MEMORIAL legt detaillierten Bericht vor

Am 21. Mai fand in Moskau eine Pressekonferenz des Menschenrechtszentrums MEMORIAL statt. Oleg Orlov und Jan Raczyński berichteten von ihrer Mission in die Ukraine vom 6. bis 16. Mai, die sie nach Kiev und in verschiedene Städte der Ostukraine - Donezk, Druzhkovka, Konstantinovka, Kramatorsk und Mariupol - geführt hatte. Die Mission fand mit Unterstützung und im Rahmen der Arbeit der „Grazhdanskaja solidarnost“ – „Bürgersolidarität“ - statt.

Befragt wurden u. a. Vertreter der Zivilgesellschaft und von Regierungsinstitutionen, Personen, die Opfer von Gewaltakten geworden waren, und Augenzeugen bestimmter Vorfälle (etwa in Mariupol).

Orlov und Raczyński haben einen 31seitigen Bericht zusammengestellt. Auf der Pressekonferenz gingen beide vor allem auf drei Themen ein – die Situation im Hinblick auf das Referendum, seine Vorbereitung und Durchführung, die generelle Situation im Donbass und speziell auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Mariupol am 9. Mai.

Das "Referendum"



Das Urteil über das Referendum im Donbass fiel eindeutig aus – es könne nicht als legitim bewertet werden. Dafür fehlten elementare Voraussetzungen – ganz abgesehen davon, dass die ukrainische Gesetzgebung keine regionalen Referenden vorsieht.

Es lagen – von einem einzigen Fall (einem Wahlbezirk in Donezk) abgesehen – keine Wählerlisten vor. Es war ohne Probleme möglich, mehrfach (eben in mehreren Wahllokalen) abzustimmen. Da es insgesamt zu wenige Wahllokale gab (etwa in Mariupol nur vier), entstand zu Anfang der Eindruck einer hohen Beteiligung, weil es vor einigen Lokalen in den ersten Stunden größeren Andrang gab. Wahlbeobachter hätten sich theoretisch bei den Zentralen oder Territorialen Wahlkommissionen registrieren müssen, deren Standort am 10. Mai – einen Tag vor dem Referendum – noch unbekannt war. Schließlich gab es denn auch keine Wahlbeobachter.

Bereits zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale wurde das Ergebnis bekanntgegeben. Zu diesem hätte die Auszählung natürlich noch nicht abgeschlossen sein können, wenn die „Wahlbeteiligung“ so hoch gewesen wäre wie offiziell angegeben.

Eine Kampagne vor der Abstimmung war auf Grund der vom Terror bestimmten Atmosphäre nicht möglich. Kritische Journalisten wurden entführt und gefoltert, Parteien, die die „Volksrepublik Donezk“ nicht unterstützten, konnten nicht arbeiten, ihre Büros waren nach Überfällen un Entführungen von Mitarbeitern geschlossen.

Menschenrechtsverletzungen - Entführungen, Folterungen, Morde


Der vorgelegte Bericht geht auf Entführungen und Misshandlungen politisch aktiver Personen ein. Eine vollständige Liste liegt nicht vor. Als Quellen dienen Zeugenaussagen der Angehörigen oder der Verschleppten selbst, sofern sie später freigelassen wurden. Viele der Entführten werden in dem besetzten Gebäude der Gebietsverwaltung von Donezk gefangen gehalten, dort verhört und gefoltert. Einige wurden ermordet (z. B. Valerij Salo von der Organisation "Prosvita") oder nicht wieder aufgefunden (so Alexander Demko, der zur Behandlung seiner Verletzungen durch Folterungen nach Dnepropetrovsk gebracht werden sollte, Galina Ivanova - die Ärztin, die ihn begleitete - der Fahrer. Nur das leere Fahrzeug fand sich - mit Einschusslöchern - auf der Umgehungsstraße zwischen Makeevka und Donezk).

Hier zwei weitere Beispiele aus dem Bericht:

Am 4. Mai, dem Tag vor der Ankunft der MEMORIAL-Mitarbeiter im Donezker Gebiet, wurden Mitglieder der Unabhängigen Bergarbeiter-Gewerkschaft und einige Abgeordnete der Stadt Novogrodovka (insgesamt sechs Personen) entführt. 10 Schwerbewaffnete (von denen drei nach Zeugenaussagen aus dem Nordkaukasus stammen) drangen in das Haus von Konstantin Musejko ein. Sie eröffneten sofort das Feuer, erschossen die Hunde, verletzten Musejko mit einem Schuss in den Oberschenkel, verwüsteten die Einrichtung und plünderten. Danach wurden die Anwesenden zunächst in das besetzte Gebäude der Gebietsverwaltung Donezk gebracht und unter fortgesetzten Misshandlungen über Kontakte u. a. zum „Rechten Sektor“ und nach angeblichen Geldquellen befragt. Später transportierte man sie in das ebenfalls besetzte Fernsehzentrum, wo sie, mit Handschellen an Stühle gefesselt und unter weiteren Schlägen, die Nacht verbrachten.

