Interview mit Tatjana Kasatkina, der Ehefrau von Oleg Orlov
Der 71-jährige Oleg Orlov, Menschenrechtsaktivist und ehemaliger Co-Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, veröffentlichte im November 2022 den Aufsatz: „Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen“, in dem er erörtert, wie es zu dem Krieg Russlands in der Ukraine kommen konnte. Im Oktober 2023 verhängte das Gericht eine Geldstrafe gegen ihn wegen wiederholter „Diskreditierung der Streitkräfte“, später jedoch wurde das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Gericht zurückverwiesen. Im Februar 2023 wurde das ursprüngliche Urteil in eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren im allgemeinen Regime umgewandelt.
Das Medium „Bereg“, ein Zusammenschluss unabhängiger Journalisten, hat mit der Ehefrau Orlovs, Tatjana Kasatkina, darüber gesprochen, was ihnen bei ihrer Arbeit und in ihrem Leben geholfen hat, nicht von ihren Überzeugungen abzurücken und was ihnen jetzt hilft.
„Wir hatten nur eine Stunde. Und wir merkten nicht, wie sie verflog.“
Sie waren vor kurzem bei Oleg Orlov in Untersuchungsgefängnis. Mit welchen Gedanken sind Sie nach Syzran gefahren?
Um ehrlich zu sein, ich hatte große Angst. Angst ihn zu sehen. Obwohl ich ihn zuvor zweimal über Videoschaltung bei der Verhandlung gesehen hatte, von Angesicht zu Angesicht hatten wir uns seit der Urteilsverkündung am 27. Februar nicht mehr gesehen. Ich war auf das Schlimmste vorbereitet, aber ich sah ganz den alten Oleg. Mir schien sogar, dass er gut aussieht. Allerdings ist schwer zu sagen, wie gut, weil [in dem Besuchsgebäude] so viel Glas und so viel Abstand zwischen uns war, dass man sich natürlich täuschen kann. Aber in der Art wie er gesprochen hat, lag absolut keinerlei Nervosität.
Wir haben uns sachlich unterhalten. Das Einzige, womit er, glaube ich, gerechnet hatte, war mehr Zeit, aber wir hatten insgesamt nur eine Stunde. Und wir bemerkten nicht, wie sieverflog.Wir konnten einander vieles nicht sagen, deshalb fuhr ich nach Hause und schrieb ihm dort das, was ich nicht sagen konnte.
Worüber haben Sie gesprochen?
Er fragte: „Wie geht es dir?“ und „Warum wirst du an verschiedene Orte eingeladen und gehst nicht hin?“ Und ich habe geantwortet: „Weißt du, ich habe keine Zeit. Ich habe weniger Zeit als früher, als du frei warst.“ Wir haben über die Datscha gesprochen, die wir beide sehr geliebt haben, jetzt weiß ich nicht, ob wir sie wieder lieb gewinnen werden oder nicht.
Er zeigte mir einen riesigen Berg Briefe, der sich bei ihm angesammelt hat. Er sagte: „Ich weiß gar nicht, wie ich die alle ins Lager mitnehmen soll.“ Wann er dorthin fahren wird, ist unklar. Am 11. Juli wird das Berufungsgericht seine Entscheidung treffen, und dann wird das Untersuchungsgefängnis bestimmen, wo er seine Strafe sozusagen absitzen wird. Er bereitet sich auf den 11. [Juli] vor und ich spüre, dass er etwas nervös ist. Was ihn nervös macht, ist in erster Linie die Ungewissheit.
Ich habe versucht, ihn von allen zu grüßen, die darum gebeten haben. Viele schreiben ihm, schicken sehr schöne Briefe. Aber er schafft es nicht, auf alle zu antworten. Er sagt: „Schreib bitte, wenn du in Moskau bist, dass ich gerne allen antworten würde, es aber einfach nicht schaffe.“ Ich habe ihn gefragt: „Soll ich dann vielleicht schreiben, damit die Anzahl der Briefe weniger wird?“ Aber er sagt: „Wenn ich Briefe bekomme, unterstützen die mich so sehr, das ist so angenehm.“
Ich glaube, dass niemand in dieser Haftanstalt so viele Briefe bekommt. Ich habe unsere Korrespondenz durchgesehen. Obwohl ich denke, dass sie ziemlich selten ist???, gibt es da mehr als vierzig Briefe. Ich schreibe ihm einen Brief, wenn er ihn erhält, dann schreibt er mir sofort eine Antwort. Ich bekomme von ihm einen Brief, und schicke ihm schon am selben Tag oder am übernächsten einen neuen. So läuft unsere Korrespondenz ab.
