Bei den Demonstrationen seit der Verhaftung Navalnyjs sind mittlerweile mehr als 11.000 Personen verhaftet worden, zum derzeitigen Zeitpunkt wurden nach Angaben von OVD-Info gegen mindestens 27 Personen Verfahren eingeleitet wegen Gewalt gegen Staatsvertreter, mehrfachem Verstoß gegen das Versammlungsrecht, Vandalismus, Massenunruhen, Aufruf zu extremistischen Aktionen, Rowdytum sowie Verstoß gegen Hygiene- und epidemiologische Auflagen. Junge Aktivisten erzählen „7x7“, wie die Gerichtsverfahren ihre zivilgesellschaftliche Haltung beeinflusst haben.

 

Irina Schumilova, Studentin an der Staatlichen Universität von Kostroma und Aktivistin beim „Linken Block“

 

Wurde zu einer Geldstrafe von 20.000 Rubeln (ca. 220 Euro) verurteilt wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration und der daraus resultierenden Behinderung lebenswichtigerer Einrichtungen, des Verkehrs oder der sozialen Infrastruktur (Art. 20.2 Ordnungsstrafrecht RF Teil 6.1). Verbrachte vor der Verurteilung zwei Tage in Haft. 

Man kann schon an nicht genehmigten Demonstrationen teilnehmen, aber nur nicht zu oft, sonst handelt man sich den „Dadin-Paragraphen“ ein. Man muss sich merken, dass friedliche Proteste das Regime nicht verändern. Sie eignen sich, um neue Mitstreiter zu finden, aber deswegen ins Gefängnis zu gehen, lohnt sich nicht. Das haben wir am Beispiel von Belarus, Venezuela und anderen Staaten gesehen. Ich werde weiter zu Demonstrationen gehen, aber vorsichtig. Und auch nicht zu allen, Oppositionelle braucht es auch in Freiheit. Das Gerichtsurteil gegen Navalnyj ist natürlich Willkür. Die Regierung Putin hat panische Angst vor jeglichen Konkurrenten und schützt den politischen Raum mit allen nur möglichen Mitteln.

 

Tatjana Sizova, Aktivistin im Navalnyj-Stab in Belgorod 

Zu drei Tagen Haft für zwei Mitteilungen im Telegram-Chat nach Art. 20.2. Teil 2 Ordnungsstrafrecht verurteilt (Organisation oder Durchführung öffentlicher Veranstaltungen ohne ordnungsgemäß die Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung beantragt zu haben.

Ich denke, dass Demonstrieren ein legitimes Menschenrecht ist. Jeder hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob er ein Risiko eingeht oder nicht. Aber wenn man nur da sitzt und nichts tut, wird sich kaum etwas ändern. Meine Ansichten haben sich nicht verändert. Ich weiß, das ich nicht verhaftet wurde, weil ich gegen etwas verstoßen habe, sondern einfach nur um einzuschüchtern. Ich werde diejenigen Menschen, die versuchen unser Leben zum Besseren zu wenden, unterstützen. Man darf zu Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit nicht schweigen! Die Umwandlung der Bewährungsstrafe von Navalnyj in eine reale Haftstrafe halte ich für die höchste Manifestation von Ungerechtigkeit und Unterordnung der Gerichte unter das Regime. Das Verfahren „Yves Rocher“ wurde von EGMR (Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) als fabriziert anerkannt, was heißt, dass es dafür keine Strafe geben darf! Die Behörden setzen alle Kräfte ein, um dem Protest zu verschlingen und heizen ihn damit selbst an.

 

Aleksandr Bogomaz, Abgeordneter der ländlichen Siedlung Stabenskoe in der Oblast Smolensk

Angeklagt nach Art. 20.2 Teil 5 Ordnungsstrafrecht (Verstoß gegen das Versammlungsrecht . Erwartet eine Abänderung der Strafanzeige oder ein Verfahren.

Seine Meinung zu Fragen des gesellschaftlich-politischen Lebens auf friedlichen öffentlichen Versammlungen zu äußeren ist ein unveräußerliches Bürgerrecht. Und alle Versuche unseres Staates, dieses Recht unter verschiedenen Vorwänden einzuschränken sind absolut ungesetzlich. Was das Urteil gegen Navalnyj betrifft, so ist das eine demonstrative Missachtung der Normen des Rechtssystems Russlands, ein Akt politischen Terrors. Eine weitere Bestätigung, dass es  in Russland einfach keine Rechtsprechung gibt.

Die wichtigste Veränderung nach dem Urteil ist, dass Navalnyj zum führenden Oppositionellen in Russland geworden ist, und zwar nicht nur für die Bürger Russlands, sondern für die ganze Welt. Und sein wichtigster Gegner, Präsident Putin, ist in eine sehr unangenehme Situation geraten und gezwungen, der von Navalynj diktierten Agenda zu folgen.

 

Vitalij Ivanischtschev, Blogger, Aktivist aus Voronezh, Mitglied der Territorialwahlkommission des Stadtbezirks Sowjetskij 

Angeklagt wegen Verletzung des Versammlungsrechts (Art. 20.2 Teil 5 Ordnungsstrafrecht RF),  das Gerichtsverfahren soll am 16. Februar stattfinden. Die Polizei verhaftete ihn am 31. Januar, als er die Demonstrationen auf Video aufnahm. 

