Zur Entstehung der Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG), des ukrainischen Memorial-Verbandes, vor 32 Jahren

Kampf gegen Zwangspsychiatrie, Hilfe bei der Verteilung informeller Presse und... Gartenarbeit.
Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, erzählt, womit alles begann.

„Wir hätten diese Erinnerungen eigentlich schon vor zwei Jahren veröffentlichen sollen, als die Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG) 30 Jahre alt wurde. Aber in den ersten Monaten des Krieges war uns natürlich nicht danach. Wir dachten, ganz bald wird alles vorbei sein und dann werden wir feiern. Jetzt sind wir 32 Jahre alt. Das ist kein Jubiläum. Und der Krieg geht weiter. Und es gibt wieder keine Feierlichkeiten. Aber warum sollen wir uns nicht an die Ereignisse erinnern, die der Gründung der Charkiver Menschenrechtsgruppe vorausgingen? Und an die Menschen, die ihre Kraft dafür eingesetzt haben?“

 

Vorderste Reihe, von links: Jevhen Sacharov, Inna Schmerkina, Marlen Rachlina (Sacharovs Mutter), Juchim Sacharov (sein Vater), Sofija Karasyk, Oleksandr, Tultschynskyj, Tamara Altunjan, Anna Sverbilova
Vorderste Reihe, von links: Jevhen Sacharov, Inna Schmerkina, Marlen Rachlina (Sacharovs Mutter), Juchim Sacharov (sein Vater), Sofija Karasyk, Oleksandr, Tultschynskyj, Tamara Altunjan, Anna Sverbilova

 

Die ersten Tage der Charkiver Menschenrechtsgruppe

„Als im August 1988 in Charkiv die erste Versammlung einer Initiativgruppe zur Gründung eines Memorialverbandes stattfand, lief ich als einer der ersten dorthin. Das war genau meins, Geschichte hatte mich schon immer interessiert, meine alten Moskauer Freunde standen dem nahe, ich hatte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre bei „Pamjat“ [Erinnerung] mitgemacht und hatte damals Senja (Arsenij) Roginskij kennengelernt, noch vor seiner Verhaftung. Aber ich wurde enttäuscht: Auf der ersten Sitzung in Charkiv waren linke Kommunisten und Komsomol-Führer federführend und diese Leute waren mir von vornherein fremd. Leiter der Initiativgruppe war der Historiker Valerij Meschtscherjakov, Dozent an der historischen Fakultät der Universität, der erst nach Beginn der Perestrojka in die KPdSU eingetreten war. Viele seiner Studenten waren auch da. Aber ich war in diesen Jahren der Meinung, dass die Zugehörigkeit zur KPdSU eine eindeutig negative Eigenschaft ist. Das heißt, ich dachte, dass ein anständiger Mensch kein Mitglied der KPdSU sein könnte. Das war ein Trilemma, man kann nicht gleichzeitig ehrlich, klug und ein Kommunist sein: Zwei dieser Eigenschaften zusammen schließen die dritte aus!

Und ich dachte: Warum sollte ich mich mit diesen fremden Menschen verbinden? Buchstäblich zwei Tage später fuhr ich nach Moskau, zuhause bei Lara (Bogoras) war Sergej Kovalev, dem es damals verboten war, in Moskau zu leben, er musste sich auf 101 Kilometer fernhalten und war illegal in Moskau. Ich erzählte ihnen von der Gründung von Memorial bei uns und beide sagten: 'Zhenja, geh unbedingt hin, das muss unseres sein und nicht ihres. In Moskau ist bei Memorial von Kommunisten nichts zu sehen und zu hören. Wir kontrollieren das komplett und so sollte es im ganzen Land sein.' Ich hörte auf sie. Aber zuerst verhielt ich mich diesen linken Kommunisten und der Komsomol-Jugend gegenüber äußerst zurückhaltend.

Die Gründungsversammlung von Memorial fand im 11. Februar 1989 in der Aula der Universität statt. Der Saal war voll, Meschtscherjakov leitete das Treffen gemeinsam mit Lev Ponoramev, der aus Moskau gekommen und damals ein ganz zurückhaltender Professor der Physik war. Und dann wählte der Saal entgegen des ausdrücklich formulierten Wunsches der Initiativgruppe Henrich Altunyan, Borys Tschytschybabin und mich in den Vorstand. Und wie sehr sich die Initiativgruppe auch bemühte, das zu verhindern, es gelang ihnen nicht.