Oleg Orlov und Tatjana Kasatkina, Dezember 2023. Darja Kryl / Memorial
Oleg Orlov und Tatjana Kasatkina nach dem Berufungsverfahren vor dem Moskauer Stadtgericht, welches das Verfahren zur erneuten Verhandlung zurückerhielt. Orlov hat eine Tasche in der Hand, weil er glaubte, dass schon in dieser Verhandlung seine Geldstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt werden würde. 14. Dezember 2023. Darja Kryl / Memorial
Kam es überraschend für Sie, dass Oleg Petrovitsch vor dem Berufungsverfahren aus Moskau weg in das Untersuchungsgefängnis in Syzran verlegt wurde?
Er hätte im Moskauer Untersuchungsgefängnis-5 sitzen, sich auf das Berufungsverfahren vorbereiten und sich mit seinem Anwalt konsultieren sollen – diese Möglichkeit hat man ihm genommen. Und ich denke, das war einfach eine kleinliche, gemeine Schikane. Stellen Sie sich vor, um 12:40 Uhr bekomme ich die Erlaubnis für zwei Besuche im Untersuchungsgefängnis-5. Und am selben Abend verlegt man ihn nach Samara. Das ist der blanke Hohn. Und gut, dass er seinem Anwalt mitteilen konnte, dass er in Samara ist. Sonst hätten wir ihn lange suchen können. Wo ist er? Wohin ist er hin verschwunden?
Sie brachten ihn nach Samara in eine überfüllte Zelle. Aber dort war er nur kurz, zwei Tage. Dann sagte er: „Ich werde weitergebracht.“ Wohin? Wir sahen nach, er hätte entweder nach Toljatti oder nach Syzran geschickt werden können. Und sie schickten ihn nach Syzran.
Unterscheidet sich das, was Oleg über die Bedingungen erzählt, von dem, was Sie von bekannten Dissidenten gehört haben, die durch die Lager gegangen sind?
Noch geht es ja um Untersuchungshaft. Ich kann sagen, dass er im Untersuchungsgefängnis-5 sehr zufrieden war. Er hatte eine Zelle für zehn Personen, in der auch nicht mehr als zehn Personen saßen. Die Zelle war groß, hatte ein Fenster, mit normalen Menschen, die respektvoll miteinander umgingen. Vorher hatte er in einer Zelle gesessen, wo geraucht wurde. Er sagte: „Ich ersticke schon an diesem Qualm hier.“ Als er sich im Untersuchungsgefängnis-5 an einen Arzt wandte, hat der Arzt Medikamente verschrieben und aufgeschrieben, welche man ihm bringen sollte. Sie erlaubten ihm dort zwei Anrufe.
Aus Syzran hat er mich einmal angerufen. Obwohl er schon sieben Anrufe angesammelt hat, ruft er nicht mehr an, er sagt, es gibt eine Schlange. Er sitzt in einer speziellen Zelle und ich bin am Anfang sehr erschrocken. Politische Häftlinge setzt man in spezielle Zellen, wo man sie beobachtet [Mitarbeiter über Videokamera]. Aber es stellte sich heraus, dass Oleg mit seinen Zellennachbarn mehr oder weniger Glück hatte. Er ist von Haus aus kein streitsüchtiger Mensch.
