Stimmen gegen den Krieg - Anti-Kriegsproteste im August 2023

Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 15. bis 21. August 2023

Aktivisten gegen den Krieg und Einzelkundgebungen zur Unterstützung von Anti-Kriegsaktivisten:

In Moskau auf dem Roten Platz wurde am 20. August am Marschall-Zhukov-Denkmal in der Nähe des Kreml der Aktivist Anton Malychin festgenommen, der dort mit dem Plakat „Nein zum Krieg“ gestanden hatte. Der Mann wurde auf die Polizeiwache „Kitaj-Gorod“ gebracht.

In St. Petersburg hielten drei Personen eine Einzelkundgebung ab zur Unterstützung der Anti-Kriegsaktivistin Olga Smirnova, deren Verfahren gerade vor Gericht untersucht wird. Sie wird beschuldigt, „Falschmeldungen“ über die Armee verbreitet zu haben, das Urteil soll am 30. August gefällt werden. Tatjana Sitschkarev, Kollegin der Angeklagten in der Anti-Kriegsorganisation „Friedlicher Widerstand“, stellte sich mit einem Plakat auf den Platz des Senats. Nach ihr kam die Aktivistin Jekaterina Strimakova ebenfalls mit einem Plakat an dieselbe Stelle, an einem anderen Ort in der Stadt ging der Aktivist Vitalij Ioffe auf die Straße. Alle drei wurden festgenommen, sie werden beschuldigt, eine öffentliche Massenveranstaltung abgehalten zu haben. Zwei Nächte verbrachten sie auf der Polizeiwache, weiterhin droht ihnen eine Ordnungshaftstrafe von bis zu 10 Tagen.

Vitalij Ioffe mit dem Plakat „Sie ist nur gegen den Krieg. Freiheit für Olga Smirnova“

Ein Einwohner der Stadt Kirov hat ein Rekrutierungszelt angezündet. Am 17. August gegen elf Uhr abends ging der Mann zu dem Rekrutierungszelt , zog ein T-Shirt über den Kopf und steckte das Zelt in Brand. Danach ging er weg und begann, das brennende Zelt mit dem Handy zu filmen. Passanten riefen die Polizei, der Brandstifter wurde festgenommen.

In Novosibirsk hat Raschida Zamanova eine Einzelkundgebung zur Unterstützung der RusNews-Journalistin Marija Ponomarenko abgehalten. Ponomarenko war in einem Verfahren zu „Falschmeldungen“ über die russische Armee zu 6 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Der Prozess war nach einem Post über den Beschuss des Drama-Theaters in Mariupol eröffnet worden.

In der Siedlung Siverskij im Gebiet Leningrad ist der Aktivist Aleksandr Pravdin mit dem Plakat „Freunde! Sagt nicht die Wahrheit! Der wahre Weg zum \'Ausländischen Agenten\'“ auf die Straße gegangen.

Im Gebiet Amur wurden Transparente zum Krieg in der Ukraine zerschnitten. Die Leitung des Parks, an dessen Eingang ein Transparent hing, wandte sich an die Polizei und versprach für Informationen über diejenigen, die das Banner beschädigt haben, 25.000 Rubel [ca. 253,- Euro] zu bezahlen. Die Polizei hatte bereits zuvor wegen Beschädigung von Kriegs-Transparenten häufig Verfahren eingeleitet. So hatte beispielsweise eine Einwohnerin von Jaroslavl ein Schild mit dem Buchstaben Z mit Farbe begossen. Ihr wurde Vandalismus aus politischem Hass heraus zur Last gelegt.

Das Online-Medium Verstka hat Material veröffentlicht, in dem es mit Anti-Kriegsaktivisten im Rentenalter in Russland spricht. Menschen in diesem Alter gelten als am anfälligsten für Propaganda, allerdings wurden seit dem 24. Februar 2022 mehr als 200 russische Bürger im Renten- oder Vorrentenalter für Anti-Kriegsaktionen oder Aussagen gegen den Krieg verurteilt. Mindestens 46 russische Bürger über 60 Jahren waren in Strafprozesse verwickelt, die in Zusammenhang mit ihrer Anti-Kriegshaltung standen, nochmals mindestens 165 Personen im Alter von 60 bis 84 Jahren wurden bei Anti-Kriegsaktionen festgenommen.

Die Stadt spricht

In Moskau ist ein neues pazifistisches Werk des Straßenkünstlers BFMTH aufgetaucht mit dem Titel „Die Gedanken eines Kindes bei Beschuss“. BFMTH ist ein Straßenkünstler aus Jekaterinburg, der sich selbst als oppositioneller Künstler aus dem Ural bezeichnet und seinen wahren Namen nicht preisgibt.

Aufschrift auf dem Plakat: [in etwa] „Scheiß Wichser sind eure Erwachsenen“

In Nizhnij Novgorod haben Unbekannte direkt gegenüber vom FSB-Gebäude in der Kasaner-Chaussee die ukrainische Flagge aufgehängt. Bewohner berichteten, am 17. August habe ein schwarzes Paket an Drähten gehangen, sich dann aber gelöst und darunter sei die Flagge der Ukraine zum Vorschein gekommen.

