Erklärung der Internationalen Vereinigung Memorial
In diesem Jahr wird in Europa, und nicht nur dort, der 85. Jahrestag seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begangen.
Nach seinem Ende schien es, dass die Menschheit die erlittene Tragödie nicht vergessen würde und in der Lage wäre, ihre Lehren daraus zu ziehen. Und tatsächlich wurden die Worte: „Wenn es nur keinen Krieg gibt“, für mehrere Generationen zu einer Art sprichwörtlicher Beschwörungsformel.
Zur Verhinderung neuer Kriege wurden die Vereinten Nationen gegründet sowie internationale Pakte und Konventionen verabschiedet. Die unmittelbaren Anstifter des Krieges wurden vor das Nürnberger Tribunal gestellt, dessen Entscheidungen zu einem der wichtigsten Bestandteile des Internationalen Rechts geworden ist.
Für Europa schien die Ära der Kriege und Annexionen für immer vorbei zu sein. Doch leider steht die Welt vor denselben alten Bedrohungen, heute, nachdem die Generation, die den Krieg gegen den Nationalsozialismus überlebt hat, verstorben ist und die Immunität gegen den Militarismus nachgelassen, wenn nicht gar ganz verschwunden ist, nun, wo der Zweiten Weltkrieg Geschichte geworden ist.
In Europa herrscht ein neuer großer Krieg und Russland hat ihn begonnen. Russland, das sich selbst als Nachfolger der Sowjetunion bezeichnet und einer der Staaten war, die das nationalsozialistische Deutschland besiegt, das Internationale Militärtribunal von Nürnberg und die UNO mitbegründet haben.
Die Gesellschaft Memorial arbeitet mit dem historischen Gedächtnis. Und für uns ist es offensichtlich, dass die Aggression gegen die Ukraine nur deshalb möglich war, weil die derzeitigen russischen Machthaber die Vergangenheit usurpiert haben. Es ist kein Zufall, dass die Russische Historische Gesellschaft ständig, ohne Amtswechsel, von Sergej Naryschkin, dem Direktor des Auslandsgeheimdienstes der Russischen Föderation, geleitet wird. Das Geschichtsbild, das die russischen Behörden der Gesellschaft aggressiv aufdrängen, vor allem die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, ist eine äußerst gefährliche Mischung aus aggressivem Nationalismus, sakralisierter Macht und militaristischer Psychose. Die Ideologie der „russischen Welt“ - das Weltbild, das der Putinismus der Bevölkerung einzuflößen versucht - ähnelt paradoxerweise immer mehr der Ideologie, mit der Hitler vor 85 Jahren zur Eroberung Europas aufbrach.
Immer häufiger übernehmen die russischen Behörden auf verschiedenen Ebenen unbewusst (und vielleicht in einigen Fällen auch bewusst) bekannte Klischees der Nazi-Propaganda in ihrer Rhetorik. So gibt eine der führenden politischen Persönlichkeiten Russlands ohne den geringsten Zweifel die Parole aus: „Ein Land, ein Präsident, ein Sieg“ - eine leichte Abwandlung der NSDAP-Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“- und ein Sportfest in einer der russischen Regionen heißt in Anlehnung an den Titel eines NS-Propagandafilms von 1935 “Triumph des Willens“.
Der russische Präsident leitete seine Aggression gegen die Ukraine mit einem umfangreichen „historischen“ Artikel ein, in dem er die Existenz des ukrainischen Volkes, seine Sprache und Kultur sowie sein Recht auf einen unabhängigen Staat in Frage stellte. Dies erinnert sehr stark an ähnlichen Äußerungen von Naziführern über andere Völker und kann durchaus als theoretische Rechtfertigung für einen Völkermord bezeichnet werden. Nicht verwunderlich, dass er kürzlich öffentlich nicht den Aggressor, sondern dessen Opfer für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich machte: „...Die Polen haben ihn gezwungen, sie haben Spielereien gemacht und Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg genau mit ihnen zu beginnen. Warum hat der Krieg am 1. September 1939 gerade mit Polen begonnen? Es wollte nicht kooperieren. Hitler blieb bei der Verwirklichung seiner Pläne nichts Anderes übrig, als mit Polen zu beginnen.“ Man kann sich kaum eine Aussage vorstellen, die mit dem Urteil des Nürnberger Tribunals weniger vereinbar ist.
