John Hall, Professor aus Amerika, verbrachte neun Wochen in der Ukraine

 

Denys Volocha

 

Mein Name ist John Hall. Ich bin Professor für Jura an der Fowler School of Law in der Stadt Orange, Kalifornien.

Ich bin in die Ukraine gekommen, um als Freiwilliger in der Charkiver Menschenrechtsgruppe mitzuarbeiten, um mit allen mir möglichen Mitteln zu helfen und auch, um Material für meine eigene wissenschaftliche Arbeit über die Zerstörung von kulturellem Erbe zu sammeln. Ich lehre Internationales Recht und Recht im Bereich der Kunst. Ich interessiere mich schon seit einigen Jahren, seit meiner Arbeit in Kambodscha, sehr für Fragen der Zerstörung von kulturellem Erbe und Kulturgut. Ich habe mit großem Interesse von der systematischen Zerstörung der ukrainischen Kultur durch die russischen Okkupanten gelesen. Und ich habe großes Interesse, dieses Thema zu erforschen und darüber zu schreiben. 

Was ist das Problem bei dem Begriff Genozid? 

Die Frage des kulturellen Genozids ist gleichzeitig sehr interessant und auch sehr umstritten. Als man das erste Mal begann, über Völkermord und eine Völkermordkonvention zu sprechen, enthielt der Entwurf drei wesentliche Bestandteile, die auf Lemkins Ideen zum physischen Genozid, zum biologischen Genozid und zum kulturellen Genozid beruhten. Der dritte Bestandteil, der kulturelle Genozid wurde in der Völkermordkonvention schließlich fallen gelassen. Und er ist auch zum Beispiel nicht direkt in der Definition von Genozid des Internationalen Strafgerichtshofs enthalten.

 


© Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Deshalb haben wir die Auffassung, dass der Genozid, „das Verbrechen aller Verbrechen“, sich nur auf den vollständigen oder teilweisen Massenmord an einer Gruppe von Menschen bezieht, auf Gewaltverbrechen gegen Angehörige dieser Gruppe oder auf den langsamen Tod dieser Gruppe, den biologischen Tod dieser Gruppe. Die Zerstörung der Kultur einer bestimmten Gruppe von Menschen zum Teil oder vollständig ist nicht Teil der Völkermordkonvention. Dieses Konzept war und bleibt sehr umstritten. 

So behandeln wir zum Beispiel die Zerstörung eines Museums während eines Krieges gleich, unabhängig davon, ob das die absichtliche Zerstörung eines Gebäudes als Teil einer militärischen Kampagne war oder der Versuch, diese Kultur auszulöschen. Und diese Situationen sind doch offensichtlich sehr, sehr unterschiedlich. Mit dem Verbrechen eines kulturellen Völkermordes hätten wir eine wesentlich schwerere juristische Verantwortung, eine deutlicheren subjektiven Tatbestand. Wir müssten beweisen, dass dieses konkrete Ereignis, dieses Verbrechen, die Zerstörung dieser Kirche, dieses Museums und dieses Archivs Teil eines Genozids war – der Versuch, diese Kultur auszulöschen und nicht nur eine zufällige Vernichtung von Kulturgut.

 

 
© Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Ich habe zum Beispiel in Kambodscha die Erfahrung gemacht, dass die Menschen empört waren, als die Angeklagten vor dem Tribunal in Phnom Penh zunächst nicht des Völkermordes angeklagt wurden. Die Menschen waren zornig darüber, dass der Mord an Millionen Kambodschanern nicht als Völkermord angeklagt wurde. 

Nun, das lässt sich damit erklären, dass die juristische Definition des Genozids, wie wir wissen, begrenzt ist. Ich bin sehr dafür, unsere Auffassung des Genozids zu erweitern, um die absichtliche Zerstörung des kulturellen Erbes mit dem Versuch, eine ganze Kultur, ganz oder teilweise zu zerstören, ganz klar einzubeziehen. 

Was sind Beweise für die Zerstörung von Kultur? 

