Interview mit Alexander Daniel

 

Vor einiger Zeit erschien das nachstehende Interview mit Alexander Daniel, einem der „Memorialer“ der ersten Stunde, dem Sohn von Larissa Bogoraz und Julij Daniel.

Wir bringen das Interview mit minimalen Kürzungen in Übersetzung.

 

Aus der Biographie Ihrer Mutter, der bekannten Menschenrechtlerin, habe ich erfahren, dass Ihr Großvater ein Cousin von Vladimir Germanovitsch Tan-Bogoraz war, einem Volkstümler und Revolutionär, der zugleich ein renommierter Anthropologe und Ethnologe der Völker des hohen Nordens war.

 

Ich konnte den Verwandtschaftsgrad mit Tan-Bogoraz nie herausfinden, klar ist aber, dass er doch ziemlich entfernt ist. Entweder war er ein Onkel dritten Grades oder ein Cousin dritten Grades meines Großvaters. Nach Erzählungen meines Großvaters haben sich die beiden nie gesehen. Alle Mitglieder der Familie Bogoraz stammen aus der Stadt Ovrutsch [Kleinstadt in der Ukraine]. Nach der Familienüberlieferung war das eine weitverzweigte jüdische Sippe, die sich in zwei Zweige teilte: die reiche Familie Bogoraz und die arme Familie Bogoraz. Mein Großvater gehörte zu der armen, Vladimir Germanovitsch aber zu der reichen und er war ein Konvertit, das ist bekannt. Aber wenig bekannt ist, dass sein Vater (ich erinnere mich nicht, ob er selber Konvertit war oder Jude geblieben ist) seine Kinder aufteilte. Die einen blieben Juden, die anderen ließ er für alle Fälle zum Christentum übertreten. So wurde Tan-Bogoraz orthodoxer Christ. Das ist das, was ich weiß. Meine Mutter war Linguistin, deshalb interessierte sie sich sehr für Tan-Bogoraz, allerdings nicht für ihn als Vorfahren und Revolutionär, sondern als Linguisten und Anthropologen. Er war einer der ersten, der die Sprache der Tschuktschen beschrieb. Auf einer Expedition, die der Vater der modernen Anthropologie Franz Boas leitete, erforschte er die Sprache und Kultur der Tschuktschen, der Korjaken, der Itelmeny und der Eskimos. Man sagt, Tan-Bogoraz habe einen beachtlichen Beitrag nicht nur zur russischen, sondern auch zur weltweiten Anthropologie geleistet.

 

Bei Wikipedia steht, dass Ihre Großmutter während des Bürgerkriegs in einer Politabteilung der Roten Armee diente.

Sie kämpften gegen Denikin [im Bürgerkrieg Kommandeur der Weißen Armee] irgendwo im Süden.

War sie Bolschewikin?

Ja.

Schon vor der Revolution?

Nein, erst danach. Und mein Großvater war ebenfalls Bolschewik seit 1918.

Erzählen Sie bitte über deren Erinnerungen an die Revolution und an den Bürgerkrieg.

Die Großmutter mütterlicherseits, Marija Samuilovna Bruchman, habe ich nie gesehen. Sie starb vor meiner Geburt. Ich weiß, dass sie ein schreckliches Geheimnis hatte. Die Sache ist die, dass sie ein überzeugtes Parteimitglied war (anscheinend blieb sie das auch bis zu ihrem Tod 1950), 1918 in die Partei in eben diese Politabteilung eintrat, dann aber wurden sie und einige ihrer Freundinnen aus der Partei ausgeschlossen wegen „bürgerlicher Zersetzung“! Was sie da gemacht haben in der Politabteilung, weiß ich nicht, wahrscheinlich waren sie Sekretärinnen. Aber trotzdem liefen sie wahrscheinlich mit einer Mauser am Gürtel herum. Die bürgerliche Zersetzung aber bestand in Folgendem: Als sie Beschlagnahmungen in bürgerlichen Wohnungen durchführten, rissen sie dort Tüll-Vorhänge von den Fenstern und aus diesen Vorhängen nähten sie sich Kleider. Wobei sie nicht wegen Plünderung rausgeschmissen wurden, nicht deshalb, weil sie sich unter dem Vorwand der Beschlagnahmung etwas angeeignet hatten, sondern für diese Tüllkleider! In Tüllkleidern herumzulaufen – das war bürgerliche Zersetzung.

Dass sie etwas genommen hatten, war nicht schlimm, aber dass sie sich Kleider genäht hatten, schon ein Verbrechen.

Natürlich! Weil ein Tüllkleid ein Relikt der verfluchten Vergangenheit war. Aber sie waren junge Mädchen, jedes 18 Jahre alt. Danach trat sie wieder in die Partei ein, aber hielt geheim, dass sie früher schon einmal ausgeschlossen worden war. Das war das schreckliche Geheimnis, dass sie bis zum Sarg bewahrte! Sei es, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie die Partei belogen hatte, sei es, dass sie fürchtete, der Betrug könne ans Tageslicht kommen und sie erneut weggejagt werden. Aber ihrer Tochter hat sie sich doch mitgeteilt: Meine Mutter wusste davon. Alles in allem war sie anscheinend eine knallharte Bolschewikin.

Leistete sie Parteiarbeit?

 Schlimmer noch, sie war Dozentin für Marxismus-Leninismus und andere „gesellschaftliche Disziplinen“ im System der mittleren Berufstechnischen Ausbildung.

Also begann die Großmutter die bolschewistischen Repressionen im Jahr 1918 und der Großvater fiel diesen Repressionen im Jahr 1936 zum Opfer. Irgendwo habe ich gelesen, dass er Memoirenschreiber war. Erzählen Sie bitte von ihm.

Nun, ich hoffe, dass Marija Samuilovna an nichts Schlimmerem beteiligt war als an der Beschlagnahmung von Tüllvorhängen. Aber Großvater Iosuf Aronovitsch war kein Memoirenschreiber. Er hat sich erst im hohem Alter mit Literatur beschäftigt, schrieb einige längere Geschichten und Erzählungen. Einige von ihnen haben zum Teil einen autobiographischen Charakter, aber dem Genre nach sind sie trotzdem Belletristik.

Was hat er über seine Verhaftung erzählt? Er hatte ja trotzdem noch Glück, dass er 1941 freigelassen worden war.

Er wurde im Mai 1936 ins Gefängnis gesteckt, als sich die große Welle der Repressionen gegen Parteimitglieder gerade erst erhob und die Urteile noch nicht so grausam waren. Der Großvater bekam 5 Jahre, was auch ein Glück war. Wäre er 1937 verhaftet worden (man hatte ihn ja wegen Trotzkismus angeklagt), wäre alles bedeutend trauriger gewesen.

Trotzkismus, das war eine Standard-Anklage, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte?

Meiner Meinung nach hatte er nie irgendeinen realen Bezug zur trotzkistischen Opposition. Er hielt sich, so weit es möglich war, fern von politischen Intrigen.

Er arbeitete als Volkswirt?

Ja, er arbeitete bei Gosplan-Ukraine [Komitee für Wirtschaftsplanung]. Die frühe Verhaftung führte dazu, dass er im Mai 1941 schon freikam, vor Kriegsbeginn. Nach Beginn des Kriegs verlängerte man denjenigen, die wegen politischer Paragraphen verurteilt worden waren, die Haft automatisch „bis auf weiteres“. Nach der Freilassung blieb er in Vorkuta, er hatte nicht das Recht, sich in großen Städten niederzulassen. Faktisch war er in der Verbannung. Als 1948 erneute Verhaftungen begannen, hätte diese Welle ihn vielleicht verschont. Jetzt wissen wir, dass aufgrund des Ukas vom 21. Februar 1948 vor allem diejenigen verhaftet wurden, die man nach Kriegsende freigelassen hatte. Aber damals verstand niemand, nach welchem Prinzip die Verhaftungen vor sich gingen. Und da das unklar war, hielt er es für besser, weg aus Vorkuta noch weiter in den äußersten Norden zu gehen – nach Igarka. Das war ganz am Ende der 40er Jahre, 1947 war er noch in Vorkuta, denn Mutter fuhr dort noch zu ihm.

Welche Erinnerungen hatte er an Vorkuta, auf welche bekannten Leuten traf er dort?

Von Zeit zu Zeit erinnerte er sich an irgendwelche interessanten Leute, auf die das Schicksal ihn stieß, und ich habe mir Aleksej Kapler gemerkt, den bekannten Drehbuchautor. Kapler war wegen einer Liebesgeschichte mit der Tochter Stalins verhaftet worden. Großvater hatte einen ziemlich engen Austausch mit Kapler und mit vielen anderen interessanten Menschen. Er war im Arbeitslager Vorkuta eine bekannte Figur. Noch während er im Lager war, ernannte man ihn zum Leiter der Medikamentenausgabestelle und nach seiner Freilassung führte er sie weiter. Später dann haben mir alte Bewohner von Vorkuta erzählt, dass er die Schlüsselfigur in einer nicht gerade legalen Sache war - durch ihn lief der geheime Briefwechsel zwischen den Lagern.

Das bedeutet, er konnte nach seiner Haftentlassung schreiben, aber die Häftlinge hatten kein Recht dazu?

