Versuche einer politischen Rehabilitierung Stalins - Aufruf der Gesellschaft MEMORIAL

In letzter Zeit sind in Russland erneut Aufrufe zu vernehmen, "die Verdienste Stalins anzuerkennen" und seinen "Namen in ewigem Angedenken zu ehren". Büsten des Generalissimus stehen bereits in Ischim (Gebiet Tjumen), in Tscheljabinsk und im Tscheljabinsker Gebiet. In Machatschkala wurde eine neue Gedenktafel aufgestellt, wo Stalin als "großer Führer der Völker" bezeichnet wird. Auch die Behörden von Volgograd, Mirnyj (Jakutien), Narym (Gebiet Tomsk), Vologda, des Gebiets Belgorod, Krasnojarsk und Kaliningrad erklärten die Absicht, zu Ehren Stalins Denkmäler, Büsten und Gedenktafeln zu errichten. (In Kaliningrad wurde schon 1999 eine Büste des "Führers der Völker" aufgestellt, dann jedoch wieder entfernt.)

Bisher wurde versucht, die Bedeutung dieser Aufrufe zu verschleiern, indem man sich auf unterschiedliche Umstände berief. Das ging von lächerlichen Beschwörungen des ästhetischen Werts von Surab Zeretelis Skulpturen bis zu der Behauptung, es sei notwendig, unsere Vergangenheit "ohne Vorurteile" zu betrachten und allen Personen der vaterländischen Geschichte eine ausgewogene und angemessene Bewertung zuteil werden zu lassen.

Der Stadtrat von Orel schließlich richtete einen Appell an den russischen Präsidenten, die Bundesversammlung der Russischen Föderation sowie verschiedene repräsentative Machtorgane ihrer Subjekte und an russische Stadtverwaltungen. Ohne Umschweife forderte er offen Stalins politische Rehabilitierung. Wer sich dem widersetzt, wird von vornherein zum Vaterlandsverräter erklärt.

In den nächsten Tagen dürfte es noch in anderen russischen Regionen zu einer Kampagne für die "Wiederherstellung des guten Namens" des verblichenen Diktators kommen. Die Stalinisten berufen sich meist auf die Tätigkeit Stalins als Oberster Befehlshaber im Großen Vaterländischen Krieg.

Stalin als Haupturheber des Sieges und als Banner des sowjetischen Volkes in den Kriegsjahren hinzustellen hieße, die Heldentat des gesamten Volkes und deren sittliche Bedeutung bewusst zu entwerten. Nicht Stalin hat den Krieg gewonnen, sondern das Volk, das gegen den Nationalsozialismus nicht "für Stalin" gekämpft hat, sondern für die Rettung des Vaterlandes und der ganzen Welt.

Selbst wenn Stalin wirklich der "genialste Feldherr aller Zeiten und Völker" gewesen wäre, wenn unter seiner Führung die UdSSR einen schnellen und leichten Sieg über Deutschland errungen hätte, "mit wenig Blut, durch einen mächtigen Schlag" - auch dann bliebe er einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, der Initiator und Leiter eines im Ausmaß präzedenzlosen staatlichen Terrors.

Indes geht es gar nicht darum, ob Stalin ein guter oder schlechter Befehlshaber war, nicht darum, welchen Beitrag er zum Sieg 1945 geleistet hat, ja nicht einmal darum, dass gerade er die militärischen Aktionen während der katastrophalen Niederlagen der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 geleitet hat. Ausschlaggebend für seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg sind andere Umstände.

Stalin ist es, der die Verantwortung für die falsche Beurteilung des Zeitpunkts eines möglichen Angriffs der Wehrmacht auf die UdSSR trägt. Aufgrund dieser Fehleinschätzung konnte Hitler unser Land völlig unvorbereitet überfallen. Dieser Fehler hängt untrennbar mit Stalins zynischer und kurzsichtiger Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland von 1939 bis 1941 zusammen. Die riesigen menschlichen und territorialen Verluste der UdSSR zu Kriegsbeginn waren der Preis dafür.

Gerade Stalin hat Millionen sowjetischer Soldaten verraten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Der Oberste Befehlshaber sagte sich öffentlich von ihnen los, erklärte sie zu Feiglingen und Verrätern und tat nichts, um das Los der sowjetischen Gefangenen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu erleichtern. In der Folge starben über drei Millionen unserer Landsleute in der Gefangenschaft an Hunger, Krankheiten und übermäßig schwerer Arbeit.

