlinge konfrontiert, allerdings haben gewöhnliche Häftlinge manchmal wenigstens die Möglichkeit, sich frei zu kaufen. Dem politischen Häftling Bojarschinov erklärte man sofort, dass er die Sache nicht mit Geld lösen könne. Die ersten Monate zwang man ihn, ohne Unterlass die Böden fünfmal in der Stunde zu putzen. Den Gang ins Freie gestattete man nur ein paarmal im Monat. Man drohte mit Vergewaltigung. Nach jeder Beschwerde über die Haftbedingungen oder einem Antrag auf Verlegung in eine andere Zelle wurde Bojarschinov verprügelt. Einmal fragte man ihn, ob er mit FSB-Mitarbeitern sprechen würde, die am nächsten Tag kommen sollten. Bojarschinov antwortete, dass er bereit sei zu sprechen, jedoch nur in Anwesenheit eines Anwalts. Dafür zwangen ihn Mithäftlinge, 1000 Kniebeugen zu machen. „Nach einer solchen Anzahl an Kniebeugen lassen sich die Beine eine Woche lang kaum bewegen und es ist schwer zu gehen“, berichtet Bojarschinov. 

Die Situation des Verurteilten im Verfahren 'Set' ist keine Ausnahme. Gleich mehrere Angeklagte der 'Moskauer Prozesse' wurden in Untersuchungshaft mit Drohungen von Mithäftlingen konfrontiert. Maksim Martinzov, Jegor Lesnych, Andrej Barschaj und Valdimir Jemeljanov wurden eingeschüchtert, gezwungen, ihre Schuld einzugestehen und auf einen Anwalt zu verzichten. Druck und Schlägen waren ebenso Angeklagte des 'Verfahrens Inguschetien' ausgesetzt sowie des 'Verfahrens 26. März', außerdem der Journalist Aleksandr Dorogov, der Leiter von Memorial Karelien Jurij Dmitriev und weitere politische Gefangene. 

Überführung in „Folterhaftanstalt“ und permanente Kontrolle

Wie Sicherheitskräfte Druck ausüben

Julij Bojarschinov wurde sofort unter Druck gesetzt. Zehn Tage nach seiner Verhaftung kamen Mitarbeiter des FSB zu ihm. Sie nannten Namen weiterer Angeklagter des Verfahrens 'Set' und drohten, dass es „schlimmer würde“, wenn Bojarschinov nicht zum Gespräch bereit sei. Er lehnte ein Gespräch ab, zwei Wochen später brachte man ihn in die „Folterhaftanstalt“ Nr. 6 nach Gorelovo – jene, die berühmt für ihre 'Aktivisten' und 'Zwangszellen' ist. Danach kamen die FSB-Mitarbeiter noch einige Male zu dem Angeklagten, nach jeder weiteren Verweigerung eines informellen Austauschs verschlechterten sich seine Haftbedingungen.

Die Anwältin Svetlana Sidorkina verteidigt schon viele Jahre Angeklagte in politischen Verfahren. Nach ihren Aussagen seien Versuche, ein Schuldeingeständnis zu erhalten oder eine Zusammenarbeit zu erzwingen, die am häufigsten ausgeübte Form des Drucks auf ihre Mandanten. So wurde beispielsweise auch Asat Miftachov, verurteilt zu sechs Jahren wegen eines eingeschlagenen Bürofensters bei 'Edinaja Rossija', angeboten, ein informelles Gespräch zu führen. Wie Bojarschinov auch drohte man ihm mit Verschlechterung der Haftbedingungen. Zu einem anderen Mandanten Sidorkinas, zu Ruslan Kostylenkov, Angeklagter im Verfahren 'Novoe Velitschie' [Neue Größe], kamen dieselben Mitarbeiter in die Zelle, die ihn während der Durchsuchung verprügelt hatten. Sie forderten von Kostylenkov, auf seine Anwältin zu verzichten und ein Geständnis abzulegen.

