Brief aus der Haft von Sergej Surovzev

 

Sergej Surovzev wurde im Rahmen der Moskauer Prozesse wegen angeblicher Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (§ 318.1 StGB RF) zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Sommer 2019 hatte er sich an Protesten beteiligt, nach Angaben der Ermittler dabei eine Metallabsperrung angehoben und dadurch eine Sicherheitskraft verletzt. Surovzev bestreitet den Vorwurf, sein Berufungsverfahren wurde zurückgewiesen. OVD-Info veröffentlicht auf seine Bitte einen Brief von ihm aus der Haft. Wir bringen den Brief leicht gekürzt in Übersetzung.

 

Als ich ins Gefängnis kam, brach die Welt um mich herum zusammen. Mag es meine kleine Welt gewesen sein, bestehend zum größten Teil aus einsamen Tätigkeiten und ohne viel soziale Interaktion: Computer, Klavier, Gitarre und Sport, aber so leben viele begeisterte Programmierer und Wissenschaftler, wenn sie an irgendeinem Projekt arbeiten. In diesen Momenten, die Wochen oder Monate anhalten können, geben wir uns vollkommen der Aufgabe hin, und wenn wir unser Ziel erreicht haben, gestatten wir uns eine Ablenkung.

Meine Aufgaben in der letzten Zeit waren Programme, die mit der modernen Künstlichen Intelligenz zusammenhängen. Das allerletzte und nicht fertig gestellte war ein autonomer Raupen-Roboter mit Sonde. Er sollte sich selbst einen Weg durch die Wohnung bahnen, die Katze Tifa suchen und sie mit Fangarmen greifen. Das könnte als eine unseriöse Sache erscheinen, aber das ist eben der Rover Curiosity in kleinerem Maßstab. Ich machte den Roboter komplett nach den Verfahren der NASA. Zuerst musste eine digitale Modell-Kopie des Roboters gemacht, im virtuellen Raum trainiert und dann seine virtuelle Erfahrung in die Wirklichkeit übertragen werden. Von September bis Ende November also studierte ich alle möglichen Informationen und beschäftigte mich mit dem Roboter. Ich plante, im Dezember 2019 mit diesem Projekt an einem Postgraduiertenprogramm im Bereich „Robotertechnik“ teilzunehmen.

Am verschneiten Morgen des 28. November 2019 klingelte es an der Tür. Ich fragte, wer da sein und auf der anderen Seite der Tür antwortete man: „Aufmachen, Polizei.“ Ich war noch nicht richtig wach und dachte, wahrscheinlich ist im Hauseingang irgendetwas passiert und dass sicher niemand zu mir will. Ich öffnete die Tür und in diesem Moment brach meine Welt zusammen - die Welt, in der ich mich die letzten Monate aufgehalten hatte mit der alltäglichen Routine des Lesens wissenschaftlicher Texte und Programmierung. Ich wurde verhaftet, kam zuerst in eine Arrestzelle, dann in Untersuchungshaft und ins Besserungslager, weil ich einige Monate zuvor an oppositionellen Meetings teilgenommen hatte.

Die erste Zeit konnte ich mich nicht daran gewöhnen, morgens in der Zelle die Augen zu öffnen und sämtliche Attribute des Gefängnisalltags zu betrachten, das Gefängnisbett, die grünen Wände, ein Tisch und eine Toilette, die von Vorhängen in der Ecke der Zelle verdeckt wurde: Herzlich Willkommen in der wunderbaren neuen Welt.

Als der erste Schock vorbei war, begann ich darüber nachzudenken, was ich unternehmen könnte. In die Untersuchungshaftzelle/Arrestzelle bringt man die Leute für zehn Tage bis in der ersten Verhandlung entschieden wird, ob man in Haft oder nur in den Hausarrest muss.. Manchmal lässt man die Anklage fallen, zum Beispiel wenn sie aus Versehen erhoben wurde. Im Verlauf dieser Zeit empfindet man neben dem Schock noch Ungewissheit zusammen mit der trügerischen Hoffnung auf einen Hausarrest. Der Sinn besteht darin, dass man dir Zeit gibt, dich auf die Verhandlung vorzubereiten, auf einen konstruktiven Dialog mit der Verteidigung und der Anklage. In meinem Fall wurde die Untersuchungshaft bis zum Prozess verhängt und ich ins Untersuchungsgefängnis überführt.

