Seit dem 8. Juni läuft der Prozess gegen Oleg Orlov, den Co-Vorsitzenden des Zentrums zum Schutz der Menschenrechte Memorial (ein nicht eingetragener Verein, der die Arbeit des verbotenen Menschenrechtszentrums Memorial fortführt). Ihm wird die „Diskreditierung der Armee“ zur Last gelegt, vor allem wegen seines Artikels „Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen“. Ihm drohen bis zu drei Jahre Freiheitsentzug.


Oleg Orlov, Katerina Tertuchina und Dmitrij Muratov. Foto: Aleksandr Astachov / Mediazona


Die Ermittlung hatte eine linguistische Expertise zu Orlovs o. g. Aufsatz in Auftrag gegeben und damit das „Zentrum für soziokulturelle Gutachten“ betraut. Die Vertreter dieses Zentrums sind seit Jahren dafür bekannt, bei Gerichtsverfahren Gutachten im Sinne der Anklage zu verfassen. Sie wurden u. a. in den Prozessen gegen „Pussy Riot“, die Gruppe „Novoe Velitschie“ (Neue Größe), Jurij Dmitriev herangezogen sowie in den Verbotsverfahren gegen das Menschenrechtszentrum Memorial und gegen die „Zeugen Jehovas“ (denen sie „Extremismus“ bescheinigten).

Die „Expertise“ zu Orlovs Aufsatz verfassten die Mathematikerin Natalija Krjukova und der Politologe Alexander Tarasov. Gerade sie hatten seinerzeit auch die Stellungnahme zum Menschenrechtszentrum abgegeben und auf der Website der Organisation „linguistische und psychologische Merkmale einer Rechtfertigung von Aktionen internationaler terroristischer und extremistischer Organisationen“ ausgemacht. Diese Einschätzung wurde den Prozessakten gegen das Menschenrechtszentrum zwar beigelegt, fand aber dann doch keinen Eingang in die Begründung des Verbots.

In dem „Gutachten“ zu Orlov heißt es, dieser wolle seine Leser beeinflussen mit einem Text, der das positive Russland-Bild zerstöre und die Armee diskreditiere. Er vertrete bewusst eine „menschenrechtliche, antirussische Position“. Als Argument gegen die „Spezialoperation“ verwende er Stereotypen wie etwa, dass Kampfhandlungen sich nicht gegen die Zivilbevölkerung oder die zivile Infrastruktur richten dürften. Zu Propagandazwecken bezeichne Orlov Militäraktionen als „Krieg“ und die Vernichtung von Zivilisten und Infrastruktur als „Verbrechen“. Für ihn stehe Russland in einer Reihe mit faschistischen Staaten, und daher leugne er, dass das Vorgehen der russischen Streitkräfte im Dienste des Friedens und der Sicherheit stünde.

Bei ihrer Befragung am 3. Juli bekräftigte Krjukova ihre Aussage, Orlov sei ein „antirussischer Menschenrechtler“ als „Faktum“. Dem Vorspann zu dem Aufsatz (in der französischen Ausgabe) sei zu entnehmen, dass Orlov einem Netz von „Dissidenten“ angehöre, und ein „Dissident kann nicht prorussisch sein“.

Inzwischen haben fünf Verhandlungen stattgefunden (die nächste ist für den 22. September anberaumt). Bisher wurden sowohl Zeugen der Anklage als auch der Verteidigung geladen, die dann befragt wurden, u. a. von Orlovs Anwältin Katerina Tertuchina, seinem öffentlichen Verteidiger Dmitrij Muratov (ehem. Chefredakteur der „Novaja gazeta“, Friedensnobelpreisträger von 2021) und von Orlov selbst.

Als Belastungszeugen wurden neben den „Sachverständigen“ Krjukova und Tarasov zwei Vertreter der „Veteranen Russlands“ vernommen, darunter Vadim Mironenko, der auch als Zeuge im Verfahren gegen Memorial wegen angeblicher „Rechtfertigung des Nazismus“ fungiert.

Für die Verteidigung kamen Menschenrechtler und Kollegen zu Wort, die über das Wirken Oleg Orlovs berichteten. So wurden z. B. mehrere Personen befragt, die das Menschenrechtszentrum und Oleg Orlov selbst seinerzeit unterstützt hatten, etwa dadurch, dass ungerechtfertigte und gefälschte Beschuldigungen gegen sie letztlich entkräftet werden konnten oder dass ihre Angelegenheit vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht wurde.

Auf Orlovs Aufsatz und den Faschismus-Begriff gingen die Historiker Nikita Petrov von Memorial und Vladislav Aksjonov ein. Nach Aksjonov liegt es in der Hand der Richterin, zu demonstrieren, dass in Russland kein faschistisches Regime besteht: „.....Es gibt eine sehr einfache Methode zu beweisen, dass in Russland kein faschistisches Regime besteht – einen Freispruch zu verkünden. Ein solches Urteil wäre unter einem faschistischen Regime nicht möglich.“

18. September 2023

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