Kyrylo Kuzenko wurde zweimal Zeuge der Kämpfe um Rubizhne. 2014 hielt die Stadt stand. 2022 zerstörten die Russen sie bis auf die Grundmauern

Taras Vijtschuk

 

 
Kyrylo Kuzenko, Rubizhne

Ich bin Kyrylo Kuzenko aus der Stadt Rubizhne im Gebiet Luhansk. Vor mehr als zwei Monaten bin ich ins Gebiet Lviv gezogen, in die Stadt Skole in den Hredliv-Palast. Ich ging, weil zuerst unsere Wohnung zerbombt wurde, dann das Haus meiner Großmutter und es unmöglich wurde, ohne Strom, Gas, Wasser und Lebensmittel zu leben. Wir fuhren unter Beschuss so gut es ging, jeder, wohin er konnte.

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Haben Sie geahnt, dass der Krieg bevorstand,, der am 24. Februar begann?

Ich habe im Großen und Ganzen die Nachrichten verfolgt, und etwa zwei Wochen vor Kriegsbeginn fuhr eine unserer Panzerkolonnen durch Varvarivka, das ist das nächstgelegene Dorf zu uns. Ich sagte allen, dass bald etwas losgehen würde, aber niemand glaubte mir. Am ersten Kriegstag passierte bei uns nichts Besonderes. Am fünften, sechsten März nahmen sie Varvarivka ein und gingen nach Rubizhne. Ich habe im sechsten Mikrobezirk gewohnt, gegenüber von Varvarivka.

Am 7. März um 11:00 Uhr morgens schlug eine Rakete in unser Haus ein. Meine Freundin, meine Mutter, ihre Schwester und ich schafften es noch runter in den Keller. Kaum waren wir unten, schlug sie auch schon ein. Ungefähr nach einer halben Stunde war alles vorbei. Ich ging hoch, öffnete die Tür und sah, dass alles auf dem Kopf stand. Und zwei Löcher im Balkon. Die Rakete war von der anderen Seite eingeschlagen.Nebenan stand noch ein Haus, dort gab es einen Volltreffer in der dritten Etage und viele Tote. Einige wurden verschüttet, andere verletzt.

Die Rettungskräfte kamen und sagten, dass irgendwo ein verschütteter Keller mit Menschen sei, aber ich weiß, dass sie gerettet wurden. Am nächsten Tag fuhren wir zur Großmutter. Sie besaß ein Privathaus, das auf vier Eigentümer verteilt war. Dort wohnten dann meine Großmutter und mein Großvater, meine Mutter, ihr Freund, ihre Schwester und ich und auf der anderen Seite der Wand die Nachbarin. Sie war 91 Jahre alt. Das Rote Kreuz hatte keine Möglichkeit, sie mit Essen und Trinken zu versorgen. Aber sie hatte Gas. Und solange das noch funktionierte, kochten wir für sie und gaben ihr zu essen.

Aber dann, am 17., 18. März wurde unsere Straße beschossen. Nebenan befand sich ein Technikum, in dem ukrainische Soldaten waren, sie wurden heftig beschossen. Daneben war auch die Neue Post und ein Luftschutzkeller, wo sich die Menschen versteckten. Dort war nicht ein einziger Soldat. Die Russen beschossen unseren Bezirk, die ukrainischen Streitkräfte und die Neue Post. Dann zogen sich unsere Jungs ein großes Stück zurück, aber sie (die Russen) säuberten den ganzen Bezirk von Grund auf. Am Anfang fuhren sie einfach mit dem Panzer durch, sahen, dass niemand dort war, aber machten trotzdem alles dem Erdboden gleich.

Es fing damit an, dass es in den Nachbarhof einschlug, das Dach zu brennen begann und das Haus abbrannte, wir schleppten alles, was wir konnten, in den Hof. Die Nachbarn hatten ein Auto. Sie waren nicht da, wir starteten es mühsam und fuhren irgendwie unter Beschuss weg. Danach kehrten wir zurück: Es gab den Hof und unsere Sachen nicht mehr. Zwei Raketen waren genau in den Hof eingeschlagen.


Zerstörungen in Rubizhne. Foto: Militärverwaltung Gebiet Luhansk

Wie verliefen die Kampfhandlungen in Rubizhne?