Dann beginnt die zweite Etappe: Die anfängliche Hoffnung auf einen Hausarrest oder auf Aufhebung der Anklage zerschlägt sich, die Anklage kristallisiert sich heraus und man findet sich in der Gefängniszelle mit anderen, für gewöhnlich fünf bis zehn Menschen wieder, und das nächste Datum, das Datum des eigentlichen Verfahrens ist unbekannt. Manchmal warten die Menschen auf den Prozess Monate, Wochen und einige auch Jahre. Diese ganze Zeit bleiben sie in vier Wänden mit ein und denselben Leuten eingesperrt und arbeiten mit ihren Anwälten und Juristen. Versuchen Sie einmal für 24 Stunden in einem Raum zu sitzen, prägen sich Ihren Zustand ein und multiplizieren diesen dann mit 100. Das ist es, was ein Mensch im Untersuchungsgefängnis empfindet.

Die Suche nach Sinn in dieser Situation bestand für mich im Aufbau einer Schutzstrategie und in den Versuchen, die Erinnerungen an mein vorheriges Leben aus meinem Kopf zu bekommen. Noch vor etwa 20 Tagen war ich mit Programmieren und Musik beschäftigt, und jetzt waren um mich herum Pritschen, Etagenbetten und die Aussicht auf Verhandlungen und das Lager. Wahrscheinlich hat jeder eine feste Tagesordnung, nach der er lebt. Wenn man diese Ordnung in Blöcke teilt – Arbeit, Familie, Studium, Herzensangelegenheiten und Kultur – und daran denkt, wie man sie alle wöchentlich wenigstens um 5 Prozent verbessert, dann kann man vom Leben echte Befriedigung bekommen. Jeder setzt sich wahrscheinlich zum Neuen Jahr Ziele: Neues lernen, in Form kommen, das Verhältnis zu seiner Freundin verbessern. Viele, die diese Zielsetzung anwenden, erreichen das Gewünschte. Im Gefängnis scheint das sinnlos zu sein, aber tatsächlich zeigt sich, dass es sich lohnt, genau in diesen einfachen Dingen Sinn zu finden. Ich unterteilte meinen Tag in vier Blöcke, in jedem beschäftigte ich mich mit einer der oben genannten Sachen.

Es kam die Verhandlung und meine Hoffnungen auf Freispruch erwiesen sich als trügerisch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Glauben in meine Möglichkeiten der Sinngebung so gut wie verloren. Vor mir lag das Lager und die zur Verteidigung unternommenen Anstrengungen waren umsonst/erwiesen sich als vergeblich. In der Psychologie gibt es Begriff der „Erlernten Hilflosigkeit“, der Glaube daran, dass von deinen Handlungen nichts abhängt. Nach der Welt der Computer und der Programmierungen, wo von deinen Anstrengungen alles abhängt, fühlt man den Kontrast besonders scharf. Ich ließ die Hände sinken, lag Tage lang nur herum und schaute an die Decke. Ich konnte keinen anderen Sinn finden, als einfach nur zu warten. Und dann begann ich viel zu lesen, vor allem russische Klassiker. Eine bestimmte Periode der russischen Literatur ist durch und durch von dieser dichten Atmosphäre durchtränkt: Dostoevskijs „Schuld und Sühne“, Tolstojs „Auferstehung“.

Ganz langsam fand ich wieder Sinn und kehrte zu meinem vorherigen Tagesablauf zurück. Nach sechs Monaten kam ich ins Lager, wo der Modus dem in Freiheit etwas mehr ähnelt. Man ist nicht mehr 24 Stunden am Tag in vier Wänden und ist von dutzenden oder hunderten Menschen umgeben. Und weil der Mensch ein soziales Wesen ist, findet er einen Sinn darin, Teil der Gemeinschaft zu sein.

Die Gemeinschaft des Gefängnisses oder Lagers unterscheidet sich von der in Freiheit, aber ich werde das nicht wiederholen, über dieses Thema ist schon viel geschrieben worden. Ohne Computer und Internet tauchte ich, von Technik abgeschnitten, in die Welt der Menschen und fand Gesetzmäßigkeiten und Parallelen zwischen dem humanitären Blick auf die Dinge und dem wissenschaftlich-technischen. Ich bewahre mir immer doch mein Ziel, nach meiner Rückkehr das Roboter-Projekt zu Ende zu bauen, umso mehr als das in der letzten Zeit für die Industrie immer interessanter wird. Yandex hat seinen Lieferroboter Ende 2019 vorgestellt und in Kalifornien sind eine ganze Welle von Firmen entstanden, die Business-Roboter machen.

Meine Hoffnungen auf eine Postgraduiertenprogramm werden sich wohl eher zerschlagen, Verurteilte werden nicht genommen. Im technologischen Unternehmertum gibt es den Begriff „Pivot“. Das ist eine scharfe Wendung in einer Sache, wenn sich anfängliche Annahmen nicht bestätigen. Und ein solcher „Pivot“ steht mir jetzt auch bevor.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

28. Januar 2021/18. Dezember 2020 

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