Der Sieg des sowjetischen Volkes im antifaschistischen Befreiungskampf wurde von Stalin zynisch dazu genutzt, um seine persönliche Macht in der UdSSR zu stärken und sie auf viele osteuropäische Länder auszudehnen. Dort setzte er Marionettenregime ein, die ihm und seinen Nachfolgern im Kreml gefügig waren und die die Völker dieser Länder bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abschüttelten.

Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Vorkriegspolitik Stalins - die Entkulakisierung, die in der Vernichtung und Versklavung der Bauernschaft endete, die durch Verschulden der Stalinschen Regierung ausgelöste Hungersnot, die sechs bis zehn Millionen Menschenleben kostete, die politischen Repressionen, von denen Millionen unserer Mitbürger betroffen waren, die Aufteilung Polens im Abkommen mit Hitler, die Annexion des Baltikums - dass diese Vorkriegspolitik nicht nur an sich verbrecherisch war, sondern auch empfindlich die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes schwächte. Man bedenke nur, dass sich unter den über 700.000 Personen, die in den Jahren 1937-38 erschossen wurden, viele Tausende Kommandierender der Roten Armee befanden, darunter etwa 80 % des höchsten Kommandobestandes der Roten Arbeiter-und-Bauern-Armee.

Diejenigen, die dazu aufrufen, "die Gerechtigkeit in der Bewertung der historischen Rolle Stalins wiederherzustellen", wissen bestens über seine wahre Rolle in unserer tragischen Geschichte Bescheid und versuchen schon längst nicht mehr, die Fakten zu bestreiten. Sie sind ganz einfach der Auffassung, Dutzende Millionen von Menschenleben und die Zerstörung der Freiheit der Völker seien für die "Größe des Imperiums", die unter Stalin erreicht wurde, kein zu hoher Preis. Heute sprechen bekannte Politiker solche Auffassungen offen aus, sie finden sich sogar in einigen Hochschullehrbüchern für Geschichte.

Gerade deshalb ist die "Wiederherstellung des guten Namens Stalins" heute eine tödliche Gefahr für die Zukunft unseres Landes: Sie würde die moralische Messlatte in der Politik erheblich senken, da sie beliebige Verbrechen sanktioniert, solange sie nur politischen Erfolg garantieren.

Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL

Quelle: russischer NAchrichtenserver von MEMORIAL: http://www.memo.ru/daytoday/5stalin4.htm

Überstetzung aus dem Russischen: Vera Ammer (MEMORIAL Deutschland)

26.4.2005

In letzter Zeit sind in Russland erneut Aufrufe zu vernehmen, "die Verdienste Stalins anzuerkennen" und seinen "Namen in ewigem Angedenken zu ehren". Büsten des Generalissimus stehen bereits in Ischim (Gebiet Tjumen), in Tscheljabinsk und im Tscheljabinsker Gebiet. In Machatschkala wurde eine neue Gedenktafel aufgestellt, wo Stalin als "großer Führer der Völker" bezeichnet wird. Auch die Behörden von Volgograd, Mirnyj (Jakutien), Narym (Gebiet Tomsk), Vologda, des Gebiets Belgorod, Krasnojarsk und Kaliningrad erklärten die Absicht, zu Ehren Stalins Denkmäler, Büsten und Gedenktafeln zu errichten. (In Kaliningrad wurde schon 1999 eine Büste des "Führers der Völker" aufgestellt, dann jedoch wieder entfernt.)

Bisher wurde versucht, die Bedeutung dieser Aufrufe zu verschleiern, indem man sich auf unterschiedliche Umstände berief. Das ging von lächerlichen Beschwörungen des ästhetischen Werts von Surab Zeretelis Skulpturen bis zu der Behauptung, es sei notwendig, unsere Vergangenheit "ohne Vorurteile" zu betrachten und allen Personen der vaterländischen Geschichte eine ausgewogene und angemessene Bewertung zuteil werden zu lassen.

Der Stadtrat von Orel schließlich richtete einen Appell an den russischen Präsidenten, die Bundesversammlung der Russischen Föderation sowie verschiedene repräsentative Machtorgane ihrer Subjekte und an russische Stadtverwaltungen. Ohne Umschweife forderte er offen Stalins politische Rehabilitierung. Wer sich dem widersetzt, wird von vornherein zum Vaterlandsverräter erklärt.

In den nächsten Tagen dürfte es noch in anderen russischen Regionen zu einer Kampagne für die "Wiederherstellung des guten Namens" des verblichenen Diktators kommen. Die Stalinisten berufen sich meist auf die Tätigkeit Stalins als Oberster Befehlshaber im Großen Vaterländischen Krieg.