 

Borys Tschytschybabin und Lilija Karas
Borys Tschytschybabin und Lilija Karas

 

Henrich und ich waren schwarze Schafe, alle waren damals noch vor uns auf der Hut und glaubten, dass wir beschattet würden und Unglück bringen könnten. Aber die Vorstellung davon, was man durfte und was nicht, veränderte sich. Ungewöhnlich schnell.

 

Von links: Anatolij Korjagin mit seiner Frau Halyna, Henrich Altunjan
Von links: Anatolij Korjagin mit seiner Frau Halyna, Henrich Altunjan

 

In den Vorstand wurde auch Arkadij Isaakovitsch Epstejn, Dozent für Geschichte der KPdSU im Luftfahrinstitut gewählt. Seine Tochter und ich waren damals in einem Jahrgang in Parallelklassen. Frontsoldat, die ganze Brust voller Orden, aber Angst vor allem auf der Welt. Er sagte meinem Onkel Feliks, der auch in dem Vorstand gewählt worden war, ohne zu wissen, dass wir verwandt waren, dass die Kommunisten solchen wie mir die Stirn bieten müssten. Vorstandsmitglied wurde Nina Laptschynska, Chefin der Abteilung der Sowjetzeit im Historischen Museum, ebenfalls Mitglied der KPdSU. Es gab einige Studenten verschiedener Universitäten: Ihor Rassocha, Volodja Kabatschek, Zhenja Solovjov und andere.

Bei Memorial gab es drei Richtungen: die historische Aufklärung, Wohltätigkeit und Menschenrechte. So war es immer, von Anfang an. Die historische Aufklärung sollte über die Wahrheit über politische Repressionen in der UdSSR aufklären und namentliche Listen der Umgekommen erstellen. 'Ich wollte sie alle bei ihrem Namen nennen, aber man nahm die Liste weg und es gibt keinen Ort, an dem man sie erfahren kann', diese Zeilen aus Achmatovas Requiem wurden zu einer starken Motivation. Das GULAG-System, die Grabstätten, die Henker in den Straforganen, ihre Informanten, Widerstand in den Lagern und in Freiheit, das Sammeln von Informationen und Gegenständen des Lageralltags und des Alltags in der Verbannung – mit all' dem haben wir uns sehr viel beschäftigt.

Die zweite Richtung, die Wohltätigkeit, das ist Hilfe für ehemalige Politische Gefangene, ehemalige Häftlinge der Stalinschen Lager und der postsowjetischen Zeit. Ende der 80er Jahre waren noch sehr viele am Leben. Viele waren noch vergleichsweise jung. Ich spreche gar nicht mal von der Generation, die Ende der 40er, Anfang der 50er zur Welt gekommen ist und noch als Politische Häftlinge unter Brezhnev und Andropov saßen, sondern ich meine diejenigen, die Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre geboren wurden. 1988-89 waren sie noch nicht einmal 60 Jahre alt und viele davon waren als Studenten Ende der 40er ins Lager gekommen, da hatte es etliche anti-stalinistischer Untergrundorganisationen gegeben. In der Ukraine waren das vor allem Mitglieder des bewaffneten Widerstands, UPA-Kämpfer [Ukrainische Aufständische Armee], die in großer Zahl in Lagern landeten. Und eben diese ehemaligen Insassen, vor allem diejenigen, die älter waren, brauchten die unterschiedlichste Hilfe, und Memorial hat sich damit viel befasst.

Die dritte Richtung sind die Menschenrechte, der Schutz der Menschenrechte. Wenn das nicht getan wird, kann sich alles erneut wiederholen, deswegen muss man den Menschen zur Achtung vor dem Recht und vor der Freiheit erziehen und selbst die Möglichkeit politischer Repressionen ausschließen.