Manchmal kommen die Sicherheitskräfte auch nach dem Urteil zu politischen Häftlingen. So geschehen im Fall von Denis Bacholdin, der vom Gericht als Mitglied der in Russland verbotenen ukrainischen nationalistischen Bewegung 'Pravyj Sektor' [Rechter Sektor] eingestuft wurde. FSB-Mitarbeiter kamen ins Lager und drohten Bacholdin mit einem schweren Leben nach seiner Freilassung, mit ständiger Überwachung und der Unmöglichkeit, das Land zu verlassen. Das sei eine ziemlich gängige Praxis gegenüber politischen Häftlingen, erklärt Sidorkina, zu praktisch allen Angeklagten des 'Bolotnaja Verfahrens' seien Sicherheitskräfte in die Lager gekommen. Nach Ansicht der Anwältin wollen die Behörden auf diese Weise zeigen, dass sie alle unter Kontrolle halten und die politischen Häftlinge selbst nach der Urteilsverhängung nicht in Ruhe lassen. 

Kälte, Folter und Straf-Isolierzelle

Wie die Gefängnisverwaltung Druck ausübt 

Im Verlauf der Einsichtnahme in die Akten des Verfahrens berichteten gleich mehrere Angeklagte im Prozess 'Set' in Penza von Druck, den die Verwaltung der Untersuchungshaftanstalt ausübte. Zu Ilja Schakurskij und Maksim Ivankin kam der Leiter der Haftanstalt und fragte, wie schnell sie sich mit dem Material vertraut machen würden. Unmittelbar danach brachte man Ivankin in die Strafzelle. Schakurskij konnte dies dank einer Erklärung gegenüber der Staatsanwaltschaft der Oblast Penza vermeiden.

Dem im Rahmen der 'Bolotnaja Prozesse' verurteilten Sergej Krivov entzog man im Lager praktisch das Recht auf Briefverkehr: Mehrere Monate gingen Briefe nicht heraus und kamen nicht an. Wie Krivov seinem Anwalt mitteilte, gab es auch bei anderen Häftlingen mitunter Probleme mit dem Erhalt von Briefen, allerdings nicht in diesem Umfang. Nach Auskunft von Denis Timochin ('Rus Sidjaschtschaja') sind die Möglichkeiten der Verwaltung der Einrichtungen praktisch unbegrenzt: Die Verurteilten können täglich in verschiedene Zellen gebracht, durch Kälte gefoltert und verprügelt werden. „Es gibt eine Vielzahl an Optionen“, berichtet der Menschenrechtler. „Der Mensch wird 'bearbeitet', zu Gesprächen mit den Sicherheitskräften gebracht. Und Stück für Stück erreichen sie, was sie wollen.“

Der für einen Repost verurteilte Nationalist Dmitrij Demuschkin kam nach seinem Urteil in das Straflager bei Pokrov, wo man ihn in eine Baracke mit verschärften Bedingungen steckte. „Wenn sich jemand sehr schuldig gemacht hatte, dann saß der da drei Wochen. Ich saß acht Monate dort. Von 105 Kilogramm Gewicht fiel ich auf 60. Fernsehleute wollten mit mir einige Aufnahmen machen. Als sie ankamen, sahen sie mich und weigerten sich zu filmen. Sicherheitskräfte aus Moskau sagten zu denen aus Vladimir: „Was macht ihr mit dem? Den kann man den Leuten ja noch nicht mal zeigen!“, berichtet Demuschkin.

