Maryna Lypovetska über die Arbeit des Kindersuchdiensts 'Magnolija'

Oleksij Sydorenko


Wie die Russen die Suche nach ukrainischen Kindern erschweren, über das Mobbing ukrainischer Kinder in europäischen Schulen, die Wiedervereinigung von Familien – über die Probleme und die Freuden in der Arbeit des „Kindersuchdienstes ‚Magnolija‘“ berichtet Maryna Lypovetska.

Der „Kindersuchdienst“ arbeitet schon über 20 Jahre in der Ukraine und hilft bei der Suche nach vermissten Kindern und bemüht sich, sie in Sicherheit zu bringen. Er wurde auf Initiative engagierter Journalisten gegründet, die die Idee hatten, mithilfe medialer Ressourcen – damals war das nur das Fernsehen – Bürger darüber zu informieren, unter welchen Umständen ein Kind verschwunden war, und seine Fotografie zu zeigen. Das erhöht die Chancen wesentlich, es wieder aufzufinden.

Im Jahre 2001 wurde die Organisation „Magnolija“ offiziell registriert. Bald darauf begannen wir, unterschiedliche Ressourcen einzusetzen, um möglichst schnell bei der Suche nach vermissten Kindern zu helfen. Vor 20 Jahren haben Eltern, die sich an uns wandten, Briefe von Hand geschrieben und Fotos des vermissten Kindes beigefügt. Wir hatten eine besondere Person, die jeden Tag zum Kyjiver Hauptbahnhof ging, um Briefe von Eltern in Empfang zu nehmen, die von Zugschaffnern übergeben wurden.

Jetzt zeigt sich ein ganz anderes Bild. Um schnell über ein vermisstes Kind zu informieren, reicht es auch, die Hotline 115000 anzurufen, die von jedem Mobiltelefon aus jedem Winkel der Ukraine zu erreichen ist. Wir haben auch Chat-Bots entwickelt.

 


Maryna Lypovetska, Leiterin des „Kindersuchdiensts Magnolija“

 

Wie hat der Krieg sich auf die Arbeit des „Kindersuchdiensts“ ausgewirkt?

Leider war niemand darauf vorbereitet, was am 24. Februar 2022 passierte. Neben unserem Büro gab es zwei Raketeneinschläge, deshalb waren sogar die Kommunikation und die Verbindung mit unserer Hotline gestört. Aber wir verstanden alle, dass wir die Verbindung aufrechthalten und kurzfristig etwas unternehmen mussten, damit sich die Menschen an uns wenden konnten. Denn in 20 Jahren war die Bezeichnung „Kindersuchdienst“ so bekannt geworden, dass Menschen beim Verlust von Kindern auf unsere Hilfe zählten.

Zu Beginn der Invasion wurden alternative Kanäle geschaffen, über die die Leute uns kontaktieren konnten. Das waren Telegram-Bots, eine Facebook-Seite, Chat-Bots auf unserer Seite „Kindersuchdienst“. Früher hatten wir pro Jahr etwa 300 Mitteilungen von Eltern erhalten, die ihre Kinder vermissten. Sobald wir diese elektronischen Hotlines eingerichtet hatten, gingen täglich Hunderte Mitteilungen ein

Kinder verschwanden unter ganz unterschiedlichen Umständen, aber sie waren alle schrecklich. Familien wurden vermisst – Eltern mit Kindern suchten Zuflucht in Kellern, besonders in den Ortschaften, die schnell besetzt wurden. Es gab keine Mobilverbindung, niemand wusste, was passiert war und ob sie am Leben waren.

Bei uns gingen nun auch Mitteilungen ein, dass Kinder bei der Evakuierung verlorengegangen waren, die zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wie erforderlich organisiert war. Alle retteten sich, wie sie konnten. In einigen Fällen gaben die Eltern ihre Kinder, um sie zu retten, nicht einmal ihren Verwandten, sondern z. B: den Nachbarn. Es gab schreckliche Fälle, wenn infolge von Beschuss oder der Besatzung die Eltern getötet und die Kinder verschleppt wurden.