Flugblätter und Anti-Kriegsaufkleber in verschiedenen russischen Städten:

ZLO [das Böse, geschrieben mit dem Propaganda-Z anstelle des korrekten Buchstabens S]; Zitat Orwells „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke“.

Aufschriften in der Siedlung Zaozerje (Nördliches Russland, Karelien):
Nein zum Krieg. Frieden. NEIN ZUM KRIEG. Wir sind durch Zaozerje gekommen. [in etwa:] Fick den Krieg.

Frieden für die Welt. Kaliningrad. Westliches Russland

Russische Bürger gegen den Krieg

Nein zum Krieg


Putin ist ein Mörder. 29.217 tote russische Soldaten sind laut Quellen mit Stand 4. August bestätigt. Die tatsächlichen Verluste sind viel höher, nach Berechnungen von Mediazona sind bis Ende Mai 2023 etwa 47.000 unserer Mitbürger im Krieg umgekommen.

Frieden für die Ukraine, Freiheit für Russland, stoppt den Wahnsinn. Macht Liebe und keinen Krieg.

Tod dem Krieg und nicht den Menschen

Das Internet-Medium „Sibir.Realii“ hat Anti-Kriegssticker in Chabarovsk veröffentlicht. Das Flugblatt wurde neben einen Aufruf, an den Wahlen 2023 teilzunehmen, geklebt. Nach Angaben von „Sibir.Realii“ wurde das Foto in Chabarovsk gemacht.

Unterdrückung und Verfolgung

Igor Paskar, der zu 8,5 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er einen Molotow-Cocktail auf ein FSB-Gebäude geworfen und ein Propaganda-Banner in Brand gesetzt hatte, wurde in seiner Zelle verprügelt. Man hatte ihn absichtlich in eine Zelle mit Kriegsteilnehmern und Pro-Kriegsaktivisten gesteckt. Daraufhin erwirkte Paskar die Verlegung in eine andere Zelle.

Zu vier Jahren Lagerhaft wurde der Moskauer Filipp Medvedev verurteilt, weil er im April 2022 in einer Sprachnachricht bei Telegram dazu aufgerufen hatte, das Hauptquartier des FSB am Lubjanka-Platz in Moskau anzugreifen. Zeuge war ein Abonnent des Telegram-Kanals, der die Mitteilung als tatsächlichen Aufruf zu einem Luftangriff auf den FSB verstanden hatte. Der Angeklagte selbst nannte die Nachricht eine Dummheit, aber das Gericht milderte die Strafe nicht ab. Zuvor war Medvedev bereits zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen worden, weil er den Reifen eines Autos mit dem Buchstaben Z zerstochen und versucht hatte, sich ins Ausland abzusetzen.

Der Sohn einer Anti-Kriegsaktivistin wurde im Kinderheim verprügelt. Der 16-jährige Vladimir Alalykin war in ein Kinderheim gebracht worden, während sich seine Stiefmutter Natalja Filonova wegen pazifistischer Demonstrationen in Untersuchungshaft befand. Sie wird beschuldigt, Gewalt gegen einen Polizisten angewandt zu haben. Der Sohn der Aktivistin wurde nach den Worten des Anwalts geschlagen, um Antworten zu provozieren und ihn in eine Strafkolonie für Minderjährige einzuweisen.

Auf der Krim hat eine Dozentin einen Priester bei der Polizei angezeigt und ihn beschuldigt, die Ukraine zu unterstützen. Die 72-jährige Dozentin beschuldigte den Vorsteher einer Kirche in Balaklava, „falsche Predigten“ zu halten und die Gemeindemitglieder überzeugen zu wollen, die Ukraine zu unterstützen. Die Polizei nahm Ermittlungen auf.

In Tatarstan ist gegen den 52-jährigen Unternehmer Ruslan Bajazitov ein Strafverfahren wegen „Aufstachelung zum Hass“ eröffnet worden, weil dieser erklärt hatte, er wolle, dass „Russland die Militärische Spezialoperation“ verliere. Ihm drohen bis zu acht Jahre Freiheitsentzug. Die Direktorin der „Liga für sicheres Internet“ Jekaterina Misulina war auf ihn aufmerksam geworden. Nach ihrem Appell an die Polizei war der Mann bereits zu 30.000 Rubel [ca. 304,- Euro] Geldstrafe verurteilt worden, dann wurde Bajazitov noch für zwei Wochen inhaftiert.

Das Bezirksgericht Tver in Moskau hat die Transgender-Beauty-Bloggerin Milana Petrova zu einer Geldstrafe von 200.000 Rubeln [ca. 2030,- Euro] wegen „LGBT-Propaganda“ und zu weiteren
50.000 Rubeln [ca. 507,- Euro] wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ verurteilt. Das Protokoll gegen sie war wegen Posts bei Telegram aufgenommen worden, die laut Anklage eine Verurteilung der „Militärischen Spezialoperation“ enthielten.