Zu seinem ersten Zellennachbarn bekam er zunächst keinen Kontakt. Aber dann stellte sich heraus, dass beide ein tiefes gemeinsames Interesse haben – das Angeln. Ich schrieb ihm einen Brief, erzählte, dass ich geträumt hätte, wie wir mit Julka Sereda [Mitglied des Vorstands von Memorial Rjazan] zusammen in einem Kajak saßen. Julka hatte einen Hecht gefangen und ich zog ihn mit einem Kescher heraus. Er lachte laut auf, als er das las, und erzählte den Traum seinem Zellennachbarn. Und der sagte: „Oh, du angelst! Ich auch!“
Gefängnis ist Gefängnis. Das Einzige, worüber er sich bei meinem Besuch beschwert hat, war, dass ihm die Sonne fehlt. In dem kleinen Hof, in dem er spazieren kann, gibt es keine Sonne. Er sagt: „Weißt du, ich habe seit langer Zeit das erste Mal die Sonne wieder gesehen, als ich zu dem Treffen mit dir gegangen bin.“
„Ich hatte großes Glück. Ich habe gesehen, wie Menschen ihre Angst überwunden haben.“
Sie haben Oleg Orlov bei der Arbeit am Institut für Pflanzenphysiologie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR kennengelernt. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?
Ich erinnere mich gar nicht mehr. Es war die Arbeit. Ich habe das Protein Ribulosdiphosphat isoliert. Das klingt alles sehr kompliziert, aber das ist ein Schlüsselenzym der Photosynthese. Und ich brauchte Antikörper, um Kaninchen zu immunisieren. Da sagte jemand zu mir: „Endlich haben wir jemanden, der das Vivarium leitet.“ Ich ging hin und sagte [zu ihm]: „Hilfst du mir?“ So begannen wir zusammen zu arbeiten. Und dann erfuhr ich, dass wir ein und dieselben Bücher lasen, die uns ein gemeinsamer Bekannter im Institut besorgte. Wir sind Seelenverwandte.
Welche Bücher haben Oleg und Sie geprägt?
Oleg ist schon in seiner Schulzeit für Memorial geprägt worden, er war schon bereit dafür. Ich war überhaupt nicht bereit. Ich habe eine normale sowjetische Familie. Mein Vater war Soldat, Militär-Ingenieur. Er hatte seine eigenen Ansichten. Ich habe mich dann später an die Erzählungen meines Vaters und seiner Freunde darüber erinnert, wie mein Papa verhaftet wurde, es gab eine Voruntersuchung. Niemand hat gegen ihn ausgesagt.
In welchem Jahr war das?
Das war vor dem Krieg. Einmal brachte Papa mich nach Petersburg, wir liefen durch Kronstadt und er zeigte mir einen halb-unterirdischen Raum: „Hier habe ich gesessen.“ Ich fragte: „Warum hast du gesessen?“ Ich ging noch in die Schule.
Einige seiner Freunde waren betroffen. Viele haben überlebt, den Krieg durchgemacht. Nach dem Krieg haben sie sich alle miteinander getroffen, haben ihre Probleme diskutiert. Leider habe ich das überhaupt nicht wahrgenommen. Ich habe einfach vieles nicht gewusst.
Das Institut hat mich geprägt, wo man mir Bücher gab. „Archipel Gulag“, „Krebsstation“ und andere. Katyn hat mich erschüttert, das war etwas komplett Grauenvolles. Alles das hat man, wie es so schön heißt, im Untergrund gelesen.
Oleg Orlov als Teilnehmer einer Versammlung von Memorial Moskau. 1990er Jahre
Wissen Sie, warum Sie nicht die Augen verschlossen haben, so wie es manchmal als Reaktion auf Erzählungen über Repressionen geschieht? Warum haben Sie sich nicht geweigert, den Samisdat zu lesen, der am Institut im Umlauf war? Warum haben Sie ein Weltbild angenommen, das sich völlig von dem unterschied, was die sowjetischen Machthaber und die Medien sagten?
Schwer zu sagen. Aber mir scheint, dass ich hochwertige Literatur gelesen habe, die ich mir nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Schon vorher hatte ich Sachen gelesen, die mich erschüttert haben (ich erinnere mich jetzt nicht mehr daran). Ich habe mir das sehr zu Herzen genommen. Ich erinnere mich, dass ich nachts unter der Decke gelesen habe. Und Papa, er lebte da noch, sagte zu mir: „Brauchst du denn keine Taschenlampe?“
Wusste er, was Sie gelesen haben?
Papa wusste von dieser Literatur, aber er hat sie mir nie zu lesen gegeben. Vielleicht hatte er diese Bücher nicht, aber vielleicht hat er sie auch heimlich gelesen, ich weiß es nicht. Im Institut habe ich schon eine Menge gelesen. Wissen Sie, jeder Mensch nimmt das auf seine eigene Weise auf. Ich habe es so aufgenommen, dass ich zu Memorial gegangen bin. Und für mich war das natürlich.
