(07.03.2002)

(ein Bericht aus der Zone des bewaffneten Konfliktes von Alexander Tscherkasow, einem Mitarbeiter des Zentrums für Menschenrechte "Memorial", vom 5.03.2002)


Deutsche Übersetzung Anna Schor-Tschudnowskaia

In der Zone des bewaffneten Konfliktes in Tschetschenien "verschwinden" immer wieder Menschen, die von Vertretern der Föderalen Kräfte festgenommen werden. Wie und warum geschieht dies? Es existiert doch ein Amt, das verpflichtet ist, die Lage der Festgenommenen und das Ermittlungsverfahren zu überwachen, nämlich die Staatsanwaltschaft. Man kann heute unmöglich behaupten, dass die Staatsanwaltschaft der tschetschenischen Republik tatenlos bleibt - der Staatsanwalt Wsewolod Tschernow bemüht sich darum, dass alle festgenommenen Menschen in seinem Blickfeld bleiben. Und dennoch…

Hier werden fünf solcher "Verschwindungsfälle" angeführt:

Der erste geschah am Freitag, dem 1.03.2002 - in Urus-Martan "verschwand" ein Bewohner des Dorfes Alchan-Jurt, Gelani Asuchanow, nachdem er festgenommen wurde.

Er wurde am 12. Februar festgenommen und blieb die ganze Zeit in der Untersuchungshaft bei dem WOWD (Gebietsabteilung des Amtes für innere Angelegenheiten) von Urus-Martan, das unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft steht. Am 1.03.02 wurde Asuchanow gegen Abend aus der Untersuchungshaft entlassen. Als er mit seinen Verwandten und dem Administrationschef des Dorfes Alchan-Jurt die Stadt Urus-Martan verlassen wollte, wurde ihr Wagen von dem Grenzposten aufgehalten. Dann kamen mit einem wei&_355;en Auto der Marke WAS-2106 Männer in Tarnuniform und Masken, packten Gelani Asuchanow und fuhren mit ihm zur Militärkommandatur der Stadt Urus-Martan. Von Asuchanow blieb keine Spur, er "verschwand", seine Verwandten fragten bei mehreren offiziellen Ämtern nach, konnten jedoch über ihn nirgendwo eine Auskunft bekommen.

Anzumerken ist, dass in den letzten beiden Jahren im Umkreis von Urus-Mantan mehr als hundert Menschen "verschwanden", viele Spuren führten in diese Kommandantur, wo im zweiten Stockwerk die Gebietsstelle des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) ist. Es ist gesetzwidrig, jemanden dort festzuhalten, jedoch ist diese FSB-Stelle au&_355;erhalb der Kontrolle der Staatsanwaltschaft.

Menschen "verschwinden" auch im Laufe der sogenannten "Spezialeinsätze", Ortsbewohner und auch Militärs selbst nennen sie einfach "Säuberungen", obwohl dieser Begriff offiziell nicht existiert. Diejenigen, die im Laufe der "Säuberungen" festgenommen werden, werden meistens in eine am Rande des Dorfes liegende "Vorübergehende Filtrationsstelle" gebracht, obwohl es offiziell "Filtrationsstellen" nicht gibt. Seit einigen Monaten sind der Befehl Nr. 145 (des Oberbefehlshabers der Föderalen Gruppe) und der Befehl Nr. 46 (des Oberstaatsanwaltes) in Kraft getreten, die alle Staatsanwälte dazu verpflichten, die "Säuberungen" zu kontrollieren und zu sichern, dass während der "Filtrationen" keine Menschen "verschwinden".

Aber hier ist noch ein solcher Fall. Am 1.03.2002 lief eine sogenannte "Säuberung" im Vorort von Grosny, dem Sowchos des "60-jährigen Jubiläums der Oktoberrevolution", in deren Lauf 19 Menschen festgenommen wurden. Zwei davon sind "verschwunden" - Adam Murtasow und Magaram Chabibulin. Andere Menschen, die ebenfalls in dieser "Filtrationsstelle" waren, haben gehört, wie Murtasow und Chabibulin geschlagen wurden. Später wurde per Funk ein Lastwagen beordert mit den Worten "Den einen werden wir einladen müssen, der andere kann selbst einsteigen". Später kam heraus, dass ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft des (ländlichen) Umkreises von Grosny, der zur Aufsicht dieser "Säuberung" abkommandiert wurde, sich ein wenig verspätet und den Anfang der Operation verpasst hat. Genau in der Zeit seiner Abwesenheit verschwanden zwei Menschen.