Gleichzeitig werden Auslegungen historischer Ereignisse, die der offiziellen Darstellung widersprechen, wie etwa das Ziehen von Parallelen zwischen Stalinismus und Faschismus oder der Hinweis auf die Rolle des Molotow-Ribbentrop-Pakts bei der Entfesselung des Krieges, strafrechtlich verfolgt. Russische Gerichte betrachten solche Äußerungen - und nicht Äußerungen wie die Putins - als „Leugnung der durch das Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs festgestellten Tatsachen“ und betrachten sie als „Rehabilitierung des Nazismus“ (Art. 354.1 StGB der Russischen Föderation).
Es stellt sich unweigerlich die Frage: Warum ist es den Machthabern gelungen, die Geschichte in einem relativ freien Land (und in den 1990er Jahren war Russland noch teilweise frei) an sich zu reißen? Wir glauben, dass dies geschah, weil die wichtigsten Fragen der sowjetischen und russischen Geschichte nicht Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion geworden sind und das öffentliche Bewusstsein nicht erreicht haben. Und zu Beginn von Putins Herrschaft erlaubten diese Leerstellen – wir sprechen nicht von Lücken im historischen Wissen, solche gibt es im Wesentlichen nicht mehr, sondern von Leerstellen im Massenbewusstsein – den Behörden, den Weg der aggressiven politischen Manipulation einzuschlagen.
Das Gesagte bezieht sich insbesondere auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und in erster Linie auf die Voraussetzungen für diesen Krieg. Natürlich war der Hauptgrund dieses Krieges die aggressive Politik des nationalsozialistischen Deutschlands. Das Urteil, dass in Nürnberg über die ehemaligen Führer des Dritten Reiches verhängt wurde, befand sie für schuldig, „Verbrechen gegen den Frieden begangen zu haben, indem sie aggressive Kriege geplant, vorbereitet, entfesselt und durchgeführt haben, die außerdem internationale Verträge und Garantien verletzten.“
Aber das Nürnberger Tribunal konnte und wollte sich aus offensichtlichen Gründen nicht mit der Rolle der Vorkriegspolitik der Siegermächte bei der Schaffung der Voraussetzungen befassen, die den Zweiten Weltkrieg ermöglichten. In Nürnberg wurde eine bestimmte Gruppe von Menschen für bestimmte Verbrechen verurteilt, die von eben diesen Menschen begangen wurden. Diese Fragen jedoch können nicht von der Tagesordnung genommen werden. Sie gehören in den Bereich der politischen Moral und sollten daher nicht nur von Historikern untersucht, sondern auch von der Gesellschaft reflektiert werden.
Für die westliche Gesellschaft war das wichtigste Thema „die Besänftigung des Aggressors“ auf Kosten der Opfer der Aggression, d. h. das am 30. September 1938 unterschriebene Münchner Abkommen. Das erste Opfer dieses Abkommens war die Tschechoslowakei, gefolgt von England und Frankreich, die das Abkommen unterschrieben hatten. Für Russland war das vor allem der Molotow-Ribbentrop-Pakt, der am 23. August 1939 geschlossen wurde: die Mitschuld der UdSSR an der Aggression. Zu den Opfern dieses Paktes (in erster Linie des geheimen Zusatzprotokolls über die Abgrenzung von Interessensphären) wurden Polen, Estland, Litauen, Lettland, Finnland und Rumänien, und schließlich die Sowjetunion.
Das Münchener Abkommen wird oft mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt verglichen, und das zu Recht. Die Folge beider Verträge, im ersten Fall indirekt und im anderen direkt, war der Zweite Weltkrieg. Es gibt jedoch zwei wesentliche Unterschiede zwischen diesen Abkommen. Erstens strebten die britische und französische Führung in München keine territorialen Gewinne an. Ihr Verhalten, das in erster Linie von der Angst vor einem Krieg diktiert wurde, war äußerst kurzsichtig. Die „Beschwichtigungspolitik“ (Appeasement-Politik) war ein Verrat an der Tschechoslowakei und, wie die Zukunft zeigte, auch ein Verrat an den Interessen ihrer eigenen Länder; aber man kann diese Politik schwerlich als aggressiv bezeichnen. Zweitens wurde das Münchner Abkommen öffentlich geschlossen, und es wurden keine geheimen Protokolle angehängt. Selbst die territorialen Ansprüche Polens und Ungarns, die beschlossen hatten, die Gunst der Stunde zu nutzen, wurden öffentlich gemacht. Der von Molotow und Ribbentrop unterzeichnete Vertrag war nur dem Namen nach ein „Nichtangriffspakt“; das Abkommen über die Aufteilung Osteuropas zwischen Hitler und Stalin wurde unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit geschlossen.