Nein, schreiben konnten sie schon, nur nicht von einem Lager an ein anderes, noch dazu unter Umgehung der Zensur. 1954 ging er dann mit seiner Frau, die er im Lager kennengelernt hatte, nach Moskau. Ich erinnere mich an ihre Ankunft. Aber bald zog es ihn wieder in den Norden und er ließ sich im Gebiet Archangelsk als Volkswirt anwerben - wohl in einer holzverarbeitenden Fabrik. Und dort arbeitete er dann einige Zeit in Korjaschma. Endgültig nach Moskau zurückgekehrt sind sie dann erst, als er in Pension ging, irgendwann 1956. Entweder war das der „Ruf des Nordens“ oder er wollte sich die „nördliche Pension“ verdienen, die höher war. Man muss sagen, dass er in allen Ideen seiner bolschewistischen Jugend völlig enttäuscht aus dem Lager kam. Nach seinen Erzählungen hatte er 1936 vor der Verhaftung immer noch gewisse Illusionen. Ich erinnere mich an eine Erzählung von ihm, als er sich – bereits aus der Partei ausgeschlossen, aber noch nicht verhaftet – mit seinem Schwager, dem Ehemann der älteren Schwester beriet. Der Schwager war nämlich eine große Nummer, Danila Egorovitsch Sulimov, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der RSFSR [Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik], Mitglied des Zentralkomitees. Und als der in seinem privaten Zugabteil durch Kiev fuhr, ging Iosif Aronovitsch zu ihm, um sich Rat zu holen, wie er denn für seine Wiederaufnahme in die Partei kämpfen könne. Und Sulimov sagte: „Sag mal, verstehst du denn nicht, was vor sich geht? Halt' die Füße still und rühr' dich nicht, mach gar nicht den Versuch zu appellieren, sonst wird alles noch schlimmer.“ Sulimov gab sich also ganz sicher keinen Illusionen mehr hin, er verstand zu diesem Moment bereits alles. Das hat ihm übrigens auch nichts genützt, etwas mehr als ein Jahr später wurde er verhaftet und erschossen. Iosif aber dachte immer noch, dass man etwas tun könne.

Wie viel Zeit verging von dem Zeitpunkt des Ausschlusses aus der Partei bis zu seiner Verhaftung?

Wohl so zwei Monate. Als man ihn freiließ und rehabilitierte und er nach Moskau zurückgekehrt war, bot man ihm die Wiederaufnahme in die Partei an. Und obwohl er sagte, dass er an all das schon nicht mehr glaubte, fürchtete er sich abzulehnen.

In welchem Jahr war das?

Nach Stalins Tod, 1956, 1957. Und Ende der 60er Jahre trat er wieder aus. Er schrieb selbst den Antrag und legte sein Parteibuch nieder. Er hatte schon vor nichts mehr Angst: Die Tochter, eine bekannte Dissidentin, war in der Verbannung, er konnte niemandem mehr schaden, weder sich noch einem anderen. Ich zog ihn damals mit dem bekannten Zweizeiler Mandelstams auf: „Als Jüngling Publius trat er in die Reihen der Partei, die goldenen, / Aus der Partei heraus ging er als klappriger, leider, alter Greis.“ Zu dieser Zeit schrieb er schon etwas und las es Freunden vor, und in der 1970er Jahren begann er das Geschriebene zu veröffentlichen.

Wurde er zu Sowjetzeiten denn verlegt?

Im Ausland. In der Zeitschrift Kontinent wurde seine Erzählung „Die Glucke“ veröffentlicht. In Jerusalem veröffentlichte man seine Prosaerzählung „Der Abartling“ über Vorkuta. So einen wunderbaren Großvater hatte ich!

Wir haben jetzt über das Schicksal Ihres Großvaters mütterlicherseits gesprochen. Ihr Großvater väterlicherseits war ein jüdischer Schriftsteller, schrieb auf Jiddisch. Erzählen Sie bitte von ihm.

Mit diesem Großvater - das ist eine Detektivgeschichte. Wobei, zu einer Detektivgeschichte wurde sie erst vor kurzem, in diesem Jahr. Fangen wir damit an, dass mir immer unklar war, wie mein Großvater tatsächlich hieß. Mark Daniel – das war sein literarisches Pseudonym; sein wirklicher Familienname war Mejerovitsch, das wusste ich. Er starb 1940. Zwischen seinem Tod und meiner Geburt vergingen elf Jahre, deshalb kenne ich seine Geschichte nur dank der seltenen Erwähnungen meines Vaters. Mein Vater sagte, dass sein Vor- und Vatersname Mark Mendelevitsch war. Aber in allen Nachschlagewerken und literarischen Enzyklopädien heißt er Mark Naumovitsch. Außerdem hieß Tante Mascha, seine jüngste Tochter, Vaters Halbschwester, mit vollem Namen Marija Abramovna. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, wie der Großvater hieß – Mark oder Abram und wie der Urgroßvater – Naum oder Mendel. Ich weiß, dass sie aus Dvinsk [heutiges Laugavpils in Lettland] stammten. Mein Vater wusste sehr wenig über Großvaters Herkunft. Es ist bekannt, dass er in Dvinsk lebte, Schneider war und sehr aktiv in der dortigen Synagoge. Aber wie er hieß? Ich entschied, dass er wahrscheinlich Nachum-Mendel hieß, mit Bindestrich, wie es bei den Juden üblich war. Dann kam es zu folgender lustigen Geschichte: Eine junger Freund von mir, der sich für alle Arten von DNA-Tests interessiert, bot mir an zu überprüfen, was er in meiner DNA findet. Na, dann habe ich in dieses Reagenzglas gespuckt. Das Ergebnis wird in eine Datenbank eingegeben und wenn es irgendwen gibt, dessen DNA ähnlich ist, teilt man das mit. Und es kam heraus, dass es eine gewisse Dame in den USA im Staate Iowa gibt, deren DNA zu 25 Prozent mit meiner übereinstimmt – das ist ein sehr hoher Koeffizient. Diese Dame hat eine Website und dort ist ein Stammbaum. Und mein Bekannter, der mich zu dieser Untersuchung animiert hatte, kommt zu mir und sagt: „Aleksandr Julevitsch, sagt Ihnen der Name Mejerovitsch etwas?“ Ich antworte: „Ja, schon.“ Er zeigt mir die Genealogie von eben dieser Rejtschel Gudman, die in Iowa lebt. Und dort finde ich alles, Rejtschel erwies sich als Cousine zweiten Grades, eine Enkelin einer der Schwestern meines Großvaters. Und unser gemeinsamer Urgroßvater hieß, wie sich herausstellte, nicht Nachum-Mendel, sondern Nuach-Mendel. Ich hatte es also fast erraten. Den Großvater selbst habe ich da auch gefunden, dort wurde er unter dem Vornamen Abram geführt und in Klammern stand Mordke-Abram-Daniil, ein dreifacher Vorname, so war das! Sofort zerfiel die Legende, die ich von meinem Vater gehört hatte: dass der Großvater sein literarisches Pseudonym zur Ehren des Propheten Daniil angenommen habe. Nichts dergleichen! Daniil war schlicht einer seiner Vornamen. Und Mordke wurde in Mark verwandelt. So kam es dann zum Schriftsteller Mark Daniel. Abram aber erhielt sich nur im Vatersnamen der oben erwähnten Tante Mascha. Das interessanteste aber ist etwas anderes: In diesem amerikanischem Stammbaum stand neben seinem Namen, wenn auch mit Fragezeichen, als Todesdatum 1918! Und in einem Kommentar hieß es, dass Abram, also Mordke, also Daniil, während des Bürgerkriegs spurlos im Ural in der Region Perm verschwunden sei, wohin man Familien im Ersten Weltkrieg aus Dvinsk evakuiert hatte. (Wahrscheinlich war das eine Zwangsevakuierung. Wie man weiß, gab Großfürst und Oberbefehlshaber Nikolaj Nikolaevitsch die Order zur Deportation aller an den Frontlinien als potenzielle „Fünfte Kolonne“ lebenden Juden.) Und so verschwand nach den Erinnerungen meiner plötzlich aufgetauchten amerikanischen Verwandten in der Zeit der Kämpfe zwischen Roten und Weißen der Bengel Abram im Alter von 16, 17 Jahren; gut möglich, dass er von zuhause weglief und sich den Roten anschloss. Sie suchten ihn, aber fanden ihn nicht und kamen zu dem Schluss, dass er umgekommen sein musste. Von einem Mark Daniel, geschweige denn dessen Nachkommen, wussten sie nichts. Der Großvater aber scheint auf eigene Faust ins Baltikum zurückgekehrt zu sein, jedenfalls war er wohl 1919 in Vilnius. Und 1920, nachdem die Polen die Region Vilnius eingenommen hatten, ging er nach Moskau. Und davor war der Rest der Familie - seine Mutter und die jüngere Schwester, der Vater war schon 1917 in der Region Perm gestorben – ohne Abram gefunden zu haben, nach Amerika emigriert, wo schon so gut wie alle anderen Nachum-Mendel-Kinder lebten. So also war die Geschichte. Übrigens habe ich durch diese amerikanische Genealogie noch eine Geschichte herausgefunden, die der vollständige Spiegel der vorherigen ist. Gemäß unserer Familienmythologie hatte Mark Daniel einen älteren Bruder, der vor der Revolution wohl ein Untergrund-Revolutionär. Wie es sich für einen Revolutionär gehörte, trug er einen schönen Partei-Decknamen: „Karl Liberte“ und wurde in den 1920er Jahren Agent der Komintern, also ein sowjetischer Spion. Und angeblich verschwand dieser Karl 1923 während des Hitlerputsches in Deutschland; man glaubte, er sei tot. Hier in Moskau hatte er eine Familie hinterlassen. In der Erzählung „Julis“ von Mark Daniel sind diesem älteren Bruder Karl einige sehr warme Seiten gewidmet: „... es nicht bekannt, wo du bist, lieber Karl, ob du lebst …“ und so weiter. Und diesen Karl habe ich in dem amerikanischen Stammbaum auch gefunden: Schmuel Mejerovitsch, alias Karl Liberté, alias Petr Rozov, alias noch irgendwer... . Aber nach der Genealogie keineswegs während des Hitlerputsches verschwunden, sondern in Nizza offenbar äußerst hochbetagt und wohlbehalten erst im Jahre 1974 verstorben. Wie sich herausstellte, hatte er bereits in Paris eine Familie gehabt, noch in vorrevolutionären Zeiten. Es sieht so aus, als sei dieser Karl einfach von einem Auslandseinsatz nicht nach Hause zurückgekehrt!