 


Archiv des „Kindersuchdiensts Magnolija“

Wie viele Mitteilungen wurden bis heute verzeichnet?

Wenn man von Angang der Großinvasion bis heute rechnet, dann sind bei unserem „Kindersuchdienst“ schon über 3.150 Meldungen von Eltern und Angehörigen eingegangen, die ihre Kinder suchen. IN Augenblick ist es für uns eine große Freude, ein großes Glück, dass wir die meisten Kinder finden konnten. Die Mehrheit der Kinder leben und konnten mit ihren Angehörigen zusammengebracht werden. Leider waren die Umstände, unter denen sie verschwunden waren, schrecklich, nicht alle Eltern haben überlebt, aber es sind andere Verwandte verblieben – Tanten, Onkel, Großeltern. Wir konnten ihnen helfen, das Schicksal dieser Kinder aufzuklären und sie zusammenzubringen.

Die schwierigste Situation bei der Suche nach vermissten Kindern betrifft jene Kinder, die in den besetzten Gebieten vermisst werden. Wir haben erstmals erfahren, dass es vorkommen kann, dass Kinder deportiert, entführt, den Eltern weggenommen und an einen unbekannten Ort gebracht werden können. Das ist vorgekommen!

Als das Gebiet Kyjiv befreit wurde, hatten wir schon Vermisstenanzeigen zu Kindern, die z. B: in Butscha, Irpin und Hostomel vermisst wurden. Ich denke, die ganze Ukraine, ja die ganze Welt wissen, was leider den Menschen zugestoßen ist, die in den besetzten Gebieten geblieben waren. Sehr viele Zivilisten wurden ermordet. Als nach der Befreiung Kriminalisten an die Orte kamen und die ukrainische Polizei Zugang in diese Städte erhielt, stellte sich heraus, dass keine Kinder dort waren.

Zum Glück fanden sich dort auch keine Leichen von vermissten Kindern, aber die Kinder selbst eben auch nicht. Es lagen indes bereits Meldungen vor, dass während der Besatzung Kinder dort gewesen waren. Deshalb hörten wir bei der Fortsetzung unserer Suche, zum ersten Mal wahrscheinlich im April-Mai 2022 davon, dass die Kinder möglicherweise gezielt weggebracht worden waren. In diesem Augenblick konnte man sich nicht vorstellen, dass jemand auf die Idee kommen könnte, Kinder den Eltern oder Angehörigen wegzunehmen und sie auf das Gebiet des Angriffsstaats bringen. Je mehr besetzte ukrainische Gebiete befreit wurden, desto klarer wurde, dass dies keine Einzelfälle waren.

Und es ist nicht so, wie die russische Propaganda sagt. Angeblich um die Kinder zu retten. Nein, so hat sich das nicht abgespielt. In besetzten Städten wie Mariupol oder Cherson wurden Kinder in Gruppen weggebracht. Gezielt.

Tatsachenberichte, die uns vorliegen, bestätigen, dass über 600 ukrainische Kinder in die Russische Föderation deportiert oder zwangsweise in besetzte Territorien wie die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk oder auf die Krym gebracht wurden. Bis heute konnte die Ukraine 388 Kinder zurückbringen, die in die Russische Föderation verschleppt worden waren. Ich möchte noch eigens hinzufügen, dass solche Initiativen wie OSINT-Gruppen die ukrainische NGO „Magnolija“ sehr bei ihren Recherchen in Fällen unterstützen, wenn Kinder in besetztem Gebiet vermisst werden und möglicherweise deportiert wurden. Da wird ein breites Spektrum von Instrumenten genutzt, zu. B: Personenerkennung nach Fotografien – wenn etwa ein Foto mit einer Gruppe ukrainischer Kinder in russischen Publikationsorganen oder Medien veröffentlicht wird, und auf diesem Foto ein Kind zu sehen ist, das bei uns gesucht wird. Ebenso wird eine Analyse nach Geolokationen durchgeführt, was Hinweise darauf gibt, wohin ein Kind gebracht wurde. Manchmal kann ein Foto sogar die Bezeichnung einer Bildungseinrichtung zeigen, einfacher ausgedrückt, eines Internats in der Russischen Föderation, wo sich solche Kinder befinden könnten.