Am 5. Mai wurden sie freigelassen, ob in Folge eines Austauschs oder der Publikationen über diesen Vorfall, ist nicht bekannt. Fünf der Opfer haben sich danach nach Kiev begeben (wo sie von MEMORIAL auch befragt wurden). Alle haben erhebliche Verletzungen davongetragen (Rippen- und Nasenbeinbrüche, Hämatome).

Nicht besser erging es vier Studenten der Donezker Universität, die im Anschluss an eine Demonstration für die Einheit der Ukraine am 28. April ebenfalls in die Donezker Gebietsverwaltung verschleppt wurden (ein weiterer Student konnte entkommen und Alarm schlagen). Unter Folterungen und Drohungen, sie umgehend zu erschießen, wollte man ihr Geständnis erpressen, dem „Rechten Sektor“ anzugehören. Einige von ihnen legten unter Zwang ein „Teilgeständnis“ ab, das auf Video aufgezeichnet wurde. Da ihre Entführung indes bekannt geworden war und Angehörige sowie Gesinnungsgenossen sich an alle möglichen Instanzen, darunter die UNO-Beobachtungsmission in Donezk wandten, wurden die Studenten am 29. April freigelassen (ebenfalls erheblich verletzt). Da sie danach weiterhin unter Druck gesetzt und massiv bedroht wurden, haben auch sie Donezk inzwischen verlassen.

Einer der Führer der „Volksrepublik Donezk“ nannte ganz unverhüllt drei Gründe für die Entführungen: Erstens wolle man Informationen bekommen, zweitens Gefangene haben, um sie austauschen zu können, und drittens, wolle man die Gefangenen „umerziehen“. Darüber hinaus wird oft versucht, von Angehörigen Lösegeld zu erpressen. Er gab zu, dass in den letzten Wochen mehrere Dutzend Gefangene in der Donezker Gebietsverwaltung gefangen gewesen wären und dass man diese „physischer und psychischer Gewalt“ aussetze: „Alle tun das“.

Der Hauptzweck besteht indes darin, die Bevölkerung zu terrorisieren und die Gegner der „Volksrepublik“ in Angst und Schrecken zu versetzen, und dieser Zweck wurde dem Bericht zufolge erreicht. Die Zivilgesellschaft ist weitgehend paralysiert. Die meisten Anhänger einer einigen Ukraine haben das Gebiet entweder verlassen oder sie haben jegliche offene, legale Tätigkeit eingestellt. Etliche sehen keine andere Möglichkeit mehr, als sich einer paramilitärischen Organisation anzuschließen.

Behauptungen über Entführungen von Anhängern der „Volksrepublik“ durch Anhänger der Kiewer Regierungen ließen sich nicht verifizieren, weil die in Frage kommenden Ansprechpartner (darunter eine Person, die selbst Opfer einer Entführung gewesen sei) zu keinem Zeitpunkt zur Verfügung standen.

Auch die von der ukrainischen Armee durchgeführte Antiterror-Operation (ATO) führt nach Angaben von MEMORIAL zu ungerechtfertigten Opfern unter der Zivilbevölkerung. Allerdings weisen die Informationen von MEMORIAL darauf hin, dass die bewaffneten Einheiten, die im Namen des ukrainischen Staates eingesetzt werden, „von oben“ die eindeutige Anweisung haben, bei ihren Operationen Opfer unter der Zivilbevölkerung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Der Bericht verweist auf das Problem, das mit dem Einsatz der ukrainischen Armee im Inland verbunden ist, ohne dass der Ausnahme- oder Kriegszustand deklariert wurde. Das führt zu massiver Rechtsunsicherheit und Unklarheit darüber, welche Vollmachten die Armee hat und zu welchen Maßnahmen sie berechtigt ist. Zudem ist die Armee teilweise unzureichend vorbereitet. Die Miliz im Donezker Gebiet ist völlig desorganisiert und bleibt gerade in kritischen Situationen untätig. In Anbetracht dieser Situation wurden paramilitärische Verbände wie das Dnepr- und Azov-Bataillon gebildet. Diese sind jedoch auf Auseinandersetzungen mit äußerst aggressiven, aber unbewaffneten Zivilpersonen in keiner Hinsicht vorbereitet. Sie verfügen auch nicht über die nötige Ausrüstung, was in Mariupol zu tragischen Folgen geführt hat.

Insbesondere die Aktionen des Bataillons "Donbass" sind dem Bericht zufolge alarmierend. Das Bataillon führt militärische Operationen sowie Festnahmen durch. Bedenklich sei, dass diese Aktionen in Absprache mit Vertretern der ukrainischen Regierung erfolgen. Solche eigenständigen, illegalen Verbände können sich für die Ukraine als ebenso gefährlich wie die Operationen der Separatisten erweisen.

Der Bericht kritisiert die Verwicklung einzelner Regierungsvertreter in Maßnahmen der Armee. Als frappierendes Beispiel wird der Abgeordnete Oleg Ljaschko angeführt, der an Festnahmen und Verhören mit Misshandlungen hier.

28. Mai 2014
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