Oder er war ganz im Gegenteil ganz tief involviert? Damals reichten die Arme des NKWD weit. Fast alle Abtrünnigen wurden doch liquidiert.

Das ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen! Möglicherweise... . Anscheinend war mein Großvater zweiten Grades Karl ein großer Abenteurer. Und was die revolutionäre Vergangenheit betrifft, bin ich nicht ganz sicher. Es gibt Angaben, dass er einfach vor der Einberufung zur Armee geflohen ist. Aber Sie sehen, was für ein symmetrisches Bild sich ergibt. Der amerikanische Zweig der Mejerovitschs zählt bei den Verschollenen den Bruder Abram auf, der sowjetische den Bruder Schmuel. Während beide inzwischen gesund, munter und vergleichsweise glücklich vor sich hin lebten.

Gibt es noch weitere Kinder und Verwandte dort?

Ja, Cousine Rejtschel bemühte sich, alles zu rekonstruieren. Ich stand danach mit ihr und den anderen amerikanischen Verwandten in Briefkontakt. Es stellte sich heraus, dass es ein ganzer Haufen war: Mein Urgroßvater Noach-Mendel war ein produktiver Patriarch, er hatte zehn Kindern und die meisten von ihnen emigrierten noch vor dem Ersten Weltkrieg in die USA. Kurzum, mit einem Mal ergossen sich über mich eine riesige Anzahl jüdischer Verwandter väterlicherseits. Und alles das passierte in diesem Jahr, dank der Entwicklung der Genetik.

Und dank des Internets...

Wir schreiben uns jetzt Briefe, haben ein paar Mal über Skype gesprochen. Es war sehr interessant. Wie man so schön sagt: „Erst kein Groschen und nun ein Taler“ - ein ganzer Berg Verwandter.

Die hatten Glück, dass sie noch vor 1924 ausgereist waren, als man die Immigration in die USA streng einschränkte. Danach war eine Einreise, selbst in den Jahren des Holocaust auch für Juden, äußerst schwierig.

Fast alle waren noch vor der Revolution weggegangen. Und nur die Urgroßmutter und die jüngste Tochter – die jüngere Schwester meines Großvaters Mark-Daniel – gingen erst 1919 oder 1920. Aber die gingen aus Lettland fort, aus Dvinsk. Sie können sich also vorstellen, wie viel Interessantes ich erfuhr! Die Urgroßmutter, das kam heraus, verstarb erst Ende der 1940er Jahre in Massachusetts, und wir wussten rein gar nichts über sie... .

Sie sind 1951 geboren. In welchem Alter hörten Sie auf, sich als Sowjetmensch zu fühlen?

Wann meine Illusionen aus Pioniertagen verschwunden sind? Wissen Sie, die sind allmählich verschwunden. Sie wurden verdrängt erstens durch Bücher und zweitens durch die allgemeine Atmosphäre dieser Jahre. Ich war etwa 12, 13 Jahre alt und es war Anfang der 1960er Jahre. Politisch hatte mich niemand erzogen. Meine Eltern hielten es offenbar nicht für richtig, mich in dieser Hinsicht zu erziehen, nach dem Motto, er wird es von selbst verstehen. Und ich begann allmählich selbst zu verstehen. Aber mit 10 Jahren war ich noch glühender Pionier. Ich erinnere mich an eines meiner Gespräch mit den Eltern: Ich kam aus der Schule voller Enthusiasmus – ich war gerade erst bei den Pionieren aufgenommen worden – und erzählte, dass wir eine Versammlung gehabt hatten, wo man uns von Pavlik Morozov erzählt hatte. Vater bekam einen steinernes Gesichtsausdruck und fragte: „Und wer ist denn dein Pavlik Morozov?“ Ich antworte: „Ein Pionier, ein Held!“ Da schaltet sich Mutter ein, ebenfalls mit versteinertem Gesicht: „Und was hat dein Held Heldenhaftes getan?“ Und ich war so ein einfaches Kind. Was auf der Pionierversammlung mit komplizierten Worten gesagt worden war, übersetzte ich in einfache menschliche Sprache und sagte: „Er hat seinen Vater verraten.“ „Aha“, sagten sie. Und dann begannen sie mich zu peinigen. Das war das einzige Mal, dass sie sich in meine politische Erziehung einmischten. Ich kann ihnen bis heute nicht verzeihen, wie sehr sie mich gequält haben. Sie sagten: „Würdest du deinen Vater melden?“ Ich antwortete: „Aber der Vater von Pavlik Morozov war doch ein Kulak, du bist doch kein Kulak!“ Ich wusste ja nicht, dass er schon etwas viel Schlimmeres als ein Kulak war – er veröffentlichte zu dieser Zeit ja schon im Ausland. Natürlich nahm er das sehr persönlich, da hatte er in seinem Haus einen Pavlik Morozov großgezogen, während er selbst sich mit derart riskanten Dingen beschäftigte. „Und wenn ich ein Kulak wäre?“, fragte er. Mit solchen Haarspaltereien brachten sie mich zum Schluchzen. Denn zu sagen: „Ich hätte dich gemeldet“ ist unmöglich auszusprechen, die Pflicht eines Pioniers aber besagte, dass man natürlich melden muss. Alles endete mit Geheul und ich mag Pavlik Morozov bis heute einfach deswegen nicht, weil er mir so viele unangenehme Emotionen beschert hat.

Ihr Vater begann schon 1958 im Ausland zu veröffentlichen, nur fünf Jahre nach Stalins Tod.

Er übergab die ersten Bücher 1958, 1959, veröffentlicht wurden sie 1960 oder 1961, nicht sofort danach.

Kann man sagen, dass Sinjawskij und Daniel den Weg für die sowjetischen Autoren des Tamisdat geebnet haben? Wie waren sie überhaupt auf die Idee gekommen, im Ausland zu publizieren und wie schafften sie es rein technisch, ihr Material zu übergeben?

Technisch einfach so: Andrej Donatovitsch Sinjawskij hatte eine gute Bekannte: Hélène Peltier. Irgendwann Ende der 1940er Jahre studierte sie als einzige Ausländerin an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau (da war er wohl schon Doktorand). Und da bestellte man Sinjawskij ins Ministerium für Staatssicherheit und befahl ihm, diese Peltier zu beobachten, sie um den Finger zu wickeln. Sie hatte das Pech, die Tochter eines französischen Marineattachés zu sein. Sinjawskij sagte: „Jawohl!“ und erzählte Hélène die ganze Sache, natürlich unter größter Geheimhaltung. Denen von der Staatssicherheit aber sagte er, dass sie sich entziehe und ihm diese Arbeit mit ihr einfach nicht gelingen wolle. Und seitdem waren sie Freunde. Nach einigen Jahren dann begann Andrej seine Aufzeichnungen Hélène zu übergeben, wenn sie in die UdSSR kam. Es gab aber auch andere Kanäle.

 Warum entschieden sie sich, ihre literarischen Arbeiten zur Publikation ins Ausland zu geben. Das hatte doch vor ihnen noch niemand getan?

Und Pasternak und die Geschichte mit Doktor Schiwago, der 1957 in Italien erschien?

Sie hatten sich von Pasternak inspirieren lassen?

Kaum. Sinjawskij hatte sich das schon lange überlegt und seine ersten Werke wohl früher übergeben als Pasternak den Doktor Schiwago. Sinjavskij war Theoretiker und Experimentierer zugleich. Zuerst überlegte er sich ein literarisches Projekt, dass seiner Meinung nach der sowjetischen Realität mehr entsprach als der sozialistische Realismus und nannte es phantastischen Realismus. Für die Verwirklichung dieses Projekts dachte er sich ein Alter Ego aus, den Schriftsteller und Banditen Abram Terz, und begann Erzählungen und Geschichten in seinem Namen zu schreiben. Irgendwann 1956 hat er dann meinem Vater davon erzählt und der wollte es auch versuchen. Die ersten Erzählungen von Abram Terz waren da schon fertig und vielleicht hatte er sie da schon übergeben. Julij Daniel aber ließ sich nicht aus historisch-literaturwissenschaftlichen Überlegungen darauf ein, sondern aus reiner Abenteuerlust. Es interessierte ihn einfach, in seinem Leben so ein Spiel der heimlichen Schriftstellerei zu etablieren. Und seine Prosa war natürlich bei weitem nicht so ungewöhnlich wie die von Terz. Sie entsprach ganz der sowjetischen Stadtprosa.

„Tag der offenen Morde“ ist irgendwie nicht so recht sowjetisch.

Natürlich gibt es bei Nikolaj Arschak, das war das Pseudonym Julij Daniels, auch phantastische Elemente. Im Großen und Ganzen ist das trotzdem gewöhnliche Dorfprosa der 1950er bis 1960er Jahre. Aber das zu veröffentlichen war dennoch unmöglich: Das war ein politisches Verbrechen. Und so entschied Vater sie zur Veröffentlichung ins Ausland zu schicken. Durch dieselben Kanäle wie Sinjawskij. Sie freundeten sich an und entschlossen sich, gemeinsame Sache zu machen.