Alle diese drei Richtungen waren in den Abteilungen der Freiwilligen historischen Allunions-Aufklärungsgesellschaft Memorial in vielen Städten und Regionen der UdSSR vertreten. In der Charkiver Gruppe war ich vom Zeitpunkt der Gründung an Mitglied des Vorstands und koordinierte die Aktivitäten der Menschenrechtsgruppe. Wir verteidigten diejenigen vor administrativer Verfolgung, die die ukrainische Nationalflagge zeigten, inoffizielle Publikationen verbreiteten und an Demonstrationen teilnahmen. Wir gaben das Informations-Bulletin „Memorial“ heraus und machten einige Dutzend Ausgaben, wir druckten sie auf einem elektronischen Computer aus und verbreiteten sie auf allen möglichen Wegen. In dem Bulletin schrieben wir über konkrete Menschenrechtsverletzungen, druckten erneut einige höchst aktuelle Texte ab, die von der Leitung von Memorial in Moskau vorbereitet worden waren. Im März 1990, als Meschtscherjakov Parlamentsabgeordneter wurde, wählte man mich zum Co-Vorsitzenden, ich nahm quasi unter Vorbehalt seinen Platz ein, den des leitenden Co-Vorsitzenden. Ich musste Briefe beantworten und den Kontakt zum Vorstand von Memorial in Moskau halten. Ich leitete wie zuvor die Menschenrechtsgruppe, redigierte das Informations-Bulletin, beschäftige mich mit dem Druck und der Verbreitung und einer Menge anderer Aufgaben. Ich war nach wie vor mit dem Hilfsfonds für politische Gefangene verbunden, durch mich wurden von dort Pakete und Geld an betagte politische Gefangene in der ganzen Ukraine übergeben.

 

Vom Kampf mit der Zwangspsychiatrie bis zum Verteilen von Kartoffeln

Hier ein Beispiel für die Arbeit der Menschenrechtsgruppe. Über einen politischen Gefangenen aus dem ukrainischen Teil der Liste, Mykola Oleksijovytsch Valkov, geboren 1936, konnte ich nichts in Erfahrung bringen, niemand hatte etwas von ihm gehört. Ich hatte auch schon Anfragen verschickt und bekam zur Antwort, dass es ihn im Strafvollzugssystem nicht gäbe. Aber dann wurde er in einer psychiatrischen Klinik gefunden. Er war in einem regionalen Krankenhaus für psychotische Patienten im Dorf Striletscha im Gebiet Charkiv, neben der jetzigen Grenze zu Russland. Und noch dazu unter besonders strengen Bedingungen: Zwangsbehandlung, ihm war sogar verboten, die Station zu verlassen, auf der er sich befand. Jede Station war in einem eigenen Gebäude, am Eingang war immer eine Wache. Ich begann, ihn zu besuchen, brachte ihm Pakete, unterhielt mich mit dem behandelnden Psychiater, dem Oberarzt und dem Chefarzt und Stück für Stück lockerten sie die Bedingungen. Zuerst erlaubten sie Spaziergänge auf dem Krankenhausgelände, dann das Gelände zu verlassen, danach wurde er ein paar Mal für einige Tage in die Obhut seiner Angehörigen gegeben, schließlich ließen sie ihn alleine nach Charkiv. Er kam zu uns in Büro, verbrachte dort einige Stunden und kehrte wieder zurück. Das ganze endete damit, dass sie ihn einfach aus dem Krankenhaus entließen und er in seine Heimat Isjum ging, wo er geboren worden war und wo seine Schwester lebte. Er kam ziemlich oft zu uns nach Charkiv und starb dann in den 2000er Jahren. Er hatte ein schweres Schicksal, seit seiner Jugend hatte er mit kurzen Unterbrechungen wegen politischer Verfahren gesessen: für öffentliche Proteste und ukrainischen Samisdat. Beim dritten Mal war er in der psychiatrischen Klinik gelandet, wo man ihn viele Jahre festhielt. Äußerlich wirkte er wie ein völlig gesunder, vernünftig denkender Mensch, in den vielen Jahren des Kontaktes mit ihm habe ich bei ihm nie irgendwelche Anzeichen einer psychischen Störung bemerkt.

In erster Linie hat die Menschenrechtsgruppe Memorial auf unmittelbare Menschenrechtsverletzungen reagiert, deren es ziemlich viele gab. Aber es gab zwei Themen, mit denen ich mich systematisch beschäftigt habe und die viel Zeit in Anspruch nahmen.