Wie sind Sie zu Memorial gekommen?
Das war 1988. Oleg kommt im Institut plötzlich auf mich zu und sagt: „Ich war da auf so einer Versammlung! Da musst du hin.“ Es vergingen so zwei oder drei Wochen, nachdem er zu Memorial gegangen war (ein Freund hatte ihn mit hingenommen) und er nahm mich mit. Ich sah völlig andere Menschen, es gab andere Gespräche, es war interessant. Ich kann das mit nichts vergleichen.
Und dann begannen wir, Unterschriften zu sammeln für ein Denkmal zum Gedenken an die Opfer des Terrors. Die Menschen kamen auf uns zu und wir erklärten ihnen, dass es eine solche Zeit gegeben hat und wir eine Gesellschaft zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen schaffen wollen. Die Leute schauten und ich sah an ihren Augen, dass sie davon wussten, aber Angst hatten zu sprechen. Das Land war eingeschüchtert.
Später gab man uns ein kleines Zimmerchen, in dem ein Tisch und zwei oder drei Stühle standen. Dorthin kamen die Menschen, [die Repressionen erlebt hatten und ihre Angehörigen], erkundigten sich vorsichtig und sagten: „Ja, ich habe Dokumente, Briefe, aber ich weiß nicht, soll ich Ihnen die geben oder nicht?“ Sie vertrauten uns noch nicht. Das war für mich damals ein bisschen seltsam. Aber sehr schnell kam das Verständnis dafür, dass sie diese Jahre doch durchlebt hatten, diese Ängste durchlebt hatten. Und sie hatten Angst, sich gleich von diesem Joch zu befreien, uns ihre Dokumente und ihre Geschichte anzuvertrauen.
Es war eine interessante Zeit. Ich denke, dass ich sehr großes Glück hatte, ich sah, wie Menschen ihre Angst überwanden und erkannten, was geschehen war, und mit uns zusammen für die Zukunft Russlands arbeiteten.
Oleg Orlov Ende der 1980er Jahre. Archiv Tatjana Kasatkina
Ich weiß, dass alles, was über den Terror der Sowjetzeit ans Licht kam, für einige eine echte Erschütterung war. War es für Sie ein Zusammenbruch der Welt, die Sie umgab?
Nein. Das kritische Denken funktionierte bei mir. Ich akzeptierte, ja, es hat eine solche Phase gegeben. Und ich hoffte, dass sie sich nicht wiederholen würde. Leider wiederholt sie sich.
Was sind die Gemeinsamkeiten und was die Unterschiede zwischen damals und heute?
Die Zeit jetzt ist viel grausamer. Erstens hat man bei uns die talentierten jungen Menschen aus dem Land verdrängt. Unsere Zukunft und die des Landes. Sie haben versucht, für das Land zu leben, aber man hat ihnen kein Recht auf eine Stimme gegeben, man hat ihnen überhaupt keine Rechte gegeben - und sie sind weggegangen. Und das tut mir sehr, sehr weh. Diese jungen Menschen waren vielleicht auf den heutigen Tag nicht vorbereitet, sie dachten, dass sie auf Demonstrationen gehen müssten, ihre Meinung zum Ausdruck bringen müssten, aber sie landeten hinter Gittern. Gebe Gott, dass sie nicht zerbrechen, denn sie bekommen doch lange Haftstrafen. Mir macht das große Angst. Und es tut mir weh für Russland.
„Ich habe Flüchtlinge gesehen, die mit schier gar nichts aus ihrer Region kamen. Ich habe den Geruch des Krieges gerochen.“
Wie war Oleg Orlov in den ersten Jahren der Arbeit bei Memorial?
Er wusste, wie man mit Menschen von Angesicht zu Angesicht spricht. Vor der ersten Memorial-Konferenz, verteilten Oleg und ein weiterer Oleg (leider ist er nicht mehr am Leben) Flugblätter. Ich stand dabei und passte auf. Wir wurden festgenommen, und ich hatte natürlich große Angst, weil ich Vorsitzende der Mandatskommission war und eine Liste aller Teilnehmer bei mir hatte. Als erstes wurde Oleg [Orlov] zum Verhör gerufen. Der andere Oleg und ich saßen im Flur und überlegten, was wir tun sollten, uns beunruhigte nicht, dass uns etwas passieren könnte, aber wir waren wegen dieser Listen besorgt und dass es zu allgemeinen Verhaftungen kommen könnte. Und plötzlich kommt ein fröhlicher Oleg heraus, sagt, dass alles in Ordnung ist und wir nach Hause fahren könnten.