Auf der einen Seite standen die Unsrigen, auf der anderen die Russen, und wir waren in der Mitte. Sie gingen kreisförmig umeinander herum. Unsere Jungs haben die Stadt sehr lange verteidigt, obwohl sie schon seit fast zwei Monaten am Rande von Rubizhne praktisch umzingelt waren. Da gab es schon keinen Platz mehr für Kampfhandlungen. Nur Ödland wegen des starken Beschusses.

Übrigens, als wir beim Kulturpalast im Stadtteil Pivden angekommen waren, sollte von dort ein Grüner Korridor eingerichtet sein. Wir näherten uns gerade und die Russen begannen in Richtung des Grünen Korridors zu schießen, obwohl es eine Vereinbarung gab. Sie trafen die Ecke des Kulturpalastes, aber niemand wurde getötet.

Haben Sie Zerstörungen ziviler Objekte miterlebt?

In unserer Straße wurden alle Häuser zerstört, in der Bereststraße 52 das Haus meiner Großmutter und so gut wie jedes Haus in unserer Straße. In jedes Haus schlug etwas ein, denn unsere Straße wurde viele Male beschossen. Das Haus meiner Großmutter stand am längsten. Das Haus gegenüber bei den Nachbarn hatte kein Dach mehr, zweimal hatte es dort eingeschlagen. Anfangs nur leicht: Nur der Zaun ging in die Brüche. Aber dann schon so, dass die Fenster und das Dach herausflogen. Der Bezirk neben dem Park, der Park und das Technikum - fast alles wurde zerstört. Im Gebäude der Neuen Post, wo sich Menschen versteckt hatten, stellten Mitarbeiter des Staatlichen Notdienstes Generatoren auf, richteten einen Platz ein, wo man Telefone aufladen konnte (solange es noch eine Verbindung gab), dort konnte man Wasser holen, denn man hatte Angst, weit zu laufen, um Wasser zu holen. Es kam vor, dass Menschen neben dem Busbahnhof waren, um Wasser zu holen und Telefone aufzuladen, ein Geschoss schlug ein und es gab etwa zwanzig Tote. Ich weiß nicht, wie sie geschossen haben. Ich glaube nicht, dass dass ein Fehlschuss war. Ein Panzer fährt die Straße entlang, weiß, dort gibt es keine Soldaten und schießt dann direkt auf die Häuser.

„Eine Industriestadt ist dem Erdboden gleichgemacht, es gibt keine Gebäude, die noch erhalten sind, viele Häuser können nicht wieder aufgebaut werden. In den Höfen sind Friedhöfe. Vor dem Krieg lebten hier mehr als 60.000 Einwohner, arbeiteten in den Fabriken, im öffentlichen Sektor, als Kleinunternehmer“, so Serhij Haidai, Leiter der Militärverwaltung der Region Luhansk.

Wissen Sie von anderen Verbrechen der Russen gegen die Zivilbevölkerung?

In unserer Straße wohnte meine Großmutter, sie war bei unserer Nachbarin Tante Tasja. Auf ihr Haus fiel ein Geschoss, es riss das Dach herunter und ein Splitter verletzte ihre Hand. Mein Großvater brachte sie unter Beschuss zum Staatlichen Dienst für Notfallsituationen in der Neuen Post, damit man ihr wenigstens die Hand verbinden und mit Wasser säubern würde, weil wir nur gekochtes Wasser aus Schnee hatten. In der Neuen Post gab man uns zu essen, es waren viele Menschen und Zimmer dort. Der Notdienst hatte sogar einen Fernseher aufgestellt und konnte irgendwie ukrainische Sender empfangen. Keine Ahnung, wie sie das gemacht haben. Wahrscheinlich haben sie einen Schamanentanz aufgeführt, damit man irgendwelche Nachrichten hören kann, denn es gab überhaupt keine Informationen, was wo passierte. Ich habe zum Beispiel einen Onkel, der bis jetzt mit seiner Familie in Mariupol ist. Ihr Haus steht, aber alles ist zerstört...


Das zerstörte Rubizhne, Foto Militärverwaltung Gebiet Luhansk

Wo haben Sie während der Besatzung Lebensmittel herbekommen?