Das erste ist die Verfolgung von Personen, die informelle Presse verbreiten. Menschen, die informelle Publikationen verkaufen, wurden von der Polizei verfolgt. Und ich habe diese Tätigkeit durch den Stadtrat legalisieren lassen und eine Verordnung über den Verkauf dieser Publikationen an bestimmten Orten geschrieben: Einer Person wurde ein Platz zugewiesen, an dem sie Ordnung halten musste, ihre Publikationen verkaufen konnte und sogar eine kleine Steuer zahlte, Kopeken. Das waren die Vorläufer der späteren Kioske, die dann in Massen auftauchten. Kuschnarjov unterstützte diese Idee und das Dokument wurde durch eine Entscheidung des städtischen Exekutivkomitees angenommen. Währenddessen bemerkte ich, dass es dort eine eigene Korruption gab und informelle Regeln aufgestellt worden waren. Es gab eine Art Paten, der das alles leitete und die Plätze bestimmte, wo genau Literatur verkauft wurde. Er sprach sich mit der Polizei ab und trieb von allen Verkäufern eine Abgabe ein. Aber als diese Entscheidung des Exekutivkomitees in Kraft trat, beruhigte sich alles, und solange dieser Verkauf existierte, war alles ziemlich zivilisiert. Aber das endete sehr schnell mit dem Beginn der ökonomischen Krise im Jahr 1992.

Das zweite Thema war die Verfolgung wegen des Zeigens der ukrainischen Nationalflagge. Vom Frühjahr 1989 an wurden die hartnäckigsten Demonstranten, die mit der Flagge zu Demonstrationen gingen, systematisch verfolgt und wurden sogar in Ordnungshaft genommen. Ich schrieb permanent im Memorial-Bulletin in der „Express-Chronik“, dass dieses Vorgehen völlig ungesetzlich ist. Die Polizei behandelte es als Verstoß gegen den Versammlungsparagraphen, aber das Zeigen der Flagge war in keiner Weise verboten. Wir gingen auch auf diese Demonstrationen, um die Charkiver National-Demokraten zu unterstützen. Am 5. Dezember 1989 bei einer öffentlichen Versammlung zum Tag der Verfassung im Kulturzentrum „Stroiteli“ nahm die Polizei das erste Mal niemanden wegen der Flagge fest und war gezwungen, sich mit ihrer Anwesenheit abzufinden. Als ein Polizist forderte, die Flagge zu entfernen, antwortete Mykola Hryhorovytsch Starunov, Führer der Gruppe „Vybory-89“ [Wahlen 89], der die Versammlung leitete, dass diese Flagge seit den Zeiten Vladimirs des Heiligen bekannt sei und wir sie nicht entfernen würden. Die Polizei gab nach und seither hörten die Verfolgungen auf.

Kurz zuvor war ich zu einem Empfang bei General Oleksandr Markovytsch Bandurka gewesen, dem Chef der regionalen Polizeibehörde und hatte mich als Vorstandsmitglied von Memorial vorgestellt. Wir stritten damals drei Stunden miteinander. Er war ein würdiger Gegner, auf einige seiner Argumente wusste ich nicht zu antworten. So sagte er zum Beispiel: 'Sie sind doch Jude und schützen faktisch diese Banditen, diese sogenannten UPA-Kämpfer, die unter dieser Flagge Judenpogrome veranstaltet haben! Wie können Sie nur?!' Ich wusste damals nichts darüber und auch nicht gleich, was ich antworten sollte. 'Nehmen wir mal die Kommunisten', sagte er, 'haben sie zugegeben, dass sie unter der roten Flagge Verbrechen begangen haben? Sie haben es zugegeben! Und nun ist das allgemein bekannt! Und sie haben diese Dinge verurteilt! Die Kommunistische Partei hat sie verurteilt! Und warum haben diese Leute ihre Verbrechen unter der gelb-blauen Flagge nicht zugegeben?' An dieser Stelle fiel es mir schon leichter über die Verbrechen des Kommunismus zu sprechen, zu denen sich die Partei nicht bekannt hatte. So stritten wir und stritten und dann aber sagte er: 'Na, andererseits jagen wir umsonst hinter den Jungs mit diesen Flaggen her. Man muss doch nur mal überlegen, was ist das denn, eine Flagge? Man muss mit Vasylyschyn darüber sprechen.' (damaliger Innenminister der Ukrainischen SSR).