Die Ukraine ist das erste Land, dass OSINT-Technologien für die Fahndung nach vermissten Kindern adaptiert hat und nutzt, und diese sind sehr erfolgreich. Zurzeit haben wir Kenntnis von 233 Kindern erhalten, die zurzeit in der Ukraine gesucht werden. Offiziell sucht sie die Nationalpolizei der Ukraine, und wir haben die faktische Bestätigung, dass sich diese Kinder jetzt in der Russischen Föderation aufhalten. Man kann sogar bestimmte Transportwege nachverfolgen und auch, wer dafür verantwortlich ist.

In einigen Fällen können wir sagen, dass es sich um einen krassen Verstoß gegen internationales Recht handelt. Leider wurden einige Kinder zur Adoption in die Russische Föderation übergeben, in russische Familien. Ihre Vor- und Familiennamen wurden geändert, um die Suche und Rückführung dieser Kinder zu erschweren. Im Zusammenhang mit den Herausforderungen, mit denen wir seit Anfang der Großinvasion konfrontiert wurden, hat die Organisation „Magnolija“ auch eine wichtige Funktion und Mission bekommen, nämlich die Rechte ukrainischer Kinder auf internationaler Ebene zu vertreten.

Wir hatten häufig die Ehre, im Zusammenhang mit der Deportation ukrainischer Kinder und ihrer Umsiedlung in besetzte Gebiete im Europäischen Parlament aufzutreten. Wir hatten Begegnungen mit den Königinnen Belgiens und Schwedens. Für uns ist es äußerst wichtig, dieses Problem nicht totzuschweigen, sondern darüber zu sprechen.

Gibt es vermisste ukrainische Kinder auf dem Gebiet der Europäischen Union?

In den ersten Monaten der flächendeckenden Invasion einigten sich der Staatliche ukrainische Grenzschutz und der Grenzschutz einiger anderer Länder auf eine vereinfachte Grenzabfertigung.

Alle waren sich über die Gefahren der Situation, die Gefahr für Leib und Leben im Klaren. Deshalb wurden Kinder auch ohne elterliche Begleitung durchgelassen, ohne Vollmachten und manchmal auch mit fremden Personen.

Das konnten Nachbarn oder Zeugen von der Straße sein, die gesehen hatten, dass die Wohnung zerstört und das Kind allein auf der Straße ohne Eltern zurückgeblieben war. Sie versuchten, diese Kinder einfach zu retten und nahmen sie mit. Deshalb gibt es dort vermisste Kinder. Sie gelangten nach Europa und sind dort bis heute.

Ich möchte anmerken, dass es in den ersten Monaten sehr schwierig war, weil die ukrainische Polizei überlastet war. Außerdem gab es ständige Hacker-Angriffe auf alle Datenbanken, die der Regierung, ukrainische, darunter auch auf die Datenbank mit Angaben über die Suche nach Kindern. In diesem Fall haben uns die Föderation „Missing Children Europe“ und NGOs aus europäischen Ländern unterstützt. In einigen Fällen halfen uns in diesen ersten Monaten die Polizeibehörden anderer Länder. Z. B. übernahm die Polizei der Slowakei eine Hilfsfunktion und wandte sich an Interpol, um Anzeigen über vermisste ukrainische Kinder zu publizieren.

Zurzeit ist die Situation etwas anders, weil schon über zwei Jahre seit Beginn der Großinvasion vergangen sind. Bis heute gibt es Fälle, in denen ukrainische Kinder in Europa gesucht werden, aber jetzt hängt das damit zusammen, dass diese Kinder schon einige Zeit in Ländern der EU leben. Gewöhnlich besuchen sie dort die Schule. Wenn sie nicht mit den Eltern, sondern allein ausgereist sind, dann leben sie jetzt bei Betreuern, die von der Regierung der betreffenden Länder bestimmt wurden. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr können ukrainische Kinder in anderen Ländern auf Unverständnis und Entfremdung stoßen. Das Kind bleibt allein mit dem Gefühl, dass in seinem Land Krieg ist, und es hier nicht auf Verständnis stößt. Leider wurden mir auch Fälle von Mobbing in europäischen Schulen bekannt, speziell gegen ukrainische Kinder.