Wir sind in eine neue Realität eingetreten. Die Gesellschaft wird nicht mehr dieselbe sein wie in den letzten fünf, sechs Jahren. Ob es besser oder schlechter wird, weiß ich nicht, aber es wird anders werden, das ist klar. Das Urteil gegen Navalnyj ist der Zusammenbruch sämtlicher Rechtsnormen in unserem Land. Der einstmals angesehene Beruf des Anwalts ist einfach unnötig, die Dinge werden jetzt nicht juristisch gelöst, sondern nach dem Recht der Macht. Dabei habe ich an Navalnyj selbst auch viele Fragen. Ich bin nicht bereit, auf die Straße zu gehen, um für Navalnyj Losungen zu skandieren, wohl aber dafür, um als unabhängiger Blogger die Situation auf den Straßen unvoreingenommen zu zeigen.

 

Vadim Gurjanov, Aktivist aus Jaroslavl

Angeklagt wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungsrechts (Art. 20.2 Teil 5 Ordnungsstrafrecht RF), wartet auf seinen Prozess. Wurde bei der Demonstration von den Sicherheitskräften geschlagen.

Seine Meinung auf eine für die Menschen gefahrlose Weise zum Ausdruck bringen, ist unter unseren heutigen Bedingungen fast unmöglich, aber die Organisatoren jeglicher Meetings oder Demonstrationen müssen sich um die Sicherheit der Teilnehmenden kümmern, sie dürfen sie nicht unnötig den Schlagstöcken aussetzen und versuchen, das staatliche System dafür zu nutzen. Ich weiß, dass die Organisatoren in manchen Regionen bei den Behörden nicht einmal eine Genehmigung beantragt haben, als es diese Möglichkeit gab. Es ist wichtig zu wissen, dass es auch bei einer genehmigten Demonstration hart hergehen kann, aber das Risiko ist trotzdem geringer.

Was die Situation mit Navalnyj angeht, habe ich zweierlei Meinungen. Diese ganze Geschichte, angefangen mit der Vergiftung, sieht nach einem äußerst billigen Szenario aus, bei dem Navalnyj selbst mitmacht. Das Urteil ist natürlich völlig unangemessen, die Regierung hat ihm überflüssiger Weise die Unterstützung des Volkes zugeschanzt. Noch nicht einmal normal einlochen können sie. Das wird das Erscheinen neuer, junger Menschen in der Politik provozieren, die spüren, dass ihre Zeit gekommen ist, um das Land zum Wohle ihrer Mitbürger besser zu machen.

 

Sabir Safarov, Mitarbeiter in einem Computerladen in Pensa

Wegen Verletzung des Versammlungsrechts (Art. 20.2 Teil 5 Ordnungsstrafrecht RF) zu einer Geldstrafe von 19.000 Rubeln verurteilt, eine Strafanklage wegen Hineinziehen eines Minderjährigen in eine Straftat (Art. 151 StGB RF) wurde angekündigt.

Meine Meinung zur Teilnahme an Aktionen hat sich nicht geändert und konnte sich auch nicht ändern. Trotz allen Schwierigkeiten und allen Knüppeln, die man uns zwischen die Beine wirft, ist es nötig, weiter zu machen. Das Urteil gegen Navalnyj ist ein Urteil gegen den gesunden Menschenverstand, gegen Rechtmäßigkeit und gegen jegliche Hoffnungen auf schnelle Veränderungen, sofern noch irgendjemand Hoffnungen hatte.

 

Vladimir Zhilinskij, Koordinator der Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ in Pskov 

Wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration (Art. 20.2 Teil 5 Ordnungsstrafrecht RF) zu einer Geldstrafe von 15.000 Rubeln verurteilt.

Wenn man unmittelbar mit dem System konfrontiert wird, bekommt man die Möglichkeit, es sehr genau anzusehen, den Major, der nicht mal in der Lage ist, die Leute dem Gesetz gemäß zu verhaften, den OMON-Mitarbeiter, der die Festgenommenen ohne ausgefüllten Bericht auf die Polizeiwache zerrt, den Ermittler, der kein fehlerfreies Protokoll schreiben kann und den Richter, der die Anhörung heimlich durchführt, ohne Anwalt, Staatsanwalt und Angeklagten. Ich glaube, dass selbst der Richter bei diesen Verfahren schon nicht mehr gebraucht wird. Das ist es, was wir alle auf dieser erschrockenen, verbitterten und ungebildeten Seite sehen. Und auf der anderen Seite: normale Menschen, die normal leben wollen und bereit sind, dafür etwas zu tun.

Die Wahl ist absolut einfach und schwarz-weiß – entweder gut oder böse. Ich habe noch keinen Einzigen gesehen, der gesagt hat: „Sie haben mir eine Strafe aufgebrummt, ich werde nirgends mehr hingehen.“ Das läuft genau andersherum: Die Leute spüren die offensichtliche Ungerechtigkeit und gehen los, um dagegen zu kämpfen, so sind sie gemacht. Die einzigen, die einem in der ganzen Geschichte leid tun können, sind die Rentner, deren Strafzahlungen höher sind als ihre Renten. Bei den Demonstrationen gab es gemessen an der Geschichte des Staates eine Rekordzahl an Verhaftungen. Wenn die Regierung die Zivilgesellschaft aufwecken, ihr einen Grund liefern und sie mit einem ausreichenden Maß an horizontalen Kontakten versorgen wollte, dann ist ihr das gelungen.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

6./13. Februar 2021 

 

 

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