Und das war nicht nur da so. Als wir aus Groznyj herausfuhren - es war schon der zweite Tschetschenien-Krieg - wurden wir am Kontrollpunkt angehalten. Soldaten nahmen Oleg in irgendein Gebäude mit. Als ich von dort Lärm hörte, wollte ich schon rausspringen, ich dachte, sie schlagen ihn. Der Fahrer drückte meine Hand: „Bleib sitzen!“ Dann kam ein zufriedener Oleg mit einem Soldaten raus und sie reichten einander die Hand.
Was er nicht konnte, war vor Publikum auftreten. Ich kannte die Ehefrau eines Akademikers und sie offenbarte mir das Geheimnis, dass dieser - Angehöriger einer Akademikerfamilie - jedes Mal seine Reden und seine Gesten einübt. Und Oleg begann auch zu proben und ich war sein Spiegel. Er hat sehr viel an sich gearbeitet.
Die Menschenrechtsarbeit, mit der Sie und auch Oleg Petrovitsch sich beschäftigen, ist mit großen Risiken verbunden. War Ihnen das bewusst, als Sie zu Memorial kamen?
Als wir das Programm „Gorjatschie Totschki“ [Brennpunkte] ins Leben gerufen haben, haben wir uns schon gedacht, dass das so sein kann. Aber in welchem Ausmaß und wie sich alles entwickeln würde, wussten wir natürlich nicht.
Alles begann 1990, als Oleg nach Nagornyj Karabach fuhr. Dann, 1992],nach Moldavien und nach Transnistrien. Er rief mich von dort an und ich hörte den Lärm von explodierenden Geschossen. Und zusammen fuhren wir das erste Mal in den Bezirk Prigorodnyj in Nordossetien, als dort Krieg war. Ich sah den Krieg, den ich bis dahin nur im Fernseher und im Kino gesehen hatte. Ich sah Flüchtlinge, die mit schier nichts aus der Region kamen, weil sie fliehen und ihre Leben retten mussten. Ich habe den Geruch des Krieges gerochen. Wir befragten die Menschen, und ich sah den Hass der Osseten auf die Inguschen. Eine Frau sagte: „Wenn meine Nachbarin zurückkehrt, werde ich ihr den Schädel einschlagen. Ich werde ein Maschinengewehr finden und ihre ganze Familie erschießen.“ Mit einer solchen Bosheit. Dann sah ich, wie die Spannungen langsam nachließen, wie die Bosheit verschwand. Dafür haben wir natürlich eine Menge getan.
Während des Ersten Tschetschenien-Krieges fuhr ich nicht nach Tschetschenien, ich musste eine Finanzierung für die „Gruppe Kovalev“ finden. Aber in den Zweiten Tschetschenien-Krieg fuhren wir – und wurden plötzlich angehalten und sie sagten, dass alles hier vermint ist. Die Soldaten der technischen Truppe waren gerade angekommen, wenn wir also zehn Minuten früher losgefahren wären, wären wir auf Minen gestoßen – und das passierte nicht nur einmal. Und an Kontrollpunkten hielt man uns an, richtete Panzermündungen auf uns, wir gerieten unter Beschuss. Aber wir verstanden, dass das Leben so ist. Ich gerate manchmal unter Beschuss, aber mein Kollege, der ständig dort arbeitet, lebt die ganze Zeit damit.
Wir hatten alle ein bisschen Angst, aber irgendwie überwanden wir das. Wenn du zu einem Ort fährst, spürst du die Angst schon nicht mehr. Das ist einfach Arbeit. Wir konnten nicht einfach Abseits stehen.
Worüber haben Sie und Oleg sich für gewöhnlich zu Hause nach einem Arbeitstag in der Küche unterhalten?