Ich denke, das Wichtigste, was Organisationen zum jetzigen Zeitpunkt tun können, ist, Beweise zu sammeln. Wir sind derzeit immer noch bei der Dokumentation des Geschehens. Und das ist aus mehreren Gründen wichtig. 

Es legt den Grundstein für zukünftige Gerichtsprozesse, die der Internationale Strafgerichtshof oder die Staatsanwaltschaft der Ukraine durchführen werden. Wenn wir das jetzt dokumentieren, dann gewährleisten wir, dass die Russen und Putin nicht werden behaupten können, dies sei eine Übertreibung oder das habe es nie gegeben, das sei nur eine unbeabsichtigte Randerscheinung gewesen oder die Aktion sei schlecht ausgeführt worden. 

Wir müssen Beweise für das Ausmaß und den systematischen Charakter der begangenen Verbrechen sammeln. Das ist das Allerwichtigste. Der nächste Schritt wird dann eine strafrechtliche Verfolgung sein. 

Zu beweisen, dass die Vernichtung von Kulturgut in der Ukraine vorsätzlich erfolgt ist, wird sehr schwierig. Ohne Zweifel wird die Verteidigung argumentieren, dass es sich um Zufall handelt, dass tatsächlich militärische Objekte das Ziel waren, dass es eine zufällige Vernichtung von kulturellem Erbe war. Oder dass die Ukrainer neben den Kulturobjekten militärische Einheiten stationiert hatten. 

Im Krieg in der Ukraine gibt es jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass die russischen Soldaten mit Absicht ukrainisches Kulturerbe attackieren. Das Skovoroda-Museum ist wahrscheinlich ein klassisches Beispiel unter den Orten, die wir besucht haben.

 

 
Das zerstörte Skovoroda-Museum. Foto: Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Das war ein Museum und ein Haus, das einem ukrainischen Dichter und Philosophen des 18. Jahrhunderts gehört hatte, auf das 2022 russische Raketen fielen, es steht mitten im Wald. Es ist sehr weit weg von anderen Gebäuden. Es gibt keinerlei militärische Objekte oder Ziele in der Nähe, und die nächsten kleinen Dörfer liegen Hunderte von Metern weg. 

Auf diesem Territorium war nichts außer diesem Gebäude, das durch russische Raketen im Mai 2022 vollständig zerstört wurde. Es war weit entfernt von aktiven Kampfzonen.

 

 
Skovorodinivka. © Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Folglich könnte es sich entweder um einen Zufall handeln, was ziemlich sinnlos klingt, oder es war ein vorsätzlicher Angriff auf einen sehr wichtigen Teil ukrainischen Kulturerbes.

 

Ich war schockiert über das Ausmaß der Verbrechen

 

Früher, als ich Anwalt war, hat man uns beigebracht, leidenschaftslos zu sein und zu versuchen, auf die rechtliche Situation aus einer gewissen Distanz zu schauen ohne die Verpflichtung, sich auf eine Seite zu stellen. Als Menschenrechtsaktivisten neigen wir allerdings dazu, eine Seite zu wählen. 

Aber ich war schockiert über das Ausmaß der Verbrechen, die die Russen während der Besatzung begingen. Das war nicht einfach schlechtes Verhalten von Soldaten während der Kampfhandlungen oder danach. Das war eine systematische Schikanierung des ukrainischen Volkes.

Massenvergewaltigungen, Vergewaltigungen von Kindern, zahlreiche Morde, vorsätzliche Zerstörung von zivilen Gebäuden und ziviler Infrastruktur. Das waren keine außergewöhnlichen Vorfälle. Das war überall so. Überall, wo es russische Besatzung gab, vor allem nach dem Angriff 2022 haben sie die Menschen schikaniert.

 

 
Professor Hall im befreiten Izjum, © Denys Volocha / KHPG

 

Ich habe mit Opfern gesprochen, zum Beispiel mit einer älteren Frau in einem Dorf bei Butscha. Sie hat erzählt, dass die Russen wahllos Menschen auf der Straße erschossen haben, wenn sie sie sahen. Deshalb haben sie und ihr Mann und die meisten Nachbarn Monate im Keller zugebracht. 