Damals kam niemandem in den Sinn, dass man im Ausland veröffentlichen kann. Die Menschen hatten Angst.

1959 hatte Aleksandr Sergejevitsch Essenin-Volpin seine Sammlung „Frühlingsblatt“ unter seinem eigenen Namen zur Publikation ins Ausland gegeben, Pasternak ebenfalls unter eigenem Namen und nicht unter Pseudonym. Die Menschen hatten schon den Wunsch, aus dieser verstopften Flasche auszubrechen.

Nachdem, was Sie über das Familienverhör wegen Pavlik Morozovs Heldentat erzählt haben, vermuteten Sie nicht, dass Ihr Vater seine Werke ins Ausland schafft?

Bis er es mir selbst erzählte, hatte ich keinen Verdacht. Und erzählt hat er mir davon im Januar 1965. Ich war schon 14 Jahre alt und ein verständiger Junge. Nicht, dass ich mich irgendwie besonders für Politik interessiert hätte. Ich verstand bereits, dass Literatur nicht auf eine politische Ausrichtung hinauslaufen sollte, dass sie mehr ist, interessanter und wichtiger als Politik. Wir lebten damals getrennt: Mutter war 1964 nach Novosibirsk gegangen und hatte mich mitgenommen und zum Vater nach Moskau fuhr ich in den Winterferien. Er sagte zu mir: „Willst du solche Literatur lesen?“ und gab mir Bücher. Aber er sagte nicht, dass das seine Bücher sind.

 Waren das die Bücher, die aus dem Westen kamen?

Ja. Ich las sie durch und sie gefielen mir, was ich Vater auch sagte in einer etwas snobistischen Art und Weise: „talentiert“ oder „kein schlechter Autor“. Ich gab natürlich etwas an, wie es sich für einen intelligenten Jugendlichen gehörte. Und Vater erklärte mir, dass er der Autor dieser Bücher war. Ich verstand mit 14 natürlich schon, dass das böse ausgehen konnte, man dafür ins Gefängnis kommen konnte. Aber mir gefiel das aus irgendwelchen Gründen unheimlich, dass mein Vater ein Schriftsteller war, der nicht einfach fremde Verse übersetzt, sondern seine eigene Prosa schreibt.

 Bis dahin war er nur als Übersetzer tätig?

Ja.

Und in der UdSSR war vor seiner Verhaftung nichts von ihm veröffentlicht worden?

Er hatte eine historische Kindergeschichte geschrieben mit dem Titel „Die Flucht“ über eine wenig bekannte Figur aus der Epoche Katharinas II., Ivan Sveschnikov, ein autodidaktischer Bauer und Polyglott. Die Erzählung wurde von Detgis [Verlag für Kinderliteratur] angenommen. Aber das war genau im September 1965. Die Auflage war gedruckt, aber der Autor im Gefängnis und die ganze Auflage wurde vernichtet. Ein Exemplar behielt der KGB, später schenkte der Kurator des KGB, B. M. Kogut, Vater dieses Exemplar. Er war offenbar Oberstleutnant und „beaufsichtigte“ Julij Daniel nach seiner Freilassung. Dieses Buch hatte ich in Händen.

Ihr Vater erzählt Ihnen also von seinen Veröffentlichungen im Ausland und ein paar Monate später wurde er verhaftet?

Ja. Und jetzt verstehe ich, dass er mir davon erzählte, weil er spürte, das man ihn verhaften wird.

Hatte es denn schon irgendwelche Anlässe zur Beunruhigung gegeben?

Es lagen schon gewissen Schwingungen in der Luft. Ich denke, Vater wollte einfach, dass seine Verhaftung für mich nicht unerwartet und kein Schock sein würde. Deshalb hatte er auch sein Geheimnis mit mir geteilt, immerhin war ich noch eine Rotznase.

Waren Sie beim Prozess?

 Man ließ mich nicht ein, ich war noch nicht volljährig. Ich lief vor dem Gericht hin und her.

Gab es vor Gericht eine Unterstützergruppe, bekannte Leute, Schriftsteller? Oder hatten die Angst?

Über das Publikum bei Gericht muss man etwas erklärend vorweg schicken: Die Sache war die, dass im Herbst 1965 nach der Verhaftung Sinjawkijs und Daniels in Kreisen der Moskauer Intelligenzija eine gewisse Unruhe entstand. Die Leute gerieten in Aufregung, begannen diese Neuigkeit zu diskutieren, Gespräche zu führen, jemand schrieb sogar Anfrage- oder Protestbriefe. Und irgendwann im November – die Untersuchung lief noch – wandte sich Genosse Semitschastnij, der KGB-Vorsitzende, mit einem Schreiben an das Zentralkomitee der KPdSU. Das Schlüsselwort in diesem Schreiben war „Glasnost“, Transparenz. Der Prozess gegen Sinjawskij und Daniel benötigte Transparenz.

Woher hatten sie dieses Wort? Das ist ein Wort aus der Epoche der Reformen Alexanders II.

Irgendwo hatten sie es gefunden. Semitschastnij schrieb also die Intelligenzija sei besorgt, weil sie fürchtete, dass die Stalinschen Zeiten erneut anbrechen könnten. Man müsse ihnen erklären, dass die Anschuldigungen gegen Sinjawskij und Daniel nicht fabriziert seien, dass diese Schurken tatsächlich getan hätten, wessen man sie beschuldigte, dass man sie nicht einfach so festgenommen habe, sondern für konkrete Handlungen. Dann würde sich die Intelligenzija beruhigen und die Machthaber wieder liebgewinnen. Im Dezember fand dann die Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees statt, das dem Schreiben zustimmte und verfügte, den Prozess zu dem zu machen, was er war, mit maximaler Aufklärung in der Presse und überhaupt mit maximaler Transparenz. Im Einzelnen gab man in der Vereinigung der Schriftsteller Genehmigungen zur Teilnahme am Prozess aus, gewöhnlich für ein, zwei Sitzungen. Natürlich stürzte sich die gesamte liberale schriftstellerische Gemeinschaft auf diese Genehmigungen. Nun, nicht alle vielleicht, aber doch viele. Vater erinnerte sich daran, dass er ständig mitfühlendes Nicken, billigendes Lächeln im Saal sah. Aus irgendeinem Grund hatte Sinjavskij eine andere Wahrnehmung. Anscheinend achtete der eine auf die eine Sache, der andere auf eine andere.

 

Optimisten und Pessimisten...

Wahrscheinlich. Vater erinnerte sich an das mitfühlende Lächeln von Nikolaj Pantschenko und daran, dass Jevgenij Jevtuschenko demonstrativ an die Anklagebank herantrat und sich vor ihnen verbeugte, obwohl er meinen Vater damals nicht kannte (und Sinjawskij ihn kurz vor der Verhaftung in einem kritischen Artikel beschimpft hatte). Anscheinend gab es keine allgemeine „Bestialisierung“ im Gerichtssaal, obwohl Sinjawskij wahrscheinlich nie gedacht hätte, während er schrieb, dass man das Urteil mit Ovationen begrüßen würde. Aber nicht alle applaudierten, nicht alle. Sehr wichtig war die Anwesenheit von Boris Borissovitsch Vachtin. Meine Mutter und Marija Rozanova, Sinjawskijs Ehefrau, schrieben den Verlauf des Prozesses nieder. Ich weiß nicht, ob Vachtin etwas aufschrieb, aber er hatte ja, wie man weiß, ein fotografisches Gedächtnis. Und als Marija und meine Mutter den Prozessverlauf nach diesen Aufzeichnungen rekonstruierten, zogen sie Vachtin zu der Sache hinzu. Marija fuhr sogar einmal für einige Tage zu ihm nach Leningrad, um gemeinsam an den Aufzeichnungen zu arbeiten. Man kann Vachtin also durchaus als Co-Autor der später veröffentlichten Aufzeichnungen des Prozesses betrachten, gemeinsam mit Larissa Bogoraz und Marija Rozanova.

Und dieses Stenogramm erschien dann im Westen als Buch?

Ja. Kurze Zeit später erschien im Westen das „Weißbuch“ von Aleksandr Ginsburg, in das dieses Stenogramm aufgenommen wurde.

Gab es von Seiten der Öffentlichkeit Auftritte zur Verteidigung?

Natürlich, das war ja schon die erste öffentliche Kampagne. Vorher hatte es beim Verfahren gegen Brodskij auch schon eine Kampagne gegeben, aber die Petition zur Verteidigung Brodskijs gelangte nicht in den Samizdat [Selbstverlag], so dass diese Kampagne im Stillen ablief.

Kam es im Gerichtssaal selbst zu Äußerungen oder später? Welches Maß an Mut hatten die Leute?

Natürlich später. Im Saal lief der Prozess, die Zeugen waren bereits im Vorfeld bestimmt. Es gab im Gegenteil öffentliche Ankläger aus der Schriftstellervereinigung – Zoja Kedrina und Arkadij Vasilev. Aber es gab im Übrigen auch unter den Zeugen solche, die sich sehr mutig und standhaft verhielten, klar zugunsten der Angeklagten aussagten: Der Kunstkritiker Igor Golomschtok, der Philologe Viktor Duvakin, der Künstler Sascha Petrov … . Ich werde nicht alle aufzählen, weil ich fürchte jemanden zu vergessen und das wäre nicht gut.

Besuchten Sie Ihren Vater während er einsaß? Was erzählte er?