Von was für einem Arbeitstag reden Sie? Als wir ein Büro bekamen, gingen wir gegen 11:00, 12:00 Uhr hin und verließen es zur gleichen Zeit [abends]. Das war ein 12-Stunden-Tag. Wir kamen dermaßen erschöpft nach Hause.
Aber so kann man doch nicht lange weitermachen.
Nein. Und ohne Urlaub geht das auch nicht. Dann stellte man uns die Bedingung, dass unser gemeinsamer Urlaub in den Memorial-Tätigkeitsbericht eingehen muss. Wir spürten damals tatsächlich eine nervliche Erschöpfung und fuhren für 30 Tage weg, gingen zu zweit wandern. Als wir im Wald waren, im Kajak oder beim Angeln wollten wir nicht reden. Ich habe nur gefragt: „Ucha [Fischsuppe]? Den Fisch braten oder dämpfen?“ Zwei, drei Worte darüber, wie man den Fisch am besten zubereitet. Wir hörten den Vögeln zu, lauschten dem Rauschen der Natur und betrachteten die Spuren der Bären. Wir haben uns einfach ausgeruht.
Wie liefen Ihre Wanderungen ab?
Das hätten Sie sehen sollen! Wir gingen immer um den 20. Juli herum bis zum 20. August in den Urlaub. Aber wir fingen schon im Juni an, uns vorzubereiten. Wie wir uns vorbereitet haben? Zuerst stellen wir die Lebensmittel zusammen, die wir mitnehmen wollen. Fleisch kommt nicht mit, wir essen nur Fisch, Pilze und Beeren und noch Brei und natürlich verschiedene Gewürze. Damit hat Oleg nichts zu tun, ich koche und muss wissen, welche Zutaten ich wo verwende. Dann nehmen wir das Kajak auseinander. Wir haben ein wunderbares Kajak, wir fahren damit die letzten sieben Jahre, vielen Dank an die Diebe, die unser vorheriges Kajak gestohlen haben (das war auch gut, aber schwerer). Bevor wir aufbrechen, muss das Kajak überprüft werden, nachgeschaut werden, ob alle Schrauben festsitzen, weil nach einer Wanderung alles Mögliche passiert sein kann. Der Kunststoff muss überprüft werden, in der Regel finden sich immer zwei, drei Löchelchen. Alle faltbaren Wassertanks müssen geprüft werden, man muss sie in eine Wanne tauchen und sehen, ob sie kleine Löcher haben. Die müssen zugeklebt werden, und wenn die Wassertanks schon zu viel geklebt wurden, muss man einen neuen kaufen. Die Matten müssen überprüft werden... Eigentlich muss alles überprüft werden.
Archiv Tatjana Kasatkina
Archiv Tatjana Kasatkina
Sind Sie für gewöhnlich in den Norden gefahren?
Ja. Das lag an mir, weil ich schreckliche Angst vor Schlangen habe. Aber das hat sich alles als Dummheit herausgestellt, denn wir haben am Polarkreis auch Schlangen entdeckt. Vipern. Wenn ich die sehe, habe ich sofort Angst. Aber sonst ist der Norden eigentlich ein praktisch unberührter Ort, wilde Natur und fast keine Menschen. Kajakfahrer gibt es dort, aber wir bewegen uns sowieso immer getrennt von denen. Und manchmal sehen wir wochenlang nicht ein einziges Kajak.
Welche Orte mögen Sie am liebsten?
Ich mag den Topozero See [in Karelien] sehr. Wir waren an der Barentssee, das hat mir auch sehr gefallen.
Wir sind bis zum Schluss auf Wanderungen gegangen [bis 2023, als das Verfahren gegen Oleg Orlov eingeleitet wurde]. Das hat uns einander sehr nahegebracht, es war eine Rückkehr zum Alten, zu unserer Jugend. Wir haben unser Alter nicht einmal bemerkt. Es ist schrecklich für mich, die Zahl auszusprechen, aber am 25. Juni werde ich 80 Jahre alt. Ich kann das selbst kaum glauben. Erstens hält mich niemand für so alt. Und zweitens mache ich Fitnesstraining und hebe [dabei] ziemliche Gewichte. [Viele] Frauen, die jünger sind als ich, schaffen nicht, was ich schaffe. Denn ich treibe immer Sport. Ich glaube, dass es ein Alter gibt, das dem Pass entspricht und ein biologisches Alter.