Und dann freundete sich Bandurka ziemlich mit den ukrainischen Organisationen Prosvita und Tovarystvo drusiv ukrajinskoj movy an ['Bildung' und 'Gemeinschaft der Freunde der Ukrainischen Sprache'], er stellte ihnen immer einen Raum für ihre Versammlungen, Konzerte und andere Aktionen zur Verfügung, oft trug er eine Vyschyvanka und sie waren wirklich vernarrt in ihn.

Aber zurück zur Arbeit von Memorial noch in der Sowjetzeit. 1990 beschloss Solzhenizyn, jedem ehemaligen politischen Häftling die sowjetische Erstausgabe des „Archipel Gulag“ zu schenken, das waren vier hellrote Taschenbücher. Ich übergab die ersten von Memorial zur Verfügung gestellten Listen politischer Häftlinge, die in Charkiv lebten, der Stiftung, es waren mehr als 200 Menschen. Und ich brachte die 200 Ausgaben aus Moskau nach Charkiv, verteilte und verschenkte sie: 'Das ist für Sie von Aleksandr Issajevitsch persönlich.' Ich glaube, seine Unterschrift stand auch auf dem Titel.

Damals, als ich feststellte, wer von den ehemaligen politischen Häftlingen in Armut lebte, schlug ich vor: 'Lasst uns aus Haushaltsmitteln Kartoffeln kaufen und ich werde sie verteilen.' Kuschnarjov, der Vorstandsvorsitzende, und Mychajlo Pylyptschuk, Vorsitzender des Exekutivausschusses, waren derart erfreut, dass sie sofort Gelder bereitstellten, Kartoffeln kauften und wir also in diesem Hungerwinter jedem einen Sack Kartoffeln brachten. In Jahr darauf wiederholten wir das.

 

Kommission für die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen

Damals 1990 beschloss ich, eine Kommission beim Stadtrat zu gründen, die den Opfern politischer Repressionen helfen sollte. Da sahen die kommunistischen Abgeordneten von Charkiv die Gelegenheit, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie unterstützen das einhellig, alles lief wie geschmiert. Ich habe selbst das Reglement geschrieben: Was und wie die Kommission arbeiten soll, wer ihr angehören soll, welche Vertreter von welchen örtlichen Stellen. Und die Sitzung stimmte dafür, damals gab es das Rehabilitierungsgesetz noch nicht, es wurde erst im April 1991 verabschiedet. Dann fasste der Stadtrat den Beschluss über Leistungen für politische Gefangene und ihre Familienangehörigen (Witwen und in Ausnahmefällen Kinder), die höher ausfielen als in dem später verabschiedeten Gesetz. Ich war der stellvertretende Vorsitzende dieser Kommission, der Vorsitzende war der stellvertretende Vorsitzende des Stadtexekutivkomitees, der die Beschlüsse unterzeichnete. Seine Unterschrift wurde abgestempelt, aber ich machte die ganze Arbeit. Wir nahmen die Arbeit auf und die Menschen kamen zu uns. Es war interessant für mich, mit ihnen zu sprechen, sie erzählten viel. Das alles war sehr spannend, nützlich und auch wichtig für die Politischen Gefangenen. Viele hatte noch Angst und tauchten erst später auf, als das Rehabilitierungsgesetz in Kraft trat.

Zu dieser Zeit deutete nichts auf den bevorstehenden Zusammenbruch der Sowjetunion hin. Tatsächlich war Charkiv die erste Stadt in der UdSSR, in der eine solche Entscheidung getroffen wurde: Ehemalige Opfer politischer Repressionen sollten auf Kosten des lokalen Haushalts unterstützt werden. Ich wurde von Vira Ivanivna Ivaschtschenko unterstützt, die in ihren 60ern war und zuvor Sekretärin des Stadtrats, aber zu dieser Zeit Rentnerin und Leiterin einer Sondereinheit. Sie war eine harte Parteifrau mit einer kräftigen, wohlklingenden Stimme, aber gleichzeitig eine hervorragende Verwalterin und Organisatorin. Sie hatte die Aufgabe, die Unterlagen all jener entgegenzunehmen und zu prüfen, die Leistungen beantragten. Und sie war voller Mitgefühl für diese Menschen.