 Einmal im Jahr war ein längeres, persönliches Wiedersehen vorgesehen, von einem bis drei Tage. Ich erinnere mich nicht, dass man uns einmal drei Tage zugestanden hat, aber zwei kamen vor. Das ging so vor sich: Neben der Wache lag eine lange Hütte, aufgeteilt in zwei Zimmer, das „Besuchshaus“. In eines der beiden Zimmer brachte man uns und dahin führte man auch den Gefangenen, und der wohnte dann da bei uns. Entweder mit Arbeitseinsatz [während dieser Zeit] oder ohne. Aber sie gewährten ein Treffen nicht immer. Es gab ein Jahr, in dem man Vater wegen schlechter Führung persönliche Treffen völlig untersagte. Ein- oder zweimal erlaubten sie nur 24 Stunden und in denen musste er auch noch zum Arbeitseinsatz. Außerdem gab es noch einmal alle vier Monate sogenannte „Allgemeine Treffen“ von einer halben Stunde bis zu vier Stunden. Allgemeine Treffen fanden in der Anwesenheit der Wärter statt mit einem Tisch dazwischen. Und wieder waren es anfangs jeweils vier Stunden, aber dann begannen sie zu kürzen und konnten ein weiteres Treffen auch völlig verweigern. Natürlich hat er jedes Mal Vieles erzählt, vor allem bei den den persönlichen Treffen, wenn keine offensichtlichen Ohren dabei waren. Bei dem ersten persönlichen Treffen im März 1966 hatte ich eine spezielle Aufgabe. Die Sache war so, dass Vater, als man ihn verhaftete, anfing Gedichte zu schreiben. Das war ein ziemlich übliches Phänomen für einen Häftling. Früher hatte Vater sehr selten Gedichte geschrieben. Beendet aber hat er sein poetisches Epos buchstäblich wenige Tage vor seiner Freilassung aus dem Gefängnis in Vladimir. Später ist er nie wieder zum Verfassen von Gedichten zurückgekehrt... .

Konnte er seine Gedichte übergeben oder war das verboten?

Mehr oder weniger verboten. In die Briefe legte er manchmal ein Gedicht, aber man konnte es einfach entfernen oder den ganzen Brief beschlagnahmen. Während also die Untersuchung lief, schrieb Julij Daniel einen Haufen Gedichte und schaffte es auch, vor unserer Ankunft im Lager Einiges zu verfassen. Und das alles musste irgendwie raus geschafft werden. Er hatte alles rechtzeitig mit winzigen Buchstaben auf Viertelseiten geschrieben und brachte die mit ins Besuchshaus. Und ich steckte mir diese Zettel in die Strümpfe. Beim Ausgang wurde man durchsucht, man hätte sie finden und abnehmen können. Aber mein Gedächtnis war damals jung und sehr gut, besonders für Poesie. Und ich lernte diese eineinhalb, zwei Dutzend Gedichte auswendig, vom Hören. Das war bei diesem Wiedersehen meine Hauptaufgabe.

Sie wurden also dank Ihres Gedächtnisses bewahrt?

Eigentlich nicht, denn die Zettel im Strumpf konnte ich auch raus bringen, wir wurden bei diesem Mal nur nachlässig untersucht. Dann, Anfang der 1970er Jahre, wurden diese und andere Lager- und Gefängnisgedichte im Ausland veröffentlicht.

Was arbeitete Ihr Vater im Lager?

Als er in Mordwinien war, im DubrawLag [Sonderlager des MWD für politische Gefangene im Rajon Subowa Poljana], war er in zwei Lagerbereichen. Zuerst in der Siedlung Yavas, der „Hauptstadt“ des DubrawLag mit eineinhalb Tausend Gefangenen. Aber dann, als der Lagerleitung klar wurde, dass man Daniel besser aus so einer großen und vielfältigen Umgebung entfernen sollte, überführte man ihn und noch einige bekannte Radaubrüder in ein kleines Lager mit 150 Insassen, 15 Kilometer von Javas entfernt, in die Siedlung Ozjornyj. Da saß er dann seine Strafe bis zum Sommer 1969 ab, als man ihn in ein Gefängnis steckte. In Javas hatte er zuerst eine sehr schwere Arbeit, man setzte ihn in einer Brigade je nach Bedarf ein, mal mussten sie Kohle entladen, mal Baumstämme, mal etwas anderes – in Javas gab es ein Möbelkombinat, dort ließ man ihn etwa vier Monate arbeiten, dann begann bei ihm eine Osteomyelitis. An der Front hatte man ihm die Hand durchschossen, der Knochen war in Mitleidenschaft gezogen worden, durch die Narbe begannen Teile des Knochens herauszutreten. Natürlich beschuldigten sie ihn sofort zu simulieren: „Das sind Späne, die da rausschauen, die haben Sie sich selber reingesteckt,“ - und brachten ihn in den Karzer. Aber Mutter machte einen solchen Skandal, in Moskau begann man über diese Sache zu reden, Zeitungen im Ausland schrieben darüber. Danach gab man Vater eine andere Arbeit, an einer Werkbank in der Möbelwerkstatt. Aber das war auch eine lausige Arbeit, weil die Hand wieder belastet wurde, das war schwer für ihn. Und während ihm in der Brigade noch Freunde geholfen hatten, war das an der Werkbank schon bedeutend schwerer. Aber in dem kleinen Lager in Ozjornyj hatte er dann eine andere Arbeit. Sie werden es nicht glauben, er nähte – wie später Michail Chodorkovskij – Handschuhe aus Segeltuch.

Er hatte also die ganze Zeit eine schwere Arbeit.

Ich weiß nicht, wie schwer das Nähen von Handschuhen war, aber es gab dort einen Plan und völlig exorbitante Normen, die er natürlich nicht einmal in entferntesten erfüllen konnte. So eine Arbeit war das. Später brachte man ihn dann ins Vladimir-Gefängnis.

Aber warum brachte man ihn vom Lager ins Gefängnis?

Für alle Übertretungen gegen die Lagerordnung insgesamt. Das war die höchste Bestrafungsstufe, während man eine Haft absaß. Man verändert die Haftbedingungen und überführt den Häftling vom Lager in ein „geschlossenes Gefängnis“. Und so haben sie auch ihn überführt.

Hält man das Gefängnis denn für schlimmer als das Lager?

Ja. Und das ist wahrscheinlich tatsächlich so.

In welchem Jahr kam Ihr Vater aus dem Gefängnis und was war in dieser Zeit mit Ihrer Mutter?

Vater kam im September 1970 frei, Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon in der Verbannung.

Als sie sich 1968 auf den Roten Platz stellte, wie alt waren Sie da? Erzählen Sie, warum sie sich zu so einem Schritt entschloss.

Davon hat sie nicht nur einmal erzählt, bei öffentlichen Auftritten, in Interviews, in ihren Erinnerungen. Ich habe kein Bedürfnis, das zu wiederholen, sie hat selbst alles schon erzählt. Ich war 17, gerade mit der Schule fertig. Sie sagte mir, dass ich schon ein großer Junge sei und selbständig, auf keinen Fall verloren gehen würde und sie war sicher, dass ihre Freunde mich nicht im Stich lassen würden. Und noch etwas sagte sie: „Ich bin vor meinem Sohn verantwortlich dafür, in welcher Zukunft er wird leben müssen. Und auf den Roten Platz habe ich mich aus dieser Verantwortung heraus gestellt.“ Ich verstehe das vollkommen und kann diese Logik akzeptieren.

Nach der Schule haben Sie sich an der Hochschule beworben, wurden aber nicht gleich angenommen. Welche Probleme gab es dabei?

1968 hatte ich mich gleich zweifach beworben, an der Fakultät für Mechanik und Mathematik der MGU [Staatliche Moskauer Hochschule] und fiel gleich aus eigener Initiative durch das erste Examen, weil ich ein Taugenichts war und mich schlecht vorbereitet hatte. Danach fuhr ich an die Universität Tartu [Estland]. Und da kam es zu folgender feinen Geschichte. Aus irgendeinem Grund waren wir der Auffassung, dort sei es leichter, angenommen zu werden. Ich hatte niemanden davon erzählt, war einfach losgefahren und bestand die Aufnahme an der dortigen Fakultät für Mathematik und Physik mit guten Ergebnissen: Ich hatte eine Zwei und sonst nur Einser und war unter den besten. Doch plötzlich erfuhren sie anscheinend, dass ein Abkömmling dieser schrecklichen Familie sich still und unbemerkt an ihrer Universität eingeschrieben hatte. An der Universität Tartu hatte jede Fakultät eine russische und eine estnische Abteilung, ich war natürlich in der russischen eingeschrieben. Und da machten sie Folgendes - eine sehr raffinierte Lösung, denke ich - : Nachdem die Eintrittsprüfungen abgeschlossen waren, kürzten sie kurzerhand die Zahl der Plätze an der russischen Abteilung von 15 auf 5 und ich war auf der Liste die Nummer 6. Die ersten vier waren Günstlinge, einer hatte nur Einser geschrieben und der sechste war ich.

Damit Sie dort nicht studieren können?

Nein, wenn die Sache damit geendet hätte, wäre das eine stümperhafte Arbeit gewesen! Nachdem ich die Eintrittsprüfungen abgelegt hatte, kehrte ich nach Moskau zurück und bereitete mich darauf vor, am 1. September nach Tartu zu fahren, um dort zu studieren. Es war mir gelungen, mich während der Prüfungsphase mit einer ganzen Menge Volk aus Tartu anzufreunden, natürlich vor allem mit Philologen von dort. Und da ruft man mich am 20. August an und sagt: „Sanja, du bist nicht angenommen, komm vorbei!“ Ich fahre hin, man erklärt mir die Situation und ich sage natürlich: „Wie kann das sein?!“ Aber es war nichts zu machen, ich hole also meine Dokumente ab. Und kaum hatte ich das gemacht, stellte die Verwaltung der Universität die vorherige Zahl der Aufnahmen an der russischen Abteilung wieder her. Danach kam heraus, dass man die anderen Bewerber informiert hatte, sie sollten sich mit dem Abholen ihrer Dokumente Zeit lassen.

