Stimmen des Krieges: Allein mit einer Waffe gegen Invasoren

Andrij Didenko

Ich bin Olena Leonydivna Kratkovska. Mein Vater ist Leonid Anatolijovytsch Chyschtschenko. Er wurde im Dorf Jahidne im Gebiet Tschernihiv erschossen.

Am 3. März 2022 als die Soldaten kamen – Tuwiner, Burjaten und Russen - ging mein Vater mit einem Gewehr los, um sein Haus zu verteidigen. Er kam nicht mehr nach Hause zurück. Am 4. März sprang meine Großmutter aus ihrem brennenden Haus, in das ein Geschoss eingeschlagen war. Dann trieben die Russen, die ins Dorf Jahidne gekommen waren, alle in ein Gebäude. In den Keller der Schule. Dort gab es nichts, was man zum Leben benötigt.

Waren Sie Zeugin von Folter, grausamer Behandlung und Schikanen von Menschen?

Zeugin war ich nicht, weil ich mich außerhalb der Ukraine aufhielt. Ich schaffte es nicht mehr,dorthin. Ich war Zeugin der Tatsache, dass das Haus abgebrannt ist. Es ist nichts mehr da. Alles, was im Haus und auf dem Gelände war, haben die Russen, die Tuwiner und die Burjaten gestohlen. Meinem Vater haben sie das Leben genommen.


Foto: Andrij Didenko

Erzählen Sie bitte von Ihrem Vater.

Mein Vater war ein anständiger Mensch. Vor 15 Jahren hat er die Waffe niedergelegt. Er war Polizist (Kriminalbeamter). Dann ging er in Pension und arbeitete in Tschernihiv als Leiter der Sicherheitsabteilung im Geschäft „Eldorado.“ Danach fügte es sich, dass er in Jahidne blieb und dort lebte, weil die Großmutter fast nicht mehr laufen konnte.

Wie fanden die Russen Ihren Vater?

Sie fanden ihn gar nicht, er ging selbst los, um sein Dorf und sein Haus zu beschützen.

Erzählen Sie bitte, wie ist er umgekommen?

Er hatte fünf Schüsse in der Brust. Durchschüsse. Als die Freiwilligen meinen Vater begruben, sagten sie, dass er wahrscheinlich auf dem Rückzug war. Denn alle Schüsse gingen in die Brust.

Heißt das, er ist alleine gegen die Meute von Eindringlinge losgezogen?

Ja, er zog allein los.

Gegen wen?

Er ging ins Haus und sagte der Großmutter: „Schau mal, da brennt es schon im Gemüsegarten.“ Da war ein Transportpanzer oder so etwas. Sie kamen von der dritten Straße rein. Und von der vierten Straße neben der Schule, durch das Dorf Solotynka, das in der Nähe liegt. Man kann durch den Wald bis nach Jahidne laufen. Soweit ich weiß dachten sie, dass in Jahidne ein Militärstützpunkt ist. Bei ihnen auf der Karte war das Dorf als ein Stützpunkt eingezeichnet. Aber es gab nie einen Stützpunkt. Es wurde Landwirtschaft betrieben. Als ich ein kleines Mädchen war, bauten sie Äpfel an. Das war kein Dorf, sondern ein Vorort, in dem Menschen wohnten. Ihnen fehlte nichts, sie arbeiteten in der Stadt und im Dorf.

Ihr Vater starb heldenhaft bei der Verteidigung unseres Landes. Wissen Sie vielleicht, wie das passiert ist?

Ja, ich denke, dass er als Held gestorben ist. Denn er hat sich nicht im Keller versteckt. Er nahm allein seine Waffe und ging los. Die Waffe, mit der er auf die Jagd ging. Er zog los gegen Panzer und Maschinengewehre. Deshalb ist der natürlich ein Held. Aber warum er losging, verstehe ich bis heute nicht. Sie erschossen ihn am siebten Kriegstag. Und davor hatte er sieben Tage lang nur das eine gesagt: „Ich bitte euch, bleibt zusammen.“ Dass ich mit meiner Mama, meiner Schwester und ihrem kleinen Sohn, meinem Neffen zusammenbleiben sollte.

Ich war damals aber in Frankreich war und meine Angehörigen in Tschernihiv. Und wir trafen uns am 2. März in Polen. Ich war nach Polen geflogen, und mein Vater hat ständig gesagt: „Du musst die Familie mitnehmen, du musst sie mitnehmen.“ Ich habe das Gefühl, dass er da schon zu irgendetwas bereit war. Wenn wir telefonierten, kamen irgendwelche Anrufe, die uns permanent unterbrachen. Vielleicht hatte er sich mit jemandem abgesprochen, vielleicht auch nicht.

Er sagte: „Wenn die \'Russische Welt\' hierher kommt, wenn sie in die Häuser eindringen, dann werde ich das bei mir nicht zulassen. Ich werde schießen und wenigstens einen auch töten.“ Und so kam es auch. Einen tötete er, einen Zweiten verletzte er wohl. Und der Dritte tötete meinen Vater, soweit ich weiß. Meine Großmutter sagte, sie habe irgendwo gehört, sie seien zu dritt gewesen.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

Ein Video-Interview mit Olena Kratkovska finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

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