Zu dieser Zeit war die Popularität der Kommunistischen Partei praktisch gleich Null und es war die Gelegenheit für die Kommunisten, sich in einem positiven Licht zu zeigen. Aber sie war sehr streng bei der Prüfung der Dokumente. Wir stritten uns oft: Ich interpretierte alle Ungenauigkeiten zugunsten der Verfolgten und sie zugunsten des Staates. Manchmal gelang es mir, sie umzustimmen. Es gab besonders viele Streitigkeiten über die Gewährung von Leistungen für Kinder von Verfolgungsopfern. Ich bestand darauf, dass die Kinder, die in das Kinder-Lager des NKWD geraten waren, dieselben Leistungen erhalten sollten wie die Kinder, deren Vater und Mutter gestorben waren. Außerdem wurde deutlich, wie sich die Repressionen (vor allem der 1930er Jahren) auf das gesamte Leben der Kinder ausgewirkt hatte. Sie wurden während des Krieges nicht evakuiert, viele wurden nach Deutschland verschleppt, konnten nie eine höhere Ausbildung erhalten. Das Stigma 'Sohn eines Volksfeindes' (oder Tochter) nahm vielen die Möglichkeit, an einer Hochschule zu studieren. Die Mitglieder der Kommission untersuchten die soziale Situation dieser Menschen, und was für eine Armut erlebten sie manchmal! Solche Fälle wurden von der Kommission als Ausnahmen betrachtet.

Die Leistungen waren beträchtlich: 100 Prozent Ausgleich für Wohnungs- und Nebenkosten, freie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, all das war bereits in dieser Entscheidung auf Kosten des lokalen Haushalts enthalten. Die Menschen kamen zu den Terminen, meldeten sich für die Leistungen an, und das half Memorial gleichzeitig, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Mit der Verabschiedung des Rehabilitationsgesetzes wurden die Leistungen an das Gesetz angepasst und unsere Kommission in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Gesetzes neu gegründet. Ihr Wesen änderte sich nicht, aber sie war nicht mehr rein öffentlich und hatte zwei Vollzeitstellen. Und Henrich Altunyan und mir gelang es, unseren Freunden von Memorial, Iryna Rapp und Sofija Karasyk, eine Arbeit zu besorgen.

 

Iryna Rapp (1977)
Iryna Rapp (1977)

 

1969 waren Iryna und Sofija aus ihren Jobs geflogen. Sofija arbeitete nicht mehr als Ingenieurin, sondern als Krankenschwester, bei der Post oder machte andere körperliche Arbeiten. Iryna hatte aufgehört an der Universität Physik zu lehren, an die Verteidigung ihrer Dissertation war nicht mehr zu denken. Sie wurde in den Forschungsbereich der Universität versetzt. Und ein paar Jahre bevor sie in den Ruhestand gingen, schickten wir beide in die Kommission zur Wiederherstellung der Rechte der Rehabilitierten beim Stadtrat von Charkiv, so lautete der genaue Name. Für Iryna und Sofija war das eine tägliche Arbeit, sie arbeiteten sehr aktiv und engagierten sich für die Umsetzung des Rehabilitationsgesetzes in Charkiv. Ich war der stellvertretende Vorsitzende der Kommission. Man könnte sagen, dass wir die Wohltätigkeitsarbeit von Memorial auf lokaler Ebene kontrollierten. Als Iryna und ein Jahr später auch Sofija in den Ruhestand gingen, blieben sie auf ehrenamtlicher Basis und Ihor Lomov von Memorial, ebenfalls ein ehemaliger politischer Häftling, wurde ständiges Mitglied der Kommission.

 

„Rehabilitiert durch die Geschichte“

Anfang April 1992 wurde ein Parlamentsbeschluss über die Erstellung einer mehrbändigen wissenschaftlich-dokumentarischen Publikation über die Opfer der Repressionen in der Ukraine gefasst. In jedem Gebiet wurden mit Haushaltsmitteln Redaktionsgruppen unter der Bezeichnung „Rehabilitiert durch die Geschichte“ gegründet, die ein Buch mit demselben Titel über die Repressionen im jeweiligen Gebiet erstellen sollten. Faktisch ging es darum, Gedenkbücher zu erstellen, die eine Namensliste aller politisch Verfolgten und Rehabilitierten enthielten. Alle diese regionalen Gruppen arbeiteten im SBU-Regionalarchiv und erstellten und veröffentlichten Gedenkbücher. Einige dieser Gruppen, insbesondere in Charkiv, erstellten auch eine Datenbank über die Opfer politischer Repressionen in ihrer Region. In Charkiv wurde die Redaktionsgruppe ebenfalls von Memorial kontrolliert und von Nina Laptschynska geleitet, der Co-Vorsitzenden von Memorial, einer Historikerin und Museumswissenschaftlerin. Alle im SBU-Archiv aufbewahrten Archiv- und Ermittlungsakten wurden in eine Datenbank eingegeben, dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