Wie Darja Kostromina (Mitarbeiterin des Programms zur Unterstützung politischer Gefangener beim Menschenrechtszentrum Memorial) darlegt, ist die Unterbringung unter strengen Haftbedingungen eine der Hauptarten, einen Menschen nach dem Urteil zu unterdrücken. So kann man mit Hilfe der Straf-Isolierzelle dem Häftling auf einen Schlag Besuche, Telefongespräche, Pakete, Briefe, persönliche Dinge und eigene Lebensmittel entziehen. „Das ist das bequemste Mittel in den Händen der Verwaltung“, erklärt die Menschenrechtlerin. „Von der formalen Seite her ist es gewissermaßen legitim. Der Verwaltung droht dadurch nichts und öffentliche Empörung wird so wesentlich weniger hervorgerufen als bei physischer Gewalt.“ Berichte über diese können wie im Fall von Ildar Dadin, der von Folterungen im Lager in Karelien berichtete oder von Ivan Nepomnjaschtschich (Verurteilter im 'Bolotnaja-Verfahren), der im berühmt-berüchtigten Folterlager IK-1 Jaroslavl verprügelt wurde, unterschiedliche Folgen haben: Während Dadin die Veröffentlichung half, auf freien Fuß zu kommen, wurden die Haftbedingungen bei Nepomnjaschtschich nach seinem Bericht verschärft.

Neue Strafverfahren und Kieferspreizer

Wie man Verteidigungsversuchen begegnet 

Sergej Krivov ('Bolotnaja-Verfahren') gelang es, durch Einmischung seiner Anwältin sein Recht auf Briefverkehr wiederherzustellen. Aufgrund seiner Anzeige führten Staatsanwaltschaft und der Strafvollzugsbehörde FSIN sogar eine Überprüfung des Lagers durch, nach der dem Verurteilten jedoch Probleme anderer Art entstanden – er erhielt nun Drohungen von der Leitung der Einrichtung. „Nachdem sie gesehen hatten, wofür er verurteilt worden war, sagen sie ihm: Wir können dir einfach ein neues Verfahren wegen Angriffs auf einen Mitarbeiter der Vollzugsanstalt anhängen“, erzählt seine Anwältin Irina Birjukova. Krivov setzte die Beschwerden über alle Drohungen fort und genau das half ihm: Nach Ansicht seiner Anwältin ließ man von ihm ab, als man verstand, dass er Verteidiger und Unterstützung hat und er nicht aufhören würde, egal wie man ihn bedrohe.

Neue Strafverfahren werden gegen politische Gefangene nicht oft erhoben, aber es kommt vor“, so Darja Kostromina. „Das können sehr grausame Strafen sein, und dabei hat die Verwaltung die Wahl unter gleich mehreren 'wunderbaren' Optionen: Angriff auf einen Lagermitarbeiter oder die Behauptung einiger abhängiger Häftlinge, der Verurteilte habe Terrorismus propagiert.“ Am häufigsten verschlechtert die Verwaltung einfach die Haftbedingungen als Antwort auf die Beschwerden von Gefangenen. So beklagte sich beispielsweise Stanislav Kalinitschenko, Blogger aus Kemerovo, beim Staatsanwalt und beim Menschenrechtskommissar über die Androhung körperlicher Gewalt durch Mitarbeiter der Untersuchungshaftanstalt. Drei Tage später brachte man ihn in eine andere Zelle – einen feuchten und kalten Keller mit niedrigen Decken und Insekten ohne Toilettenpapier und heißes Wasser.

Denjenigen, die einen Hungerstreik durchführen, droht man mit Zwangsernährung. In russischen Untersuchungsanstalten und Lagern ist diese Prozedur mit Folter vergleichbar: Die Gefangenen werden mit Handschellen an ihre Betten gefesselt, man verpasst ihnen einen Kieferspreizer und führt trotz Widerstands gewaltsam eine spezielle Sonde in die Speiseröhre ein. Eduard Malyschevkij, Verurteilter im Rahmen der 'Moskauer Prozesse', wurde während seines Hungerstreiks mit rektaler Zwangsernährung gedroht. Zudem hagelt es Beschwerden über ihn: Mal habe er angeblich Mithäftlinge nicht entsprechend gegrüßt, mal der Wache unkorrekt Bericht erstattet. 