Um Wasser zu holen, sind wir auf die Neue Post gelaufen. Was im Keller war (Konserven), das haben wir gegessen. Dann, als die Stadt schon zerbombt war, gab es ein Gefecht neben dem Busbahnhof. Da war der Laden „Simia“, sie bombten ihn in Grund und Boden und die Lebensmittel lagen mitten auf der Straße. Wir liefen hin und sammelten sie ein. Die Nachbarn hatten etwas, jemand fand etwas. Die Nachbarn wussten, dass wir ein kleines Kind hatten, nun, was heißt klein, sieben Jahre alt, aber trotzdem... Deshalb brachten sie uns entweder Äpfel oder so etwas. Ich hatte Zigaretten, die habe ich für Mehl und Brot eingetauscht. Am Anfang für Mehl, weil es kein Brot gab. Meine Mutter ging jeden Tag nach draußen und machte auf dem Feuer Fladenbrot und Suppe. Dann erfuhren wir, dass unsere Nachbarin Gas hatte. Keine Ahnung woher, aber wir begannen dann, bei ihr zu kochen. Auf der Straße zu sein, war furchtbar, denn da sitzt du und über den Kopf fliegen die Kugeln, grauenvoll!

Mamas Freund und ich liefen durch die Stadt, suchten etwas zu essen: Wir fanden etwas in unserer Wohnung, die davor zerbombt worden war, etwas bei den Nachbarn und bei Bekannten. Wir durchkämmten die ganze Stadt und liefen zurück, um den Park herum. Es wäre schneller gewesen, durch den Park zu laufen, aber wir wussten, dass unsere Soldaten dort waren und wenn Beschuss losgehen würde, dann... Sie wurden beschossen und nicht nur sie, sondern auch die umliegenden Bezirke. Ungefähr zehn, fünfzehn Meter von uns flog ein Geschoss vorbei. Oleksandr und ich konnten uns innerhalb einer Sekunde in einer Garage verstecken. Da saßen wir länger. Dann liefen wir in irgendein Haus, saßen da wieder eine Zeitlang. Er hat nie geraucht, aber in diesem Moment steckte er sich eine Zigarette an. Unter Beschuss schafften wir es nach Hause. In der letzten Zeit wurde es dann mit dem Essen schwierig, es gab fast nichts mehr. Wir kochten Suppe aus Fett und irgendwelchen Graupen. Ein paar Graupen, Makkaroni, Knochen ohne was dran, die man den Hunden gibt. Das haben wir gekocht, weil es schon nichts mehr gab.

Wie gelang es Ihnen, aus dem besetzten Gebiet zu entkommen?

Wir wohnten ja in Pivden, das ist ein Teil von Rubizhne. Es kam eine Nachricht von einer Frau, die schon früher in den Westen der Ukraine gegangen war. Sie schrieb, dass sie nach Skole gefahren sei. Es gab fast jeden Tag Grüne Korridore aus Pivden. Mein Großvater und ich packten zusammen, was heißt zusammenpacken... Man gab uns Wasser, ich nahm zwei Äpfel und mehr hatten wir nicht. Was wir am Leib trugen... Wir hatten auch keine Sachen, die hat man uns hier gegeben.

Großvater und ich setzten uns auf Fahrräder und fuhren los. Während ich auf den Bus und den Grünen Korridor wartete, besuchte Großvater eine Großtante, die wohnte auch da in der Nähe. Es gab keine Verbindung, es gab nichts, wir wussten nicht, wer von unseren Verwandten am Leben war und wer nicht. Wir erfuhren, dass die Großtante lebte. Großvater fuhr dann los zu meiner Mutter und zu meiner Großmutter. Ich war allein unterwegs. Anfangs fuhren wir mit Umsteigen nach Lviv, dann von Lviv hierher nach Skole, und dann, etwa drei Tage später, kam meine Großtante. Meine Mutter und ihre Schwester, ihr Freund, mein Bruder, die Familie ihres Freundes, mein Großvater und meine Großmutter fuhren nach Dnipro.

Ist von Ihren Bekannten jemand in Rubizhne geblieben?