 

Iryna Rapp mit Julij Kim
Iryna Rapp mit Julij Kim

 

Eine weitere interessante Geschichte, die sowohl mit Memorial als auch mit dem Stadtrat zusammenhängt, ist ein Massengrab im Lesopark (ein Waldgebiet am Stadtrand von Charkiv). Dort liegen Polen, die im Frühjahr 1940 in Charkiv erschossen wurden. Zuvor schon hatten Memorial-Aktivisten verschiedene Beweise für diese Tatsache gesammelt. Sie hatten Abzeichen, Knöpfe und andere Gegenstände gefunden und sie alle nach Polen geschickt. Die Polen übergaben diese Artefakte dann an Gorbatschov und in Charkiv wurde eine Untersuchung eingeleitet. Anfang 1989 eröffnete die Staatsanwaltschaft der Region Charkiv ein Strafverfahren, das sehr bald an die Oberste Militärstaatsanwaltschaft der UdSSR übergeben wurde, die es gemeinsam mit der polnischen Militärstaatsanwaltschaft untersuchte. Im Juli 1991 führten speziell entsandte Militäreinheiten eine Exhumierung durch, bei der zahlreiche Überreste der Hingerichteten - sowohl Polen als auch Einwohner von Charkiv - gefunden wurden. Die Umbettung der sterblichen Überreste und die Einweihung des Gedenkkomplexes zum Andenken an die Opfer wurde auf den 7. August festgesetzt. Memorial schlug vor, im Namen der Stadtverwaltung von Charkiv eine Marmorplatte mit einer Inschrift in ukrainischer und polnischer Sprache am Eingang des Gedenkkomplexes anzubringen. Der Stadtrat unterstützte diesen Vorschlag, aber die Inschrift löste einen ziemlichen Aufruhr aus. Der Text lautete: 'Hier ruhen die Überreste sowjetischer und polnischer Bürger, die in den Mauern des NKWD gequält wurden'. Dem KGB gefielen diese 'NKWD-Mauern' überhaupt nicht und Kuschnarojv wurde unter Druck gesetzt, die Inschrift zu ersetzen. Er erhielt sogar einen Anruf des stellvertretenden Außenministers. Kuschnarjov aber weigerte sich strikt, die Inschrift zu ändern, und erklärte, er könne dem Vorschlag von Memorial nicht widersprechen. Und so blieb die Inschrift auf der Tafel bestehen.

 

Von Memorial zur KHPG (und was Gartenarbeit damit zu tun hat)

Der historisch-pädagogische und karitative Bereich wurden vom Staat unterstützt und Memorial in Charkiv stellte dort Mitarbeiter für eine dauerhafte Arbeit ein. Die Menschenrechtsgruppe befasste sich mit konkreten Menschenrechtsverletzungen und der Hilfe für deren Opfer, gab Bulletins heraus, führte Aufzeichnungen über „Ostarbeiter“ und half ihnen bei der Beschaffung von Beweisen, wenn Dokumente über ihren Aufenthalt in Deutschland in unseren Archiven nicht verfügbar waren.

Aber es gab auch bedeutende Veränderungen. In Charkiv geschah das, was damals 1990-1992 in praktisch allen regionalen Memorial-Gruppen passierte, auch in Moskau. Einige der ehemals Verfolgten und ihre Kinder waren unzufrieden damit, dass Memorial noch etwas anderes tat, was über die Beschäftigung mit ihnen hinausging. Sie wollten keinen Menschenrechtsaktivismus, keine Forschung zur Geschichte des Terrors usw. Sie dachten, Memorial sei eine Veteranenorganisation für Menschen, die in ihrer Zeit gelitten hatten, und die Hauptaufgabe sei es, ihnen zu helfen. Überall begann Memorial sich zu spalten oder es entstanden Opferverbände, die sich nur noch um ihre Mitglieder kümmerten. Auch in Charkiv wurde eine solche Gesellschaft gegründet. Bereits früher hatten unsere Memorialer einen eigenen Gartenverein gründen wollen, der natürlich Memorial heißen sollte, und sie zwangen die Leitung, sich damit zu beschäftigen. Ich war Co-Vorsitzender von Memorial und musste mich damit befassen.