Das bedeutet, es wurde eine ganze Spezialoperation ausgearbeitet. Wäre interessant zu wissen, wie viele Personen an dieser strategischen Aufgabe beteiligt waren?!

Keine Ahnung, wer und wo sich das ausgedacht hatte. Als ich davon erfuhr, ging ich zum Rektor, um die Sache zu klären. Man sagte, dass der Direktor, F. D. Klement, ein Physiker, ein guter Mensch sei. Er sprach mit mir, ohne die Augen zu heben und bestätigte faktisch: Ja, das war eine Spezialoperation, um nicht zuzulassen, dass ein 17-jähriger Junge an die Universität kommt.

Und dann wurden Sie zur Armee eingezogen?

Nein, vor der Armee konnte ich mich drücken. An die Universität ging ich erst viel später. Zuerst arbeitete ich in einem Rechenzentrum, dann in einer Fabrik, 1970 begann ich dann an einem Technikum, ein sehr gutes Moskauer Mathematisches Technikum, das ich 1972 mit dem Roten Diplom beendete. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, schließlich war ich auf einer mathematischen Schule gewesen.  Danach ging ich zum Abendstudium an die Mathematische Fakultät der MGPU [Pädagogische Staatliche Universität Moskau], die ich erfolgreich abschloss.

Haben Sie schon während des Studiums begonnen, sich mit der „Chronik der laufenden Ereignisse zu beschäftigen“?

Mit der „Chronik“ begann ich 1973.

Wo haben Sie während des Abendstudiums gearbeitet?

Ich arbeitete als Programmierer in verschiedenen Forschungseinrichtungen, in Rechenzentren, in Zentren für Projektentwicklung und so weiter. In den 70er Jahren arbeiteten alle irgendwo als Programmierer.

Wussten Ihre Eltern davon, dass Sie an der „Chronik der laufenden Ereignisse“ beteiligt waren? Haben Sie sie darin unterstützt?

Sie wussten das. Um ehrlich zu sein, hatte ich am Anfang gar nicht vor, mich ernsthaft einzubringen. Die Sache war die: Mir gefiel sehr, dass es die „Chronik“ gab. Aber Ende 1972 wurde sie nicht mehr herausgegeben, es gab eine lange Pause. Irgendwann im Sommer 1973 kommt ein Freund zu mir, Marik Gelschtejn, und fragt: „Hör mal, kommt die 'Chronik' nicht mehr heraus?“ Ich sage: „So ist es.“ Er: „Das ist aber schlecht, was soll man denn ohne machen?“ Ich sage: „Ja.“ Und spüre, dass ich mich deswegen unwohl fühle. Nicht, dass ich zu dieser Zeit jede Ausgabe der „Chronik“ wie trunken gelesen hätte. Aber allein die Tatsache, dass es eine solche Publikation gab, die einzige, wo man etwas über den Widerstand der Dissidenten gegen das Regime erfahren konnte, hielt einen irgendwie über Wasser. Ich erklärte ihm, dass man denjenigen, der sie herausgegeben hatte, damit erpresste, andere ins Gefängnis zu stecken, Unbeteiligte. Und er sagte: „Vielleicht sollten es andere Leute machen, zum Beispiel wir beide? Ich antworte: „Vielleicht.“ So entschieden Marik und ich, dass wir es versuchen wollten, aber zunächst mussten wir uns natürlich den Segen von denjenigen holen, die sie davor gemacht hatten. Also ging ich zu Tatjana Velikanova, der Schwester meiner damaligen Frau. Ich wusste, dass sie an der Ausgabe der „Chronik“ beteiligt war, und sagte: „Tanja, die Leute denken, dass man die 'Chronik' wieder aufleben lassen muss.“ Sie sagt: „Das denke ich auch.“ Ich antworte: „Mein Freund und ich werden es versuchen.“ Sie: „Na, legt los! Versucht es.“ Und gab mir eine riesige redaktionelle Mappe, die sich während der Zeit des Schweigens angehäuft hatte. Und wir probierten es, stellten drei Ausgaben zusammen, retrospektive, die die entstandene Pause ausfüllen sollten. Die Zusammenstellung dauerte lange und geriet nicht sehr gekonnt. Dann überarbeitete sie Sergej Kovalev nochmals einige Monate. Um die Wahrheit zu sagen, weder Marik noch ich hatten vor, uns von jetzt an immer damit zu beschäftigen. Die Idee war, den Prozess in Gang zu setzen, dann würden sich schon entweder die Ehemaligen wieder einklinken oder neue Leute. Und es tauchten auch Leute auf, aber es waren nur wenige und der Umfang an Informationen wuchs! So blieb ich dann bis 1979 mit der „Chronik“ befasst und episodisch noch länger. Danach erschien sie noch einige Jahre ohne mein Zutun. Es entstanden für mich interessantere Betätigungsfelder.

Wie haben Sie das Material für die „Chronik“ gesammelt?

Wie verbreitete sich der Samisdat? Über verzweigte Ketten, von Mensch zu Mensch und vermehrt sich auf diesem Weg. So war es auch bei der „Chronik“, aber eines war anders: Über die Ketten kamen auch Informationen zurück. Dieser Mechanismus ist in der 7. Ausgabe der „Chronik“ beschrieben: „Wenn es etwas gibt, was Sie der 'Chronik' mitteilen möchten, geben Sie diese Information demjenigen weiter, der Ihnen die „Chronik“ ausgehändigt hat, der leitet sie an denjenigen weiter, der ihm die 'Chronik' gegeben hat und so landet sie dann bei den Leuten, die die nächste Ausgabe vorbereiten.“

Aber man schickte doch keine Briefe an eine angegebene Adresse?

Natürlich nicht, die Chronik wurde anonym vorbereitet, das sah ungefähr so aus: Wir versammelten uns (in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war das schon eine Gruppe von mehreren Leuten, unter denen die Arbeit verteilt wurde), auf dem Tisch lag ein Haufen Blätter, Notizen, kurze Mitteilungen, die in informierende Berichte umgewandelt werden mussten.

Ist das jetzt alles im Internet?

Ja, auf der alten Seite von Memorial.

Wird denn noch eine Druckausgabe vorbereitet? Dort werden doch auch Kommentare benötigt, weil vieles unverständlich ist.

Es wird an einer kommentierten Internetausgabe gearbeitet. Mein Kollege Gennadij Kuzovkin macht das schon seit vielen Jahren, stellt einen Anmerkungsapparat zusammen und so weiter.

 

Sie waren auch am Sammelband „Pamjat“ [Gedächtnis] beteiligt. Erzählen Sie davon.

Ich habe die Chronik in erster Linie mit dem Sammelband „Pamjat“ getauscht. Anfangs arbeitete ich da und dort, aber dann an der „Chronik“ immer weniger und an „Pamjat“ immer mehr. Alles fing damit an, dass im Januar 1976 einige junge Leute aus Leningrad kamen. Einen von ihnen, Senja Roginskij, kannte ich flüchtig von früher durch meine Kontakte zu Tartu.

Hatte er zu diesem Zeitpunkt schon gesessen?

Noch nicht. Er saß um einiges später und zwar genau für „Pamjat“. Ohne ihn wäre nichts dabei herausgekommen, denn er wurde sofort zum Motor des ganzen Unternehmens. Sascha Dobkin tauchte in meinem Gesichtsfeld später auf. Das heißt, mit Arsenij Roginskij verständigte er sich schon, bevor der nach Moskau fuhr, aber Arsenij brachte mich erst später mit ihm in Leningrad zusammen. Nach Moskau fuhr Arsenij zusammen mit Sergej Dedjulin und ich glaube, damals tauchte auch Aljoscha Korotaev auf – er war Moskauer wie ich. Sie fuhren also zu Larissa Bogoraz und die schlug ihnen vor, mich hinzuziehen. Und wir trafen uns und dachten uns diesen historischen Sammelband aus. Im vorletzten Jahr wurde ein gutes Buch darüber herausgegeben, wie „Pamjat“ gemacht wurde. Die Materialien sammelten zwei Forscher: Anton Sveschnikov und Barbara Martin. Da ist alles ausführlich erzählt, es gibt einige lange Interviews mit Beteiligten, genauer mit Arsenij, mit Serjoscha Dedjulin, mit mir und mit Dima Zubarev. Tatsächlich war an diesem Unternehmen viel Volk beteiligt und zwar als Autor, als Herausgeber und von Zeit zu Zeit, als „innere Rezensenten“, Kommentatoren und Redakteure einzelner Materialien.

Hat Superfin da auch mitgemacht?

Nein. Superfin konnte aus einem einfachen Grund nicht mitmachen: weil er damals schon lange saß. Sein Name tauchte in der ersten Ausgabe in einem anderen Kontext auf. Der einleitende Text unserer Ausgabe endete mit dem Satz: „In Anerkennung der außerordentlichen Verdienste bei der Sammlung und Aufbewahrung lebender Tatsachen der Vergangenheit und der Gegenwart widmet die Redaktion die erste Ausgabe Gabriel Gavrilovitsch Superfin und Sergej Adamovitsch Kovalev.“ Garik war also einer der Adressaten der Widmung, aber kein Beteiligter. Wir bezogen uns auf ihre Arbeit in der „Chronik der laufenden Ereignisse“, vor allem auf die von Kovalev (er hatte damals schon gesessen); Garik hat aber in den Jahren 1970 – 1972 auch viel für die „Chronik“ getan. Wir betrachteten die „Chronik“ und „Pamjat“ wie eine Veröffentlichung, die sich in gewissem Sinne mit einer ähnlichen Sache beschäftigt: „Pamjat“ mit Bezug auf Inhalte der Vergangenheit, der Periode bis 1967, und die „Chronik“ mit Bezug zur Gegenwart nach 1968.