Sie sind wahrscheinlich von dem Militärgeheimdienst entführt worden, der jedoch laut offiziellen Angaben über keine gesetzlich vorgesehenen Stellen der Untersuchungshaft verfügt. Es gibt dennoch solche Stellen, z.B. in Chankala (die Hauptbasis der föderalen Kräfte in Tschetschenien), sie sind aber absolut gesetzwidrig und ebenfalls für eine Kontrollmacht durch die Staatsanwaltschaft unerreichbar.

In den letzten Monaten kam es vor, dass Menschen auch aus den Nachbarrepubliken, z.B. Inguschetien, "verschwanden".

Hier ist ein dritter Fall, der weniger als drei Wochen zurückliegt. Am späten Abend des 14. Februars 2002, etwa um 23 Uhr, drangen ca. 12 bewaffneter Männer (in Tarnuniform und Masken) in das Haus Nr. 14 auf der Saretschanaja Stra&_355;e (Stadt Karabulak) ein. Sie verhafteten den Bewohner des Hauses, Naip Idigow, der aus Tschetschenien stammt und nach Inguschetien zwangsumgesiedelt war. Die Männer kamen aus Tschetschenien mit einem UAS-Auto und einem Auto der Marke "Gazel", beide mit tschetschenischen Kennzeichen, und fuhren mit dem Festgenommenen zurück nach Tschetschenien.

Am nächsten Tag, dem 15.02.02 berichtete ein Moderator der Spätnachrichten des Fernsehkanals ORT, dass die "föderalen Kräfte im Laufe eines auf dem tschetschenischen Territorium durchgeführten Spezialeinsatzes den Rebellenführer Naip Indigow liquidiert haben, der Terroanschläge organisiert" habe. Die Verwandten von Indigow wandten sich an die Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik. Ihnen wurde jedoch gesagt, dass man im Falle einer "Entführung" von Naip Indigow auf dem Territorium von Inguschetien eben dort ermitteln müsse, die tschetschenische Staatsanwaltschaft wäre deshalb für den Fall nicht zuständig.

Dieser Mensch verschwand zum Teil auch deswegen, weil die tschetschenische Staatsanwaltschaft formal nur für das tschetschenische Territorium zuständig ist, der "Regionale operative antiterroristische Stab" ist jedoch auch au&_355;erhalb dieses Territoriums tätig. Aufgrund dieser Nichtübereinstimmung sind schon mehrere Menschen verschwunden, die im Laufe "punktueller Einsätze" in Inguschetien festgenommen und nach Tschetschenien entführt wurden.

Wohin verschwinden die Menschen? Manchmal werden sie später gefunden - mit Spuren von Folter und gewaltsamen Tod. Hier ist noch ein Fall, der allerdings "glücklich" ausging - die Leiche des Betroffenen wurde gefunden.

Am 1.03.2002 wurde auf dem Gelände eines Getreidespeichers am Rande der Stadt Argun ein Sammelgrab gefunden. Darin waren Reste von 24 Menschen. Einer von ihnen konnte identifiziert werden (anhand eines ehemals gebrochenen und falsch zusammengewaschenen Knochens) - Abdul-Wachab Jaschurkajew, 60 Jahre alt, ein Dorfbewohner, der während einer zwischen dem 11. und 14. März 2001 durchgeführten "Säuberung" festgenommen wurde und danach "verschwand". Insgesamt wurden damals während dieser "Säuberung" 11 Menschen festgenommen. Noch am 13. März 2001 wurde in der Stadt Chankala ein Grab mit den Resten der 4 dieser 11 in Argun Festgenommenen gefunden. Die Militärstaatsanwaltschaft ermittelt wegen gewaltsames Todes.

