Die Gesellschaft Memorial ist eine grundsätzliche und konsequente Anhängerin der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft einerseits und dem Staat sowohl im Ganzen als auch seiner unterschiedlichen Strukturen und Behörden im Einzelnen. Die Gesellschaft Memorial ist unverändert zur Fortsetzung des Dialogs des zivilgesellschaftlichen Sektors mit dem Staat bereit, solange es sich um einen gleichberechtigten und ehrlichen Dialog von zwei voneinander unabhängigen Partnern handelt.

Die "Gesellschaftskammer der Russischen Föderation", die gegenwärtig geschaffen wird, ist unserer Meinung nach weder von den für sie formulierten Zielen und Aufgaben her noch davon, wie ihre Mitglieder ausgewählt werden oder wie stark sie in staatliche Strukturen integriert ist, eine geeignete Plattform für solch einen Dialog. Mehr noch sind wir der Meinung, dass die "Gesellschaftskammer" in der Form, in der sie in dem gegenwärtig in der Staatsduma behandleten Gesetzentwurf beschrieben wird, in der Lage ist, Positives zu bewirken, sondern eher dem notwendigen nationalen Dialog Schaden zufügen wird.

Wir bestreiten nicht das Recht der Staatsmacht, beliebige Beratungs- und Expertenstrukturen aufzubauen, die natürlich auch aus Vertretern der Zivilgesellschaft bestehen können. Wir halten solche Strukturen sogar für nützlich. Vertreter von Memorial arbeiten in vielen solcher Strukturen auf regionaler oder Bundesebene mit und arbeiten dort, so hoffen wir, zum gemeinsamen Wohl.

Die im Gesetzentwurf genannten Ziele der "Gesellschaftskammer" gehen aber weit über die Grenzen von beratenden und Expertenaufgaben hinaus. Allumfassend und unkonkret wie sie sind, stimmen diese Ziele kaum oder gar nicht mit den politischen Realitäten der vergangenen Jahre überein. Das bringt uns zu der Überzeugung, dass die Kammer die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Lenkung des Landes nur imitieren soll und wohl das nächste Instrument zur Manipulation des öffentlichen Bewusstseins werden wird.

Unsere Zweifel werden noch größer, wenn wir uns anschauen, wie die Kammer gebildet werden soll.


Zwei Drittel dieses, wie wir es uns vorstellen, gesellschaftlichen Gebildes werden direkt oder indirekt durch den Präsidenten ausgewählt. Dieses Auswahlprinzip gilt natürlicherweise für beratende Organe beim Präsidenten, aber nicht für ein Organ, dass, wie im Gesetzesentwurf beschrieben, dabei helfen soll, eine gesellschaftliche Kontrolle der Tätigkeit staatlicher Strukturen, darunter auch Bundesbehörden, auszuüben.

Noch größeren Widerspruch ruft der Mechanismus zur Berufung des letzten Drittels der Mitglieder der Kammer hervor. Auf den ersten Blick wirkt er demokratischer, denn die Kandidaten müssen sich Konferenzen stellen, die in den sieben föderalen Bezirken einberufen werden. Unser Widerspruch entzündet sich aber nicht einmal daran, dass sich im Gesetzentwurf keine Regelungen finden, nach denen diese Konferenzen einberufen werden und sich so den regionalen Staatsstrukturen viele Möglichkeiten zur Manipulation der Nichtregierungsorganisationen bieten. Etwas anderes ist viel wichtiger: Für die Zivilgesellschaft ist die Idee selbst unannehmbar, solche Konferenzen durchzuführen, auf denen Künstlervereinigungen und Menschenrechtsorganisationen, Verbraucherschutzverbände und Industrievereinigungen, Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften, Kosaken und Angler gemeinsam und dauerhaft ihre Vertreter in irgendein höheres Gremium entsenden, dass ihre Interessen dem Staat gegenüber vertreten soll. In der Praxis wird dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit zur Selektion der gesellschaftlichen Organisationen in "saubere" und "unsaubere", in zum Dialog zugelassene und zu ihm nicht zugelassene führen. Und dabei ist es nicht einmal wichtig, ob diese Selektion durch den Staat oder durch die Nichtregierungsorganisationen selbst durchgeführt wird. Beides ist für die Zivilgesellschaft gleich zerstörerisch.

Die Kammer selbst, so sie auf diese Weise gebildet wird, wird vom Staat und einem Teil der Gesellschaft zweifellos als "gesetzmäßige Vertretung" der gesamten Zivilgesellschaft wahrgenommen werden. Die Zivilgesellschaft ist aber, im Gegensatz zum Staat, von Natur aus nicht hierarchisch und jeder Versuch sie zu hierarchisieren ist kontraproduktiv. Die Zivilgesellschaft ist ein prinzipiell horizontales und offenes System. Sie hat keine "Vertretung" und kann keine haben. Sobald in ihr eine "Vertikale" erscheint, hört sie auf sie selbst zu sein und verwandelt sich in eine bürokratisierte Korporation, die leicht durch die Exekutive gelenkt werden kann.

Die Zivilgesellschaft und der Staat müssen unabhängige Partner im nationalen Dialog sein. Alle Versuche, diesen Dialog in einem Organ zu konzentrieren werden lediglich zur Imitation dieses Dialogs führen. In einer Kammer, die in das System der staatlichen Macht eingebaut ist, wird der Staat nur mit sich selbst reden.

Ein anderer Weg wäre produktiver: Der Weg, Bedingungen zu schaffen, unter denen vielfältige und unabhängige Zellen der Zivilgesellschaft zum Wohl der Bürger Russlands und des Landes insgesamt nützliche Arbeit tun können.

Nichts hindert Staat und Gesellschaft daran, die bereits existierenden Kanäle des Zusammenwirkens zu nutzen und die gemeinsame Arbeit anhand vielzähliger Vorschläge gesellschaftlicher Organisationen zur Lösung konkreter und ernsthafter Probleme weiter zu entwickeln. Dabei geht es um das Recht der Bürger, sich an die Staatsorgane zu wenden, um die öffentliche Kontrolle von Gefängnissen, Straflagern und geschlossenen Anstalten, um eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle der Einhaltung der Rechte von Soldaten, um eine unabhängige ökologische Expertise, um die Stimulierung von gemeinnützigem Handeln und vielem anderen mehr.

Dazu muss kein neuer bürokratischer Überbau über den Nichtregierungsorganisationen geschaffen werden.

Im Zusammenhang mit dem oben Dargelegten ist für Memorial eine Beteiligung an der "Gesellschaftskammer der RF" nicht möglich.

Wir wenden uns auch an die Kollegen aus anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Hoffnung, dass sie unsere Argumente bei ihrer Entscheidung über eine Beteiligung an der Gesellschaftskammer zu Kenntnis nehmen.


Vorstand der Russischen Gesellschaft Memorial


Quelle: Russischer Nachrichtenserver von Memorial: http://www.memo.ru/daytoday/5palata1.htm

Übersetzung aus dem Russischen: Jens Siegert
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