Stalin als Haupturheber des Sieges und als Banner des sowjetischen Volkes in den Kriegsjahren hinzustellen hieße, die Heldentat des gesamten Volkes und deren sittliche Bedeutung bewusst zu entwerten. Nicht Stalin hat den Krieg gewonnen, sondern das Volk, das gegen den Nationalsozialismus nicht "für Stalin" gekämpft hat, sondern für die Rettung des Vaterlandes und der ganzen Welt.

Selbst wenn Stalin wirklich der "genialste Feldherr aller Zeiten und Völker" gewesen wäre, wenn unter seiner Führung die UdSSR einen schnellen und leichten Sieg über Deutschland errungen hätte, "mit wenig Blut, durch einen mächtigen Schlag" - auch dann bliebe er einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, der Initiator und Leiter eines im Ausmaß präzedenzlosen staatlichen Terrors.

Indes geht es gar nicht darum, ob Stalin ein guter oder schlechter Befehlshaber war, nicht darum, welchen Beitrag er zum Sieg 1945 geleistet hat, ja nicht einmal darum, dass gerade er die militärischen Aktionen während der katastrophalen Niederlagen der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 geleitet hat. Ausschlaggebend für seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg sind andere Umstände.

Stalin ist es, der die Verantwortung für die falsche Beurteilung des Zeitpunkts eines möglichen Angriffs der Wehrmacht auf die UdSSR trägt. Aufgrund dieser Fehleinschätzung konnte Hitler unser Land völlig unvorbereitet überfallen. Dieser Fehler hängt untrennbar mit Stalins zynischer und kurzsichtiger Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland von 1939 bis 1941 zusammen. Die riesigen menschlichen und territorialen Verluste der UdSSR zu Kriegsbeginn waren der Preis dafür.

Gerade Stalin hat Millionen sowjetischer Soldaten verraten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Der Oberste Befehlshaber sagte sich öffentlich von ihnen los, erklärte sie zu Feiglingen und Verrätern und tat nichts, um das Los der sowjetischen Gefangenen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu erleichtern. In der Folge starben über drei Millionen unserer Landsleute in der Gefangenschaft an Hunger, Krankheiten und übermäßig schwerer Arbeit.

Der Sieg des sowjetischen Volkes im antifaschistischen Befreiungskampf wurde von Stalin zynisch dazu genutzt, um seine persönliche Macht in der UdSSR zu stärken und sie auf viele osteuropäische Länder auszudehnen. Dort setzte er Marionettenregime ein, die ihm und seinen Nachfolgern im Kreml gefügig waren und die die Völker dieser Länder bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abschüttelten.

Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Vorkriegspolitik Stalins - die Entkulakisierung, die in der Vernichtung und Versklavung der Bauernschaft endete, die durch Verschulden der Stalinschen Regierung ausgelöste Hungersnot, die sechs bis zehn Millionen Menschenleben kostete, die politischen Repressionen, von denen Millionen unserer Mitbürger betroffen waren, die Aufteilung Polens im Abkommen mit Hitler, die Annexion des Baltikums - dass diese Vorkriegspolitik nicht nur an sich verbrecherisch war, sondern auch empfindlich die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes schwächte. Man bedenke nur, dass sich unter den über 700.000 Personen, die in den Jahren 1937-38 erschossen wurden, viele Tausende Kommandierender der Roten Armee befanden, darunter etwa 80 % des höchsten Kommandobestandes der Roten Arbeiter-und-Bauern-Armee.

Diejenigen, die dazu aufrufen, "die Gerechtigkeit in der Bewertung der historischen Rolle Stalins wiederherzustellen", wissen bestens über seine wahre Rolle in unserer tragischen Geschichte Bescheid und versuchen schon längst nicht mehr, die Fakten zu bestreiten. Sie sind ganz einfach der Auffassung, Dutzende Millionen von Menschenleben und die Zerstörung der Freiheit der Völker seien für die "Größe des Imperiums", die unter Stalin erreicht wurde, kein zu hoher Preis. Heute sprechen bekannte Politiker solche Auffassungen offen aus, sie finden sich sogar in einigen Hochschullehrbüchern für Geschichte.

Gerade deshalb ist die "Wiederherstellung des guten Namens Stalins" heute eine tödliche Gefahr für die Zukunft unseres Landes: Sie würde die moralische Messlatte in der Politik erheblich senken, da sie beliebige Verbrechen sanktioniert, solange sie nur politischen Erfolg garantieren.

Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL

Quelle: russischer NAchrichtenserver von MEMORIAL: http://www.memo.ru/daytoday/5stalin4.htm

Überstetzung aus dem Russischen: Vera Ammer (MEMORIAL Deutschland)

26.4.2005

Zurück

Suche