(23.01.2006)

In wenigen Tagen wird die Parlamentsversammlung des Europa-Rates das Projekt einer Resolution „Über die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen, die durch totalitäre kommunistische Regime begangen wurden“ erörtern. Das Projekt wurde vom Politischen Komitee der Parlamentsversammlung des Europa-Rates vorbereitet.

Darin wird aufgezeigt, dass das Charakteristikum ausnahmslos aller totalitären kommunistischen Regierungen, die im vergangenen Jahrhundert in Zentral- und Ost-Europa die Macht ausübten, Massenverletzungen der Menschenrechte waren, die sich z. B. in zahllosen Hinrichtungen, Sklavenarbeit, der Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern, Deportationen und anderem staatlichen Massenterror äußerten.
Ganz besonders hatten unter dem Terror die Völker der ehemaligen Sowjet-Union zu leiden. In einigen postkommunistischen europäischen Ländern gab es Diskussionen auf nationaler Ebene, in deren Verlauf die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt wurden.
Wie es in dem Projekt jedoch heißt, befreit dies nicht die internationale Gemeinschaft von der Verpflichtung, eine deutliche Position gegenüber diesen Verbrechen einzunehmen. Es besteht die moralische Pflicht vor jenen Verbrechensopfern, die heute noch am Leben sind, vor den Familienmitgliedern der Umgekommenen, aber auch im Hinblick auf die Erziehung der jungen Generation und für die Zukunft überhaupt.
Die Parlamentsversammlung beantragt, die schweren Verbrechen, die von den totalitären kommunistischen Regierungen begangen wurden, zu verurteilen, Mitgefühl gegenüber den Opfern dieser Verbrechen zum Ausdruck zu bringen, sich an alle europäischen kommunistischen und postkommunistischen Parteien mit dem Aufruf zu wenden, die eigene Vergangenheit anzuerkennen und sich durch eine scharfe Verurteilung dieser Verbrechen in aller Deutlichkeit von ihnen zu distanzieren.
Nach den Vorstellungen der Autoren des Projektes soll das Komitee der Minister des Europa-Rates:
• einen aus unabhängigen Experten bestehenden Sonderausschuß gründen.
Aufgabe dieses Ausschusses soll das Sammeln und die Bewertung von Informationen über Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime sein;
• eine Kampagne zur öffentlichen Anerkennung dieser Verbrechen in Gang bringen;
• eine internationale Konferenz organisieren, an der Politiker, Vertreter akademischer Wissenschaftler und nichtstaatlicher Organisationen teilnehmen;
• an die postkommunistischen Staaten, die bereits Mitglider des Europa-Rates sind, die Empfehlung geben, analoge Maßnahmen auf nationaler Ebene zu ergreifen sowie die Geschichtsbücher an den Schulen inhaltlich zu überprüfen, Museen und Gedenkstätten zu schaffen, die dem Thema des Staatsterrors gewidmet sind, einen Gedenktag für die Opfer dieses Terrors zu organisieren und in ihren Ländern per Gesetz den europäischen Standard für den Zugang zu Archiv-Materialien zu garantieren.
Zum Projekt gehört eine „Erklärende Notiz“ des Referenten des Politischen Komitees, Herrn Göran Lindblad (Schweden), in der die Grundsätze der vorliegenden Resolution näher begründet und durch eine Zusammenstellung historischer Zeugnisse illustriert werden.
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Wir unterstützen in vollem Umfang die Initiative des Politischen Komitees der Parlamentsversammlung des Europa-Rates. Die Leitsätze des Projektes stimmen mit den Zielen und Aufgabenstellungen der Gesellschaft „Memorial“ vollständig überein. Aus unserer Sicht ist die öffentliche Anerkennung der Verbrechen der totalitären kommunistischen Regime die vorrangigste Notwendigkeit und absolut unerlässigste Bedingung für eine demokratiosche Entwicklung in den postkommunistischen Ländern.