Möglicherweise irre ich mich, aber sagte Superfin nicht, dass für „Pamjat“ Materialien sogar aus geschlossenen Archivbeständen beschafft wurden?

Ja, einiges Material gelangte heimlich aus den Beständen, zu denen der Zugang verschlossen oder eingeschränkt war. Das war eine ziemlich schwierige und gefährliche Angelegenheit. Aber in „Pamjat“ gerieten nicht nur Archivmaterialien. Das wesentliche Corpus bestand aus Materialien nicht-offizieller Herkunft: Der größte Teil waren Memoiren, Tagebücher, Briefe, das, was in persönlichen und Familienarchiven aufbewahrt wurde. Vieles war eigens für den Sammelband auf unsere Bestellung geschrieben worden: Essays, analytische Artikel, einige Erinnerungen, kurze Notizen für den Abschnitt „Varia“. Meiner Meinung nach kam eine für diese Zeit gar nicht schlechte historiographische Veröffentlichung dabei heraus. Wir machten fünf Bände, dann wurde die Ausgabe eingestellt. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre wurde der Entwurf eines sechsten Bandes vorbereitet, aber den gaben wir nicht heraus. Anfang 1985 bekam Sascha Dobkin eine Warnung vom Staatssicherheitsdienst, dass, sofern der sechste Band erscheint, Roginskij nicht aus dem Lager herauskommen würde. Da schickte Sascha das ganze Material nach Paris zu Vladimir Alloj und Alloj begann auf dieser Grundlage seinen Almanach „Minuvscheje“ [Vergangenes] herauszugeben, ähnlich wie „Pamjat“, doch in erster Linie mit Materialien aus dem Ausland. Aber die ersten Bände des „Minuvscheje“ bestanden vor allem aus den „Pamjat“-Materialien, die Dobkin an Alloj übergeben hatte.

Waren Sie einer der Gründer von Memorial?

Nicht ganz. Gründungsväter waren weder ich noch Arsenij Roginskij. Die Idee zu Memorial entstand zu Beginn des Herbsts 1987 in der Umgebung der damaligen „Neformaly“ [subkulturelle Bewegung in der Sowjetunion der 80er und 90er Jahre] und sah etwas anders aus: Es ging um die Organisation eines Massenappells an die Regierung mit dem Aufruf, eine Gedenkstätte für die Opfer der politischen Repressionen zu schaffen, inklusive Museum, Archiv und Bibliothek. Leider wählten die Initiatoren einen Namen, der stark an Friedhof erinnert, jetzt haben sich alles an ihn gewöhnt, aber damals schnitt er scharf ins Ohr. Trotzdem rief die Idee in den Regionen unmittelbar große Resonanz hervor, überall entstanden Initiativgruppen. Gegen Ende des Jahres 1987 war das schon eine ziemlich breite Bewegung. Arsenij und ich kamen etwas später dazu, im Frühjahr 1988, und das Publikum bei Memorial gefiel uns. Arsenij klinkte sich unmittelbar in die Arbeit mit ein, ich etwas später im Sommer 1988. Ich glaube, dass wir, vor allem Arsenij, in die Aktivitäten bei Memorial eine gewisse neue Komponente brachten: eine selbständige historische Forschungsarbeit, die unabhängig von den traditionell-sowjetischen akademischen Institutionen war. Unsere Erfahrung mit „Pamjat“ spielte da wahrscheinlich auch eine Rolle. Überhaupt konnte man zu dieser Zeit eine allgemeine Wende bei den Aktivitäten von Memorial feststellen: Von Aufrufen an die Machthaber „Tut dies und jenes für uns“ zu hin zu „Stört uns nur nicht und öffnet unabhängigen Forschern den Zugang zu geheimen Partei-, Staats- und behördlichen Archiven, alles weitere machen wir selber.“ Eben in dieser Wende spielten auch Roginskij und ich eine bestimmte Rolle, aber allgemein waren schon viele Memorial-Aktivisten auch ohne uns innerlich zu diesem Umdenken bereit. Und im August 1988 kam ich dann ins Organisationskomitee, seitdem gehöre ich fest zu Memorial.

Sie haben irgendwann mal gesagt, dass bis zum August 1991 Jelzin und andere „Vorarbeiter der Perestroika“ Interesse an Memorial gezeigt hätten, weil es ein gewisser Rammbock für den Einsturz der kommunistischen Regierung war, die blutige Repressionen gegen das eigene Volk zugelassen habe. Als dann diese sogenannten „Demokraten“ an die Macht gekommen wären, hätten sie das Interesse am Gedenken an die Repressionen verloren. Erzählen Sie bitte davon!

Ja, anfangs hatten sie ein großes Interesse an unserer Bewegung. Jelzin trat 1988 sogar dem „Rat“ von Memorial bei. Übrigens erinnere ich mich noch daran, dass Jelzin im Juni 1991 erklärte, er würde nun, wo man ihn zum Präsidenten Russlands gewählt habe, alle Mitgliedschaften in öffentlichen Organisationen ruhen lassen, aber hinzufügte: außer bei Memorial. Doch nach dem 21. August 1991 verloren nicht nur die „Vorarbeiter“ ihr Interesse am Gedenken an den sowjetischen Terror und an der sowjetischen Geschichte überhaupt, sondern die ganze Gesellschaft. Im Grunde gab es ein Interesse auch vorher nicht. Das Interesse an den Verbrechen der Sowjetzeit war tatsächlich ein Interesse an der Frage der Legitimität der gegenwärtigen Regierung. Von welchem Zeitpunkt an war die Regierung denn verbrecherisch: Seit 1937, 1929, 1922? Und wann hörte sie denn auf verbrecherisch zu sein? 1953? 1956? 1985? Im aktiven Teil der Bevölkerung wurde es zu einem eindeutigen Konsens, dass diese Regierung von Anfang an, seit dem 25. Oktober 1917, Verbrechen begangen hatte. Und der Putsch vom 18. August 1991 und sein Scheitern setze einen Punkt hinter die zweite Frage. Danach hörte die Gesellschaft für lange Zeit auf, sich für die sowjetische Geschichte als solche zu interessieren. Die öffentliche Aufmerksamkeit wurde ausschließlich von ökonomischen Problemen und der aktuellen Politik bestimmt. Einen erneuten Aufschwung des öffentlichen Interesses an der historischen Problematik gab es erst zu Beginn der 2000er Jahre, als Geschichte wieder zum Feld politischer Auseinandersetzungen wurde.

Als man begann Stalin wieder zu reanimieren?

Nicht nur Stalin. Damals veränderte sich die gesellschaftliche Atmosphäre allgemein, der sowjetische Mythos begann wieder aufzuleben. Und vielen von denen, die diese Reanimierung des sowjetischen Mythos nicht akzeptierten, wurde plötzlich klar, dass ohne ein gutes Verständnis der Vergangenheit nichts funktionieren würde, nicht in der Gegenwart und auch nicht in der Zukunft. Und das Interesse an der Arbeit von Memorial begann erneut zu wachsen.

 

Erzählen Sie bitte von Ihren Projekten bei Memorial.

Irgendwann 1990 habe ich mir ein gewisses Profil ausgesucht: Die Geschichte des Andersdenkens, die Geschichte des Widerstands in der Nach-Stalin-Ära, die Geschichte der Dissidenten. Das Forschungsprogramm „Die Geschichte des Andersdenkens in der UdSSR“ wurde geschaffen, wir begannen eine archivarische Sammlung anzulegen, die ein Teil des Memorial-Archivs wurde. Ich stieß dieses Programm an, war lange Zeit bis in das Jahr 2008 der Leiter und blieb danach noch als wissenschaftlicher Berater darin tätig. Der größte Teil der Projekte wird nun von anderen, jüngeren und fortschrittlicheren Forschern geleitet. In den 30 Jahren haben wir in diesem Projekt ein umfangreiches Archiv zusammengestellt, viele Erinnerungs- und dokumentarische Bücher veröffentlicht. Was mich persönlich betrifft, so habe ich zu diesem Thema in Russland und im Ausland ziemlich viele Artikel sowohl wissenschaftlich-analytische als auch populär-wissenschaftliche in verschiedenen Sammlungen veröffentlicht, wahrscheinlich etwas mehr als zwei Dutzend. Und damit beschäftige ich mich immer noch.

Findet man die Memoiren von Dissidenten im Internet, sind sie dort zusammengefasst?

Ja. Viele Memoiren findet man auf der Seite des Sacharov-Zentrums ((https://www.sakharov-center.ru/asfcd/auth/?t=list). Aber sie platzieren nur die Memoiren derjenigen, die gesessen haben. Unsere eigenen Publikationen setzen wir auch mitunter auf die Seite von Memorial (www.memo.ru). Man findet sie dort in der Bibliothek, da sind zum Beispiel Erinnerungen von Zeitzeugen an den 5. Dezember 1965, den Tag der ersten Menschenrechtsdemonstration in der UdSSR (2005), der Band „Zastupnica“ [Fürsprecherin 1997], der der Anwältin Sofja Vasilevna Kallistratova gewidmet ist, die durch ihre Auftritte in politischen Prozessen berühmt wurde, eine Sammlung von Lager-Briefen Julij Daniels (2000) und noch mehr, aber belassen wir es dabei, das hier ist schließlich ein Interview und kein Bücherkatalog.