Gleich nach der "Säuberung" im März 2002 kursierten in Argun Gerüchte, dass die Leichen anderer "Verschwundener" auf dem Gelände des Getreidespeichers liegen, damals hat man sie dort jedoch wahrscheinlich nicht finden können. Die Verwandten von Jaschurkajew wandten sich an verschiedene Ämter, konnten jedoch keine Information über sein Schicksal bekommen. Am 3. März 2002 bekamen sie dann die Reste von Jaschurkajew. Von den 11 damals Festgenommenen und "Verschwundenen" sind 6 immer noch nicht gefunden worden.

In Argun verschwinden Menschen aber weiterhin. Hier ist der letzte, fünfter Fall - vier junge Männer verschwanden im März dieses Jahres.

Am Samstag, den 2. März, etwa gegen Mittagszeit, wurden vier Bewohner von Argun (Apti Bargajew, Beslan Bechajew, Schamil Idrisow und Alichan Musajew) festgenommen und in unbekannte Richtung verschleppt - von Soldaten, die auf Panzern eintrafen. Laut Verwandten wurden drei von diesen Männern bei sich zu Hause festgenommen, Idrisow - auf einer Stra&_355;enkreuzung. Anscheinend wurden einfach die ersten besten, d.h. zufälligen Menschen festgenommen. Bereits eine Stunde später wandten sich die Familienangehörige schriftlich an die verschiedensten Ämter - an die Stadtadministration, an die Militärkommandantur, an die Gebietsstaatanwaltschaft - konnten jedoch zunächst keine Information über die Festgenommenen bekommen. Am Morgen des 4. März haben sie in der Stadtadministration zufällig erfahren, dass im Innenhof der Militärkommandantur vier Leichen liegen - mit mehreren Schusswunden. Die Verwandten konnten die zwei Tage davor Festgenommenen identifizieren. Laut Militärs waren das Rebellen, die in einem Kampf in der Nacht auf den 3. März 2002 gefallen sind. Dies ist jedoch eine sehr merkwürdige Version. Die ermordeten verbrachten ihre letzten Stunden mit durch Draht gebundenen Händen (auf Handgelenken blieben eindeutige Spuren übrig) - sie konnten kaum an einem Kampf teilnehmen. Wir werden höchstwahrscheinlich einen Bericht über einen "siegreichen" Nachtkampf der Föderalen Kräfte noch hören.

Die Verwandten hatten "Glück" - sie haben gleich am dritten Tag die Leichen gefunden und sie mitnehmen dürfen. In der Zeit des "Zweiten Tschetschenienkrieges" werden jedoch allein in der Stadt Argun noch 70 Menschen vermisst.

Diese Beispiele aus den letzten Wochen zeigen uns, dass das "Verschwinden" und der Tod derjenigen, die festgenommen werden, keinesfalls "Einzelfälle" und "Ausrutscher" sind. Hinter der Fassade des offiziellen Systems und der offiziellen Untersuchungshaft ist ein inoffizielles System gesetzwidriger Festnahmen am Laufen - meistens auf dem Gelände des Militärs. Sein Zentrum ist in Chankala - dem Hauptsitz der Föderalen Kräfte. In diesem parallelen "Ermittlungssystem" wird grausame Folter praktiziert, die oft die Todesursache der Festgenommenen ist. Es werden Hinrichtungen praktiziert - ohne Untersuchung und ohne Gericht. In die Rechtssphäre dringen militärische Spielregeln ein. Die Gewalt wird privatisiert. Die Untersuchungshaft als eine staatliche Institution wird missbraucht und zerstört.

Dies alles wurde dadurch möglich, dass föderale Kräfte in Tschetschenien von niemandem kontrolliert werden. Die Versuche der Staatsanwaltschaft, eine Kontrolle der "Spezialeinsätze" und der Stellen der "vorübergehenden Festnahme" einzuführen, werden sabotiert. Gerade die fehlende Kontrolle führte jedoch dazu, dass der Geheimdienst kein Ergebnis erzielt, sondern nur ein Ergebnis seiner "Arbeit" imitiert - wie z.B. den Bericht über die "Vernichtung des Terroristen Idigow" oder den "siegreichen Nachtkampf".
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