Einige der in dem Resolutionsprojekt der Parlamentsversammlung des Europa-Rates empfohlenen Maßnahmen, konnten in vielen dieser Länder bereits verwirklicht werden. Manches ist auch in Rußland getan worden – vor allem durch die Bemühungen gesellschaftlicher Organisationen und Historiker: in vielen Regionen wurden zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen Denkmäler errichtet, es werden Listen mit den Namen von Opfern herausgegeben, von Zeit zu Zeit finden Ausstellungen statt, die der Geschichte des Totalitarismus gewidmet sind, es erscheinen stattliche Dokumenten-Sammlungen über politische Verfolgungen und den GULAG. Seit 1991 wird jeweils am 30. Oktober der Tag zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen begangen.
Aber die Hauptaufgabe, die sich auf staatlicher Ebene ergibt, ist die juristische Qualifizierung der Verbrechen, die durch das kommunistische Regime verübt wurden, - bis heute gab es darüber nicht nur keine Entscheidung, es wurden auch noch nicht einmal ernsthafte Schritte unternommen, um einen entsprechenden Beschluß voranzutreiben.
Nicht geschaffen wurden auch die notwendigen Voraussetzungen für die Erforschung des ganzen Umfangs und der Art der Verbrechen: der Zugang zu vielen wichtigen Archiv-Quellen ist bis heute immer noch eingeschränkt, und mitunter wird er sogar gänzlich verwehrt. Zeugnisse über den Terror werden an die junge Generation hauptsächlich durch Lehrbücher vermittelt, die darüber nur äußerst dürftig, oberflächlich und oft auch wiedersprüchlich, unaufrichtig und ausweichend informieren.
Demzufolge fehlt der öffentliche Konsens in der Bewertung des Regimes, das Millionen von Menschen vernichtet hat. Die von der Parlamentsversammlung des Europa-Rates vorgeschlagenen Resolutionen in Bezug auf den Zugang zu den Archiven, wie auch die Ausbildung and den Schulen, sind gerade in unserem Lande von höchster Aktualität.
Wir meinen, dass das Wort „Erklärende Notiz“ über „die Nostalgie des Kommunismus“, die in manchen Ländern immer noch lebt, leider voll und ganz auf das heutige Rußland zutrifft, und dass das System der internationalen Zusammenarbeit durch die Vorlage dieses Projektes einen bedeutsamen Beitrag zur Überwindung dieses Erscheinungsbildes leisten kann.
In der „Erklärenden Notiz“ zum Resolutionsprojekt gibt es einige Ungenauigkeiten bei der Darstellung historischer Fakten und vereinzelte, umstrittene, nicht immer ausreichend dokumentarisch begründete Bewertungen für das Ausmaß des Terrors. Aber das bestätigt nur die Haupt-These der Resolution – die Notwendigkeit der Schaffung eines Komitees aus unabhängigen, qualifizierten Experten für das Sammeln und die Bewertung von Informationen über die Verbrechen der totalitären kommunistischen Systeme.
Die Gesellschaft „Memorial“ ruft die Mitglieder der Parlamentsversammlung des Europa-Rates dazu auf, für das vom Politischen Komitee vorgelegte Resolutionsprojekt zu stimmen.
Insbesondere rufen wir alle Deputierten der Versammlung aus postkommunistischen Ländern dazu auf, ihre Stimmen für das Projekt abzugeben.
Die Abstimmung in der Parlamentsversammlung des Europa-Rates verschafft diesem Staat die einzigartige historische Möglichkeit, öffentlich und endgültig mit der totalitären Vergangenheit zu brechen – oder in dieser Vergangenheit noch für lange Zeit zu verweilen.
Wir sind überzeugt, dass die Öffentlichkeit Europas aufmerksam verfolgen wird, wie die Versammlung der Delegierten aus den postkommunistischen Ländern (nicht nur Vertreter der Kommunisten) über diese Frage abstimmt – und sie wird ihre Schlüsse daraus ziehen.
Falls diese Resolution verabschiedet und die entsprechenden internationalen Strukturen geschaffen werden, dann ist „Memorial“ zu einer Mitarbeit bei ihrer zukünftigen Arbeit bereit.
Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft „Memorial“
21. Januar 2006

Quelle: http://www.memo.ru/2006/01/23/pace.htm


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