Als ich hier ankam, fing ich an, meine Freunde abzutelefonieren. Viele waren weggegangen, aber viele auch in Rubizhne geblieben. Früher gab es noch irgendwie Verbindung, vor kurzem wurde aber der letzte Sendemast zerstört, der sie mehr schlecht als recht gerade noch aufrecht erhielt. Früher konnte man wenigstens aufs Feld rausgehen und telefonieren, aber jetzt ist es unmöglich durchzukommen. Mein Freund fuhr mit seiner Mutter raus [aus Rubizhne], sie sind jetzt in Kyjiv, soweit ich weiß. Sein Stiefvater kam später zu ihnen nach. Sie wussten nicht, wo er gewesen war. Ich habe es so verstanden, dass sie ihn in Rubizhne gefangen genommen hatten. Sie schlugen ihn, verhörten ihn: „Wo befinden sich diese Punkte? Wo befindet sich das?“ Einem anderen Freund (ich werde seinen Namen nicht nennen) haben sie den Vater getötet. Ein Granatsplitter traf seinen Arm. Sie hatten versucht, über die russische Seite rauszukommen, aber schafften es nicht rechtzeitig. Viele Freunde kamen über die russische Seite raus, weil sie keine andere Wahl hatten. Die einen hatten schon kein Haus mehr, die anderen nichts mehr zu essen. Sie mussten raus. Einige Freunde konnten in Richtung Ukraine weg. Ein Wunder! Ich war einfach nah an der ukrainischen Seite, aber manche fuhren erst raus, nachdem sie den Grünen Korridor geschlossen hatten und heftig zu schießen begannen. Sie hatten auch vorher viel geschossen, aber dann schossen sie noch stärker. Es heißt, dass sie begannen, auf chemische Tanks zu zielen. Es kam zu einer Sprengung chemischer Tanks, aus denen rosafarbener Rauch aufstieg. Die Menschen liefen durch den Wald über die Felder auf die ukrainische Seite.


Explosion auf oder neben dem Territorium der Chemiefabrik „Sorja“, 9. April 2022

Gibt es Unterschiede zwischen den Ereignissen von 2014 und denen des 24. Februar?

2014 wollten die Russen Rubizhne einnehmen, sie sprengten die Brücke über den Siverskyi Donez, versuchten von zwei Seiten einzudringen, aber die Unsrigen haben den Angriff abgewehrt. Damals wurden einige Häuser beschädigt, das Haus meines Freundes war betroffen. Sie schossen aus einem Mörser auf das Dach, aber das Geschoss explodierte nicht. Die Granate schlug durch das Dach und lag noch drei Monate dort. Dann ging er wegen irgendetwas hoch, sah, dass dort etwas steckte und rief den Staatlichen Dienst für Notfallsituationen. Manche hatte zerborstene Fenster. Ich weiß, dass 2014 auch jemand getötet wurde, aber das war nur in den Außenbezirken. Sie konnten uns nicht einnehmen, unsere Jungs verteidigten die Stadt. Innerhalb von sechs bis zwölf Monaten wurde die Brücke wiederaufgebaut, Wachposten aufgestellt und das war's. Andere Städte waren stärker betroffen. Sjevjerodonezk ist zu uns die nächste Stadt. Die wollten sie 2014 auch erobern, aber da war eine Fabrik der Chemie-Industrie und wir hatten die Fabrik „Sorja“, die Sprengstoff für den Bau herstellte. Es hieß, wenn sie getroffen würden, gäbe es heftige Explosionen. Das hat sie jetzt nicht abgehalten. Sie haben „Sorja“ bombardiert. Gut, dass man fast schon alles aus der Fabrik weggeschafft hatte. Aber trotzdem, als sie getroffen wurde, gab es eine starke Explosion.

Wurde die russischsprachige Bevölkerung in Rubizhne unterdrückt?

Um ehrlich zu sein, 2014 begann bei uns die Ukrainisierung. Russisch wurde an der Schule schon nicht mehr unterrichtet, und wenn es irgendwo unterrichtet wurde, dann als Fremdsprache. Es gab keine russischsprachigen Klassen. Aber die russische Ideologie wurde uns trotzdem aufgezwängt: „Die Bandera-Leute dort verschlingen euch. Wir sind die Ukraine, aber jene Ukraine ist nicht unser Freund“, haben sie uns in den Kopf gehämmert. Und obwohl es eine Ukrainisierung gab, versuchten sie zu beweisen, dass Russland auch gut ist. In Rubizhne sind fast alle russischsprachig, fast das ganze Gebiet Luhansk ist russischsprachig, aber niemand hat uns eingeschränkt. Als ich nach Lviv kam, habe ich anfangs Russisch gesprochen. Niemand sagte ein böses Wort. Wir wurden normal angenommen, man gab uns zu essen, Unterkunft und Kleidung. Als ich anfing hier zu arbeiten, sprach ich Russisch. Das, was man in den russischen Nachrichten erzählt, „Die Bandera-Anhänger dort verschlingen alle“, das ist Schwachsinn. Das Leben hier ist viel besser, als es bei uns war, weil hier gute Menschen sind, Menschen, die helfen.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Mykola Kostenko finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

 

23. August 2023 (Original: 8. Juli 2022)

 

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