Henrich Altunjan und ich gingen zum regionalen Exekutivkomitee von Charkiv, das Memorial 80 Grundstücke zu je 5 Hektar in der Nähe der Stadt und des Bahnhofs zuwies, wo regelmäßig Züge verkehrten, kurz gesagt, in einer sehr günstigen Lage. Aber es stellte sich heraus, dass unsere Mitglieder von nichts anderem als von Kleingärtnerei etwas wissen wollten. Ich hatte es schwer mit ihnen, weil sie nicht alles nach Vorschrift machen wollten: Zuerst einen Bebauungsplan erstellen, ihn von allen notwendigen Behörden genehmigen lassen, die Parzellen gemäß dem Plan verteilen usw. Unsere alten Leute fingen an, Grundstücke zu übernehmen, noch bevor der Bauplan genehmigt und die Gesellschaft gegründet war. Einige von ihnen übernahmen vier Grundstücke und wollten sie nicht abgeben, aber es gab viele Leute, die eines wollten und natürlich gab es nicht genug für alle. Ich führte das Prinzip ein: eine Parzelle pro Rehabilitationsbescheinigung, verteilte alle Parzellen neu, formalisierte alles, hielt eine konstituierende Sitzung ab, wählte den Vorstand des Vereins und erst dann konnte ich diese Beschäftigung aufgeben. Ich selbst wollte keine Parzelle und meine Mutter auch nicht, da sie zu diesem Zeitpunkt schon schlecht zu Fuß war. Und obwohl unsere alten Leute unbedingt wollten, dass ich die Leitung der Gesellschaft übernehme, lehnte ich das rundheraus ab. Auch Iryna Rapp und Sofija Karasyk lehnten ab, so leid waren wir diese Streitereien.

 

Andrij Hryhorenko, Jefim Sacharov und Marlena Rachlina (Jevhen Sacharovs Eltern), Oleksij Smyrnov, Larisa Bogoras und Henrich Altunjan (1993)
Andrij Hryhorenko, Jefim Sacharov und Marlena Rachlina (Jevhen Sacharovs Eltern), Oleksij Smyrnov, Larisa Bogoras und Henrich Altunjan (1993)

 

Ein ganzes Jahr lang war es bei den Treffen von Memorial nur um diese Kleingärten gegangen, für alles andere war keine Zeit und unsere neu bekehrten Gärtner waren an nichts Anderem interessiert. Wir hatten das so satt, dass wir beschlossen, die Menschenrechtsgruppe von Memorial als neue Organisation zu legalisieren. So entstand die Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG). Sie wurde am 10. November 1992 registriert, aber wir arbeiteten das ganze Jahr 1992 schon getrennt von Memorial.

Gleichzeitig blieben wir alle bei Memorial, aber es hörte allmählich auf zu funktionieren. Diejenigen, die eine Parzelle haben wollten, waren nur daran interessiert. Die historische und pädagogische Leitung ging an die budgetierte Organisation 'Rehabilitiert durch die Geschichte'. Die karitative Leitung an die Kommission beim Stadtrat zur Wiederherstellung der Rechte der Rehabilitierten, die eigentlich all die Jahre von uns kontrolliert worden war. Und die Menschen verschwanden nach und nach einfach aufgrund ihres Alters. Es ist immer bitter für mich, wenn ich daran denke, dass unser Memorial gestorben ist, aber das lief überall so. Überall dort, wo ehemalige Verfolgte ihre eigenen, von den jungen Leuten getrennten Veteranenorganisationen gegründet haben, sind diese Organisationen nach und nach verschwunden.

Die KHPG wurde von 11 Personen gegründet und hat sich zu einer der größten zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes entwickelt. Es gibt nur zwei derart große Menschenrechtsorganisationen: die KHPG und die Ukrainische Helsinki-Menschenrechtsgruppe, die ebenfalls auf unsere Initiative hin im Jahr 2004 gegründet wurde. Und nach und nach wurde die Arbeit in der KHPG zu meiner Hauptaufgabe, ja zu meiner einzigen Aufgabe.“

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

10. November 2024 / 18. Januar 2025

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