Ihr Mann brachte einer betagten Nachbarin zu essen und wurde von einem Russen erschossen. Seine Leiche lag mehr als zwei Wochen auf der Straße, bevor sie ihn bergen konnte. Als sich die Russen schließlich zurückzogen, brannten sie ihr Haus und viele andere nieder. 

Es sieht aus, als würden die Russen die Ukrainer wie Untermenschen behandeln. Und das ist unmöglich zu verzeihen. Für mich war das die größte Veränderung: Das Bewusstwerden des Ausmaßes an Verbrechen der Russen und das wachsende Gefühl des Hasses auf das, was die Russen angerichtet haben. 

Ich denke, es besteht die Gefahr, dass die westlichen Medien dies in einen Krieg der Raketen und Bomben verwandeln und dass dieser Krieg in weite Ferne rücken wird. Über die Gewalt aber der russischen Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung wird nicht ausreichend berichtet.

 

Eindrücke von der Ukraine


Ich bin 2013 – 2014 zu Konferenzen in die Ukraine gefahren, deshalb hatte ich von Kyjiv schon ein wenig gesehen. Obwohl klar ist, dass das eine völlig andere Situation war als jetzt. Bevor ich hierher kam, hatte ich erwartet, ein Land zu sehen, das komplett vom Krieg verwüstet ist. Ich denke, die Medien in Europa und in den USA berichten über Schlachtfelder, Raketen, Leid. Ich hatte erwartet, dass ich auch in Kyjiv und Charkiv diese Seite des Krieges sehen würde. Und das habe ich natürlich nicht. Es war viel normaler. Und ich glaube, genau das hat mich überrascht: die Normalität des Lebens der Menschen. Die Menschen leben einfach ihr Leben, so wie sie es leben sollten. Sie gehen zur Arbeit, gehen einkaufen, kümmern sich um ihre Familien. Was mich während meiner Zeit hier noch überrascht hat, ist die Stärke der Menschen. Das klingt etwas banal, aber in diesen zwei Monaten habe ich kein einziges Mal jemanden sagen hören, dass die Ukraine diesen Krieg verlieren könnte.

 


Skovorodinivka. © Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Die Menschen sind voller Entschlossenheit. Sie sind auf den Sieg ausgerichtet, auf Unabhängigkeit und auf eine demokratische Zukunft. Es gibt keinen Zynismus. Es gibt kein: „Oh, es läuft nicht gut.“ Nein, es herrscht die absolute Bereitschaft, mit den Besatzern zu kämpfen. 

Wissen Sie, man hat mir erklärt, dass die Ukrainer mit einer Stange aus Stahl im Rückgrat geboren werden. Und ich denke, das ist wahr! Sie kommen damit zurecht und arbeiten gemeinsam für den Sieg. Das ist eine erstaunliche Sache.

 

 

Die Ukrainer, obwohl sie Opfer der Grausamkeit der Russen sind, sind keine Opfer per Definition. Sie sind starke Menschen, die für ihre Unabhängigkeit gegen Besatzer kämpfen. 

 

Wird Putin dafür bezahlen? 

Wie können wir die Täter vor Gericht bringen? Das ist ein ewiges Problem des Internationalen Strafrechts. Wie können wir zum Beispiel Staatsoberhäupter vor Gericht bringen? Manche Leute sagen, das sei unmöglich. Wir können nicht erwarten, dass ein Staatschef wie Putin jemals vor ein Strafgericht oder den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wird. Ich bin mir da nicht so sicher.

 

 
© Denys Volocha / KHPG

 

Und die Geschichte beweist, dass selbst Menschen, die völlig außerhalb der Reichweite der Justiz zu sein schienen, später vor Gericht gestellt wurden. Deshalb denke ich, dass das durchaus möglich ist.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Das Video-Interview mit John Hall finden Sie hier.

 


Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.


17. September 2024

 

 

 

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