Was empfehlen Sie persönlich soll man über die Dissidentenbewegung lesen, die ja ein Beispiel für gewaltfreien Widerstand von Weltbedeutung ist? Es gibt das Buch der Französin Cécile Vaissié, das meiner Meinung nach aber am ehesten für Ausländer von Interesse ist, die gar nichts über die Dissidentenbewegung wissen.

Ich denke, die einzige auf Russisch erschienene seriöse Monographie, die die Erfahrungen des Dissidententums zusammenfasst, ist die „Geschichte des Andersdenkens in der UdSSR: Die jüngste Periode“ von Ljudmila Aleksejeva. Aber sie ist Anfang 1980er Jahre geschrieben worden und man könnte sie natürlich ergänzen und korrigieren. Eigentlich würde das die faktische Grundlage der Ereignisse wohl kaum stark verändern: Die Aktivitäten der Dissidenten vollzogen sich größtenteils nicht im Verborgenen und die Dissidenten bemühten sich selbst darum, sie sorgfältig und ausführlich zu dokumentieren und waren dabei in der Regel sehr sorgfältig und verzerrten nichts. Aber es wurden ziemlich viele offizielle Dokumente zugänglich gemacht, die die Motive und Strategien von Staatssicherheit und Parteielite bezüglich der Dissidenten und ihrer Tätigkeit erhellen. Leider gibt es keine aktuelle Monographie wie die, die Aleksejeva 1984 herausgegeben hat, die neues Material berücksichtigt. Wir haben bei Memorial gerade die Vorbereitung zur Herausgabe eines zweibändigen Lexikons abgeschlossen: „Biographisches Lexikon der Dissidenten Zentral- und Osteuropas.“ Es ist das Fazit eines großen internationalen Projekts, einer langjährigen kollektiven Arbeit. 2007 ist die erste Version dieses Doppelbandes in Warschau auf Polnisch erschienen. Wir haben eine neue Ausgabe auf Russisch vorbereitet, die deutlich überarbeitet ist: Die biographischen Skizzen, Bibliographien, der Anmerkungsapparat – alles ist neu überarbeitet, besonders der zweite Band, der den sowjetischen Dissidenten gewidmet ist. Ich hoffe, dass das Lexikon bald erscheint.

Leider ist das Phänomen bis jetzt nicht vollständig erfasst. Das aber ist sehr wichtig, weil die sowjetische Dissidentenbewegung die erste der Welt war, bei der Menschen von der Regierung forderten, die eigenen Gesetze einzuhalten, bei der eine Ideologie und eine Ethik des gewaltfreien Widerstandes entwickelt wurde. Das war doch ein völliger Bruch mit drei Generationen russischer Revolutionäre, die der Meinung waren, dass Terror angemessen ist. Nachdem sie gesiegt hatten, versäumten die Bolschewiken es nicht, in vorher ungekanntem Maßstab gegen jene „Erniedrigten und Beleidigten“ vorzugehen, für deren Interessen sie dem Worte nach vorher gekämpft hatten.

Ganz genau. Ich habe bei verschiedenen Veröffentlichungen in unterschiedlichen Sammlungen und Periodika versucht, dieses Phänomen im Ganzen zu erfassen. In dem Lexikon, von dem ich gesprochen habe, gibt es neben Biographien historische Skizzen, in denen das versucht wird. Aber dort ist das ganze Material über die Länder verteilt und diese Skizzen sind Einführungen in entsprechende Kapitel wie „Dissidenten in der DDR“, „Dissidenten in Rumänien“, „Dissidenten in Russland“ und so weiter. Ich bin bis jetzt nicht sicher, ob das der richtige Ansatz ist (zumindest für die UdSSR), aber das war eine gemeinsame Entscheidung, die wir im Verlauf von Diskussionen mit den ausländischen Kollegen getroffen haben. Und die Einführungen zu den verschiedenen Kapiteln wurden natürlich von verschiedenen Autoren geschrieben. Ich weiß nicht, ob man aus der Gesamtheit dieser Einführungen irgendein allgemeines Verständnis des Phänomens des Dissidententums im Allgemeinen herauslösen könnte. Tatsächlich waren die nationalen Dissidentenbewegungen in den sozialistischen Ländern Ost- und Zentraleuropas sehr verschieden und in den Sowjetrepubliken auch.

Sehr interessant ist der anthropologische Aspekt der Dissidentenbewegung. Ihre Eltern verbargen doch vor Ihnen nicht, womit sie sich beschäftigten?

Mutter vermied bis 1965 jegliche gesellschaftliche Betätigung („Politik, das ist ein verpestetes Gebiet“, das sagte sie nicht nur einmal), aber ihre Aktivitäten nach 1965 waren fast komplett öffentlich, was gibt es da zu verbergen? Was Vater betrifft, so hielt er sich selbst nicht für einen Aktivisten, sondern einzig und allein für einen Schriftsteller. Ich habe ja schon erzählt, wann und wie er mir von seiner Schriftstellerei im Untergrund berichtet hat.

Trotzdem, haben sie Sie bei Ihrer Beschäftigung mit der „Chronik“ und „Pamjat“ unterstützt, ungeachtet der Gefahr, dass man Sie verhaften könnte?

Natürlich hatte sie Bedenken. Aber bei der „Chronik“ war Larissa Bogoraz genauso beteiligt wie ich. Sie war nicht nur einer der ständigen Autoren des Sammelbandes, sondern beschäftigte sich mit redaktioneller Arbeit, mit dem Anmerkungsapparat, kommentierte usw. Julij Daniel hatte dort auch ein paar Veröffentlichungen. So war es zum Teil ein Familienprojekt.

Beschäftigen sich russische Akademiker heute mit dem Thema „Dissidenten“?

Es gibt da ziemlich viele Forscher, vor allem junge. Ihre Arbeiten erscheinen nicht nur in Moskau und in St. Petersburg, sondern auch in Ekaterinburg, Perm, Saratov, Nizhni Novgrorod, Voronezh, Pensa und so weiter. In der Bibliographie des sowjetischen Kapitels des Lexikons zählen wir einige von ihnen auf, einschließlich solche der letzten Jahre. Natürlich haben diese Arbeiten ein unterschiedliches Niveau. Was die ehemaligen Sowjetrepubliken angeht, so befassen sich teilweise Einrichtungen von recht hohem Status damit, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden: Das Zentrum zur Erforschung des Genozids und des Widerstands der Bürger Litauens zum Beispiel hat in Litauen ministeriellen Status, in Lettland werden diese Themen vom Nationalarchiv bearbeitet, in der Ukraine vom Institut des Nationalen Gedächtnisses. Das bedeutet, dass das Thema Dissidententum dort Teil der staatlichen Erinnerungspolitik ist (mit allen Vor- und Nachteilen, den ein solcher Status hat). Aber in den anderen Ländern des postsowjetischen Raums existiert das noch nicht. In Belarus etwa gab es früher den Verlag „Nascha Niva“, der sich mit dem Thema beschäftigte, den gibt es jetzt anscheinend gar nicht mehr. Aber geforscht wird dazu immer, sogar in Minsk. Übrigens wurden einige der Forschungsgruppen dort, wo es zuvor keine gegeben hatte, durch unser Projekt „Biographisches Lexikon der Dissidenten“ angeregt, das ich schon mehrfach erwähnt habe.

Erzählen Sie zum Schluss doch bitte etwas zu Ihren Schaffensplänen.

Als Fortsetzung des Lexikons haben wir bei Memorial die Idee einer Website entwickelt, die der Thematik des Dissidententums gewidmet ist. Es ist vorgesehen, dass ich dazu einen Audio-Vorlesungszyklus halte. Es gibt einige Pläne zur Herausgabe einer Reihe übersetzter Bücher, kürzlich kam die Idee auf, eine russische Übersetzung eines sehr interessanten Sammelbandes herauszugeben, den der tschechische Historiker Adam Gradilek zusammengestellt hat. Dieser Band heißt „Für eure und unsere Freiheit“ und ist den Protestreaktionen in den Ländern gewidmet, deren Truppen beim Einmarsch in die Tschechoslowakei beteiligt waren – die UdSSR, Polen Ungarn, Bulgarien, DDR. Das sowjetische Kapitel ist dabei gar nicht das interessanteste, weil schon das Buch von Ioshef Pazderki „Invasion“ auf Russisch erschienen ist, in dem die Reaktionen der Sowjetmenschen auf die Intervention ausreichend detailliert erhellt worden ist. Für den russischen Leser ist das Interessanteste in dem Sammelband Gradileks die Erzählung davon, was in Ungarn, Polen, der DDR und Bulgarien passierte; wir wissen in Russland sehr wenig darüber. Leider ist die Sache gerade wegen fehlender Finanzierung ins Stocken geraten. Aber ich beschäftige mich nicht nur mit der Geschichte der Dissidenten. Im NITs – dem Wissenschaftlichen Informationszentrum von Memorial Petersburg - habe ich schon intensiv in den Projekten „Virtuelles Gulag-Museum“ und „Nekrolog des Terrors“ gearbeitet und mache auch jetzt noch von Zeit zu Zeit etwas für diese Projekte. Außerdem gibt es einiges an Materialien - die eher informativen als forschenden Charakter haben - zur Geschichte des Großen Terrors der Jahre 1937 - 1938, zu Episoden des Widerstands in den 1920er Jahren, mehrere Texte zum Zustand des historischen Gedächtnisse in heutigen Russland. Einiges habe ich noch zusammen mit Arsenij Roginskij begonnen und bis zu seinem Tod nicht beendet. Das müsste alles gesammelt und in einen brauchbaren Zustand gebracht werden, sofern die Kräfte reichen.

Vielen Dank für das interessante Interview!

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

April 2020

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