Im letzten Jahr lief schon das Verfahren gegen Oleg, und wir schafften es nicht, die Wanderung vorzubereiten. Wir sind auf die Datscha gefahren und haben uns dort auch ein Camping-Leben organisiert: Am Morgen aufs Fahrrad und Pilze sammeln. Wir hatten sehr gehofft, dass wir in diesem Sommer an die Barentssee fahren könnten, wir hatten sogar schon Gesellschaft organisiert, aber dann brach alles zusammen.
Archiv Tatjana Kasatkina
„Es ist wichtig zu begreifen: Du bist jetzt allein und er ist dort.“
Sie haben gesagt, dass Sie und andere Memorialer sich ihr ganzes Leben darauf vorbereitet haben, dass einer von Ihnen inhaftiert werden könnte. Wie hat sich das auf das persönliche Leben ausgewirkt? Haben Sie und Oleg wegen Ihrer Menschenrechtsarbeit auf irgendetwas verzichtet?
Nein, wir wurden einfach automatisch vorsichtiger. Wir sorgten uns mehr um die Memorial-Büros in Tschetschenien und in Inguschetien. Was ist mit den Leuten dort? Und am meisten haben wir während des Krieges Angst gehabt, dass sie unter Beschuss hätten geraten oder verhaftet werden können, weil man glaubte, dass sie für irgendjemanden arbeiten. Wir bemühten uns, selber vorsichtig zu sein und brachten ihnen das bei. Gott hat uns bis zum Schluss verschont.
Bis zuletzt, also bis zur Einleitung des Strafverfahrens gegen Oleg Orlov: Wie wahrscheinlich schien Ihnen diese Entwicklung?
Absolut realistisch. Alle sagten uns: „Leute, ihr müsst weg.“ Bei uns sind ja fast alle weggegangen. Oleg und ich saßen zusammen, haben diskutiert und trotzdem entschieden, dass wir nicht fort müssen. Weil sonst in Russland überhaupt niemand mehr bleibt, das ist mal das Erste. Aber das Wichtigste ist: Ein Mensch, der seinen heimischen Boden verlässt, verliert gewollt oder ungewollt die Verbindung zu ihm und kann nicht mehr so objektiv sein. Wer wird mehr Gehör finden – jemand, der ausgereist ist oder jemand, der hier lebt?
Der Prozess gegen Oleg verlief sehr gut, weil man dort alles sagen konnte. Es wurden sehr interessante Meinungen geäußert und es waren sehr viele Menschen dort, die Unterstützung war sehr groß.
Wie beantworten Sie sich die Frage, worin der Sinn eines derart offensichtlichen Risikos besteht? Man hätte doch zum Beispiel keine Anti-Kriegsmahnwachen abhalten können und nicht so direkt agieren, sondern die Taktik wählen, die Orlov in den 1980-er Jahren anwandte, als er Flugblätter gegen den Krieg in Afghanistan an Mauern klebte?
Er hat sich ja nicht zu Demonstrationen gegangen, er hat nicht zu einem Aufstand oder zum bewaffneten Kampf aufgerufen. Er teilt einfach seine Überlegungen. Tatsächlich ist der Artikel, für den man ihn ins Gefängnis gesteckt hat, philosophisch. Er erfordert eine Diskussion und Nachdenken. Und viele, die den Artikel gelesen haben, nehmen ihn genauso wahr, das ist sehr wichtig.
Die, die weggegangen sind, viele kluge Köpfe, melden sich zu Wort. Aber sie sind bereits ihrer Heimat entrissen. Deshalb war es sehr wichtig zu bleiben. Natürlich verstanden wir, was uns alles droht. Aber weggehen – wir wollten nicht weg.
Bedauern Sie das in schwachen Momenten nicht?
Nein, ich denke, wir haben alles richtig gemacht. Aber selbstverständlich habe ich Angst um ihn.
Was für ein Tag war das für Sie, als man das Urteil gegen Oleg Orlov verkündete?
Wir hatten am Abend seine Sachen gepackt. Wir führten Alltagsgespräche in der Art wie: „Tanja, mach du dann diese Arbeit bitte zu Ende, und das mach fertig.“ Er wusste, dass er jetzt nicht mehr hierher zurückkommt. Ich wusste, dass er von zuhause weggeht. Aber wir haben uns aufrecht gehalten – was, wenn es ein Wunder gäbe?