Unterstützung, Beschwerden, Medienpräsenz

Was hilft, Unterdrückung zu vermeiden

Denis Timochin von 'Rus Sidjaschtschaja' arbeitet in erster Linie mit gewöhnlichen Häftlingen, die keine Unterstützung, keine Medienpräsenz oder keinen nicht-staatlichen Anwalt haben. Das alles kann es bei politischen Gefangenen natürlich auch geben, Darja Kostromina berichtet von vielen Personen, die wegen ihrer religiösen Überzeugungen inhaftiert und bei Memorial verzeichnet sind, von denen ausschließlich Menschenrechtler und Verwandte wissen. Kostromina ist der Auffassung, dass Unterstützung einen großen Einfluss hat, dabei gehe es nicht um öffentliche Aktionen oder Artikel in den Medien, manchmal helfe sogar die Aufmerksamkeit Angehöriger, wie im Falle von zwei Verurteilten im Verfahren 'Hizb ut-Tahrir'. Beide waren schon um die hundert Stunden in einer Straf-Isolierzelle, aber nach einer Reihe von Anfragen und Anrufen Verwandter, Briefen und dem Besuch eines Anwalts lässt man sie schon seit mehr als einem halben Jahr in Ruhe. Die Aktivistin merkt weiter an, dass dies in völlig abgelegenen Lagern nicht funktioniert oder auch dann nicht, wenn ein Häftling auf einer speziellen Liste steht. Im Falle des ukrainischen politischen Gefangenen Aleksandr Schumkov gab es einen guten Anwalt, die permanente Aufmerksamkeit der Familie, eine Beteiligung ukrainischer Diplomaten, so etwas könne den Druck aber lediglich mildern und nicht beenden, so Kostromina.

Von öffentlicher Unterstützung spricht auch Olga Krivonos, die Anwältin von Julij Bojarschinov, dessen Bericht über den Alltag in 'Gorelovo' Aufsehen erregte. Bojarschinovs Verteidigung wandte sich an das Gericht mit der Forderung, die Haftbedingungen als ungesetzlich anzuerkennen. Nach vier Monaten überführte man ihn in eine andere Haftanstalt, als offiziellen Grund wurde angegeben,, dass nach einer Renovierung in einer anderen Anstalt Plätze frei geworden seien. Krivonos schließt diese Version nicht aus, glaubt aber, dass die öffentliche Aufmerksamkeit ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Bei Gewalt von Seiten der FSIN-Mitarbeiter sei es schwieriger, irgendeine Reaktion zu erreichen, sagt Denis Timochin: Um ein Strafverfahren gegen einen Mitarbeiter einzuleiten, bedürfe es unstrittiger Beweise in der Art von Videoaufzeichnungen wie im Fall der Folterungen im Lager von Jaroslavl. Bekannt sei jedoch nur die sporadische Einleitung von Strafverfahren gegen Lagermitarbeiter.

Alle befragten Menschenrechtsaktivisten bemerken, dass die Entscheidung über die Verteidigung der eigenen Rechte vom Häftling selbst getroffen werden muss. „Keinesfalls kann ich die Verantwortung dafür übernehmen, einem Verurteilten, auf den Druck ausgeübt wird, zu sagen, wie er sich zu verhalten habe“, sagt Darja Kostromina. „Wir können ja nur an alle appellieren, bis zum Schluss durchzuhalten. Aber einsitzen, ihre Gesundheit und eine erneute Haftstrafe riskieren, hungern, verrückt werden, weil sie ewig in der Strafzelle sitzen – das müssen sie selbst.“

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

Juli/November 2021 

 

Quelle (leicht gekürzt):

https://ovdinfo.org/articles/2021/07/01/osobye-usloviya-kak-na-politzaklyuchennyh-davyat-v-sizo-i-koloniyah

 

 

 

 

 

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