Manchmal können Gleichaltrige in Pausen Luftalarme auf Mobiltelefonen einschalten, und sie sehen, wie ukrainische Kinder darauf reagieren. Das versetzt sie in Angst. In so einem Fall ist sich das Kind nicht im Klaren darüber, an wen es sich wenden soll, es empfindet sich mit diesem Problem alleingelassen und sieht den einzigen Ausweg in der Flucht.

Wir unsererseits bemühen uns, in der Ukraine alles Mögliche zu unternehmen, um ukrainische Kinder im Ausland zu finden. Wir fungieren als Bindeglied unseres Landes und dem Land, in dem ein Kind vermisst wird. Beispielsweise befand sich ein Kind in Spanien. Die Eltern waren in einem Schockzustand, ihnen war nicht klar, was sie machen, was sie unternehmen und wie sie sich an die Polizei wenden sollten, welche Dokumente sie vorlegen mussten und so weiter. Und wenn man in Spanien ist, hat man unter Umständen keinerlei Sprachkenntnisse, um irgendwo Hilfe suchen zu können.

Unsere Aufgabe ist es hier, eine Partnerorganisation in Spanien heranzuziehen, damit sie die Antragsteller – Eltern oder Verwandte – begleiten, ihnen helfen kann, sich den Vorschriften entsprechend an die Polizei zu wenden, Dokumente zusammenzustellen und die Situation zu erklären. Zudem verbreiten diese gesellschaftlichen Organisationen Anzeigen über vermisste Kinder mit Fotos und einer Gesamtbeschreibung der Situation. Unsererseits sind wir das Bindeglied zwischen der Polizei etwa Spaniens oder eines anderen Landes und der ukrainischen Polizei, um gemeinsame Schritte abzustimmen und dazu beizutragen, dass das Kind so schnell wie möglich gefunden wird.

Es ist auch wichtig, zu verstehen, dass wir feste Grenzen haben – zwischen der Ukraine und anderen Ländern. Wenn ein Kind in EU-Ländern vermisst wird, kann das in Spanien passieren, es kann sich dann aber in Belgien befinden, weil es in den EU-Ländern keine festen Grenzen gibt. Unsere Aufgabe ist es auch, in Fällen, wenn ein Kind etwa in Polen vermisst wird, alle übrigen Mitgliedsländer der Föderation „MIssing Children Europe“ einzubeziehen, damit sie dieses Kind suchen können.

 


Team: „Suchdienst Magnolija“

 

Wie können Menschen in Spanien diese Anzeigen zu sehen bekommen?

Zurzeit gibt es in der Ukraine über 20 Fernsehkanäle. Außerdem ist auch die Verbreitung von Anzeigen über das Internet sehr erfolgreich, weil es keine Grenzen hat. Die Unterstützung durch Blogger und Influencer ist für uns wichtig, die die Vermisstenanzeigen weiter verbreiten können. Gerade deshalb können diese Anzeigen von Ukrainern an jeder Ecke der Welt in jedem europäischen Land gesehen werden. Unsere Hotline 116000 ist auf dem Gebiet der gesamten Ukraine zu erreichen (für Abonnenten aller mobilen Provider sind die Anrufe kostenlos). Außerdem existiert eine einheitliche europäische Nummer, die Hotline für vermisste Kinder. Deshalb kann man in jedem Land Europas, wenn man die 116000 anruft, Unterstützung und Hilfe von der NGO des jeweiligen Landes bekommen, in dem sich die anrufende Person befindet.

 

Telegram-Bot: „Kindersuchdienst“
Website: „Kindersuchdienst“
Um sich kurzfristig Kontakt mit dem „Kindersuchdienst“ in Verbindung zu setzen , schreiben Sie an die E-Mail-Adresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

 

Übersetzung: Vera Ammer


Das Video mit Maryna Lypovetska finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

 

27. August 2024

 

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