Ich kann nicht sagen, dass mir sofort, als das Urteil verkündet wurde, die Beine zusammengeknickt sind und mir schlecht wurde. Nein, das war einfach so ein kaltes Gefühl. Sie führten ihn in Handschellen ab, ließen uns nicht einmal mehr voneinander Abschied nehmen. Bei mir riss plötzlich alles ab. Ich kam in einem furchtbaren Zustand nach Hause, unsere Freunde versuchten, mich irgendwohin zu bringen, aber ich lehnte ab. Ich konnte weder irgendwo hinfahren noch zuhause sein. Nichts wollte ich. Ich war in einem grässlichen Zustand der tiefsten Depression. Ich dachte, dass ich da nie mehr rauskommen würde.
Archiv Tatjana Kasatkina
Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?
Wissen Sie, ich konnte einschlafen, wenn bei mir gleichzeitig der Fernseher und das Radio liefen. Ich hatte Angst vor der Stille. Ich hatte Angst vor dem Alleinsein. Dann hatte ich eine Operation, nach der ich auch etwas depressiv war. Und ich erkrankte an etwas Unbekanntem. Zwei Wochen lag ich einfach nur, wusste nicht so recht, wo ich war und was ich war. Natürlich war sehr wichtig, dass ich nicht alleine war. Ich erlaubte niemandem zu kommen, weil ich fürchtete, jemanden anzustecken, aber ich hatte die ganze Zeit Unterstützung per Telefon und per E-Mail. Ich habe gemerkt, dass ich nicht alleine bin.
Und Oleg merkt, dass er nicht alleine ist. Man schreibt ihm so viele Briefe und er spürt die Verbindung mit den Menschen, die zu seinem Prozess gekommen sind, ihm applaudiert und ihn unterstützt haben. Wir haben es noch nicht hinter uns, noch sind wir vor Gericht. Aber wie es weiter gehen wird, weiß ich nicht. Ich habe große, sehr große Angst um seine Gesundheit, um seine Psyche weniger. Er wird das aushalten. Er ist es ja gewohnt, sich in extremen Situationen zu bewegen. Wir sind es gewohnt, auf Ausflügen zu sein. Aber trotzdem habe ich Angst um ihn. Doch wir hatten keine andere Wahl.
Wir haben gelebt, einander unterstützt, zusammengearbeitet und wir hatten die gleichen Ziele. Und plötzlich ist das alles abgerissen. Jetzt muss man auf eine neue Weise leben, sich an das Neue gewöhnen. Wir haben uns noch nicht besonders daran gewöhnt, aber man muss das Leben neu gestalten und begreifen: Du bist jetzt allein, und er ist dort.
Jetzt bin ich gerade aus dem Schwimmbad gekommen. Ich habe mich immer in allen schwierigen Lebenssituationen durch körperliche Bewegung befreit. Im Winter bin ich Ski gefahren, im Sommer viel gelaufen. Und auch jetzt versuche ich, die ganze Zeit in den Fitnessclub zu gehen und Sport zu treiben. Was mich besonders ärgert: Oleg ist nicht in den Fitnessclub gegangen, aber diesen Januar hatte ich ihn überredet, es auszuprobieren und er war begeistert. Der Club erwies sich wirklich als sehr gut, Oleg bekam einen guten Trainer. Es hat ihm gefallen, und dann stecken sie ihn ins Gefängnis.
Mir scheint, dass viele, sowohl diejenigen, die in Russland geblieben sind als auch die, die weggegangen sind, das Gefühl vereint, nicht richtig zu leben, sondern in irgendeiner Art Erwartung. Wie kann man heute nicht einfach nur existieren, sondern leben?
Wissen Sie, ich lebe auch in Erwartung. Ich lebe in der Erwartung, dass irgendetwas passieren muss. Aber wie das geschehen wird – das weiß ich nicht.. Ich hoffe, wenn Oleg rauskommt, dann gehen wir zusammen in den Fitnessclub.
Quelle:
https://bereg.io/feature/2024/06/27/ya-nadeyus-kogda-oleg-vyydet-my-s-nim-poydem-v-fitnes-klub
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
26. Juni/8. Juli 2024