Das Gericht hat den Redakteur des unabhängigen Mediums „Protokoll. Samara“, Sergej Podsytnik in Abwesenheit verhaftet. Gegen ihn war ein Strafverfahren wegen Verbreitung von „Falschmeldungen“ über die russische Armee eingeleitet worden, das Medium hatte eine Untersuchung über den Angriff der ukrainischen Streitkräfte auf Makiivka in der Neujahrsnacht veröffentlicht. Zuvor war Podsytnik zur Fahndung ausgeschrieben worden. Der Aktivist befindet sich derzeit außerhalb Russlands.

Gegen einen Videofilmer aus der Region Krasnojarsk wurde wegen „wiederholter Diskreditierung“ der russischen Streitkräfte ein Verfahren eingeleitet, weil er Kommentare bei VKontakte gepostet hatte. Der 52-jährige Andrej Anikev spricht sich gegen die „Spezialoperation“ aus und schreibt bei VKontakte darüber. Zuvor war bei ihm eine Durchsuchung durchgeführt worden, sein Telefon, sein Notebook und Pass wurden beschlagnahmt und man zwang ihn, ein Entschuldigungsvideo aufzunehmen. Sofort nach seiner Festnahme jedoch schrieb Anikev in den Sozialen Netzwerken, dass die Person, die ihn festgenommen hatte, Nazi-Symbole auf der Uniform getragen hatte und nannte die Polizeimitarbeiter „Träger der Eroberungsideologie des russischen Nazismus“. Nun wurde ein Strafprozess gegen ihn eingeleitet, ihm drohen bis zu drei Jahren Lagerhaft, er darf seinen Wohnort nicht verlassen.

Rozkomnadzor [oberste russische Medienaufsichtsbehörde] ist bereit, einen Gesetzentwurf zu prüfen über das Verbot, Fotos und Videos von Orten, die beschossen wurden, in den Massenmedien und im Internet zu verbreiten. Das Gesetz hat eine Gruppe von Senatoren vorbereitet, es sieht ein Verbot der Verbreitung von Filmmaterial vor, und zwar über: den Aufmarsch und die Stationierung der russischen Streitkräfte, die Infrastruktur, Beschuss-Orte sowie Granattreffer auf russischem Territorium und den Einsatz von Waffen. Das Gesetz sieht für die Verbreitung dieser Informationen Geldstrafen in Höhe von 50.000 bis 500.000 Rubel [ca. 507,- bis 5.077 Euro] oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bei wiederholtem Verstoß vor.

Die neun- und zehnjährigen Kinder einer Bewohnerin von Archangelsk im Norden Russlands wurden von FSB-Mitarbeitern verhört. Gegen die Mutter der Kinder Lidija Prudovskij war ein Verfahren wegen Anti-Kriegsposts eingeleitet worden. Die Schüler wurden in Abwesenheit der Mutter verhört, diese ist alleinerziehend und hat Angst, dass die Vormundschaftsbehörden ihr den Adoptivsohn wegnehmen. Angeklagt wurde sie wegen elf Posts gegen den Krieg, einschließlich eines Beitrags der Sängerin Zemfira mit einem Zitat, in dem diese von ihrer Liebe zu Russland spricht, aber den Krieg kritisiert.

Die Direktorin einer Schule in Perm kündigte, nachdem sie wegen ihrer Weigerung die „Gespräche über Wichtiges“ unter Teilnahme von Soldaten durchzuführen, kritisiert worden war. Im März 2023 waren FSB-Mitarbeiter in die Schule gekommen, der Deutschlehrer wurde nach ihrem Besuch nach Deutschland abgeschoben, in den Propaganda-Kanälen von Perm begann eine Hetzjagd gegen die Schule, das internationale Programm der Schule, das 25 Jahre lang existierte, wurde eingestellt.

Der Feministische Anti-Kriegswiderstand hat eine „Anti-Lektion zur Militarisierung der Gesellschaft“ entwickelt. Darin sind ein Stundenlehrplan enthalten, Aufgaben und Methodik, die „Anti-Lektion“ kann an jedes beliebige Thema und Publikum angepasst werden. Es kann als Anlass für offene Gespräche in der Familie oder mit Nahestehenden dienen.

Die Twitch-Streamerin [Twitch ist ein Live-Streaming-Videoportal] YokoBovich (richtiger Name Anna Bazhutova) ist gemäß dem Paragraphen zu „Falschmeldungen“ verhaftet worden. Im Juni 2023 hatte Anna in einem Stream von Kriegsverbrechen in Butscha berichtet und den Satz „Tod den russischen Okkupanten“ ausgesprochen. Danach wurde in den Propaganda-Kanälen eine Hetzjagd gegen die Streamerin eröffnet und man kündigte an, sie bei der Polizei anzuzeigen. Bei ihr wurde eine Hausdurchsuchung durchgeführt, bei der die Sicherheitskräfte sämtliche technischen Geräte aus ihrer Wohnung mitnahmen, die junge Frau dann zum Gericht brachten, wo sie für zwei Monate in Haft genommen wurde.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

9. November 2023

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