Das Münchner Abkommen kann als Fahrlässigkeit betrachtet werden, die einem Verbrecher freie Hand gelassen hat, der Hitler-Stalin-Pakt hingegen war ein Komplott mit einem Verbrecher zur direkten Beteiligung an Verbrechen. Kein einziger seriöser westlicher Historiker und kein zurechnungsfähiger westlicher Politiker versucht heute das Münchner Abkommen und seine verhängnisvolle Rolle auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg zu rechtfertigen.
Bei der Bewertung des sowjetisch-deutschen Pakts durch sowjetische und zeitgenössische russische Historiker und Politiker ist die Sache komplizierter. In der UdSSR wurde der Pakt bis Ende der 1980er Jahre als ein erzwungenes diplomatisches Manöver betrachtet, das es ermöglichte, Hitlers Aggression gegen die Sowjetunion um zwei Jahre zu verzögern und sich besser auf den Krieg vorzubereiten. Der 22. Juni 1941 und die anschließende militärische Katastrophe haben den Preis für dieses Argument gezeigt. Welche Rolle dieses „Manöver“ beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs spielte, verschwieg man lieber, und was das geheime Zusatzprotokoll zum Pakt betrifft, so leugnete die UdSSR dessen Existenz und erklärte das von den Amerikanern in den Archiven des deutschen Außenministeriums entdeckte Dokument für eine „Fälschung“. Die Aktionen der Roten Armee im September 1939 wurden nicht in den Kontext des Zweiten Weltkriegs eingeordnet, sondern ausschließlich als „Befreiungsaktion“ mit dem Ziel der „Wiedervereinigung der Völker von Belarus und der Westukraine mit ihren sowjetischen Brüdern“ beschrieben.
Erst in den Jahren der Perestrojka wurden der Pakt und seine Folgen ernsthaft diskutiert. Und am 24. Dezember 1989 erkannte der Volksdeputierten-Kongress der UdSSR offiziell die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Molotow-Ribbentrop-Pakt an und gab ihm eine angemessene (wenn auch noch nicht vollständige) historische und rechtliche Bewertung. Im heutigen Russland werden diese Beurteilungen erneut überprüft. Der sowjetisch-deutsche Vertrag wird nicht mehr als „erzwungenes Manöver“ bezeichnet, sondern als „Triumph der sowjetischen Diplomatie“. Die Existenz eines geheimen Abkommens über die Aufteilung Osteuropas zwischen Stalin und Hitler wird von niemandem mehr bestritten: Auch diese Aufteilung ist Teil des Triumphs.
Der Streit um die Fakten ist im Grunde beendet. Aber der Streit um Bewertungen ist neu entbrannt, die Versuche, die aggressive Politik der UdSSR und die Verbrechen des Staates reinzuwaschen, nehmen zu. Von Seiten der russischen Behörden wird dieser Streit auf die übliche Weise geführt: massive Propagandakampagnen, strafrechtliche Verfolgung von Andersdenkenden, Justizfarcen wie der jüngste Prozess in Petrosavodsk zum „Fall des finnischen Genozids an Sowjetbürgern“, Abriss von Denkmälern für unterdrückte Polen, Litauer, Deutsche, Finnen und andere ausländische Bürger, die auf dem Territorium Russlands ums Leben kamen.
Das Nürnberger Tribunal wurde eingerichtet, um die Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte zu bestrafen, so dass die Verbrechen anderer Akteure nicht berücksichtigt werden konnten. Aber auf der Grundlage der vom Tribunal formulierten Rechtspositionen sollten Stalin und seine Mitstreiter jedoch zweifellos als Kriegsverbrecher anerkannt werden - für dieselben Verbrechen. Dabei handelt es sich um den Angriff auf Polen und die Entfesselung des Krieges gegen Finnland (wofür die UdSSR aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde), die Besetzung der baltischen Staaten und das Verbrechen von Katyn - die Hinrichtung von fast zweiundzwanzigtausend polnischen Bürgern auf Befehl Stalins, die in Lagern und Gefängnissen festgehalten wurden, darunter mehr als vierzehntausend Kriegsgefangene. All diese Verbrechen wurden bereits während des Zweiten Weltkriegs begangen.
Das Fehlen klarer Bewertungen der Internationalen Gemeinschaft in diesen Fragen hat bisher zur Wiederbelebung des archaischen Grundsatzes: „Der Sieger wird nicht verurteilt“ beigetragen, insbesondere in Ländern mit autoritären und diktatorischen Regimen. Es ist offensichtlich, dass dies eine Bedrohung und eine Herausforderung für die gesamte Menschheit darstellt. Wir können nur hoffen, dass die Internationale Gemeinschaft endlich einen Mechanismus findet, um die Fragen zu lösen, die aus historischen Gründen außerhalb des Rahmens des Nürnberger Tribunals geblieben sind.
29. August 2024
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker