Jan Raczynski auf der Konferenz der Friedensnobelpreisträger in Oslo am 31. August 2023
Sehr verehrte Damen und Herren,
ich werde über die Situation russischer zivilgesellschaftlicher Aktivisten generell sprechen, nicht nur über die von Menschenrechtlern.
Jan Raczynski © Nobel Prize Outreach AB, Production: NRK
In den letzten anderthalb Jahren wurden in Russland gegen 634 Personen aus 78 Regionen Strafverfahren eingeleitet, weil sie sich gegen den Krieg positioniert hatten. 200 von ihnen wurden der Freiheit beraubt, 181 befinden sich hinter Gittern, elf im Hausarrest, acht in Zwangsbehandlung. Ich kann sie hier nicht alle nennen.
Nach Beginn der so genannten speziellen Militäroperation wurde eilends ein Gesetz verabschiedet, das Personen mit Freiheitsstrafen belegt, die die „Militäroperation“ als etwas anderes interpretieren als den „Einsatz der russischen Streitkräfte zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger, zur Wahrung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit“. Menschen werden für Äußerungen gegen den Krieg inhaftiert. Dies gilt für den Abgeordneten des Stadtparlaments Aleksej Gorinov, der zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er auf einer Sitzung des Abgeordnetenrats über den Tod ukrainischer Kinder durch den von Russland begonnenen Krieg gesprochen hatte. Betroffen ist auch der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der es gewagt hat, Fragen zum Geschehen in Butscha zu stellen. Ein weiterer ist Igor Baryschnikov, ein einsamer Rentner aus dem Gebiet Kaliningrad, der seine 97-jährige Mutter pflegte. Im Juni dieses Jahres wurde er für seine gegen den Krieg gerichteten Publikationen in sozialen Netzen zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Mutter verstarb Anfang August, und ihm wurde verwehrt, an ihrer Beerdigung teilzunehmen.
Viele weitere sind noch nicht verurteilt, befinden sich aber aufgrund derselben Beschuldigungen in Haft, so etwa der 18-jährige Maxim Lypkan, der zum Jahrestag des russischen Einmarschs in der Ukraine eine Demonstration gegen den Krieg angemeldet hatte.
Über 19.000 Personen wurden wegen Äußerungen gegen den Krieg festgenommen und mit Geldstrafen belegt, allein schon dafür, dass sie das Wort „Krieg“ verwendet hatten.
Vor zwei Wochen wurde Grigorij Melkonjanz verhaftet, der Leiter der Organisation „Golos“, die seit vielen Jahren in Russland Wahlbeobachtungen durchführt und Verstöße bekämpft. Bei etlichen „Golos“-Aktivisten fanden Haussuchungen statt. Obwohl viele politische Gegner des derzeitigen Regimes — Vladimir Kara-Mursa, Alexej Navalnyj und andere — bereits in Haft sind, fürchten sich die Machthaber bei den bevorstehenden Wahlen immer noch vor Wahlbeobachtern.
Die Regisseurin Jevgenija Berkovitsch und die Dramaturgin Svetlana Petrijtschuk befinden sich bereits seit vier Monaten im Gefängnis, und zwar für ihr Stück, das vor einem Jahr mit einem der wichtigsten russischen Theaterpreise ausgezeichnet wurde. Plötzlich wurde in diesem Stück eine „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausfindig gemacht.
Aufgrund der absurden Beschuldigung, das „Archiv der Organisation außer Landes zu bringen“ wurde der Leiter des Permer Zentrums für historisches Gedenken, Alexander Tschernyschov, verhaftet.
Ich habe nur einige Beispiele genannt, in Wirklichkeit gibt es ihrer, wie gesagt, Hunderte.
Leider entsprechen die Möglichkeiten einer Verteidigung vor Gericht schon fast wieder dem sowjetischen Niveau. Russische Gerichte schützen schon lange nicht mehr das Recht, die Richter kommen so gut wie immer pflichtschuldigst den Wünschen des Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft nach. Das ist nicht nur ein russisches Problem, aber für Russland ist es besonders akut. Hier wäre eine internationale Konvention von Nutzen, die eine Verjährung von Justizverbrechen ausschließt. Wer diese Institution verletzt — Polizeibeamte, die unzutreffende Protokolle verfassen, Ermittler und Staatsanwälte, die falsche Beschuldigungen vorbringen, sowie natürlich die Richter, die widerrechtliche Urteile fällen — sie alle sollten wissen, dass sie eines Tages dafür zur Verantwortung gezogen werden.
Nicht nur zivile Aktivisten werden verfolgt, sondern auch gesellschaftliche Organisationen. Unter absurden Vorwänden wurden die angesehensten Menschenrechtsorganisationen in Russland aufgelöst: Die Moskauer Helsinki-Gruppe, das Sacharov-Zentrum, Agora, das Zentrum für Information und Analyse „Sova“.
Nach der Gerichtsentscheidung, die die Auflösung von Memorial International wegen der „nicht ordnungsgemäßen“ Kennzeichnung einiger Texte verfügte, wurde unter demselben lächerlichen Vorwand auch das Menschenrechtszentrum Memorial liquidiert. Aufgelöst wurde auch Memorial Perm, und Memorial Jekaterinburg wurden die Räumlichkeiten entzogen. Im März dieses Jahres fanden bei mehreren Memorial-Aktivisten in Moskau Haussuchungen statt, gegen bisher namentlich nicht genannte Mitarbeiter unserer Organisation wurde ein Strafverfahren unter der abwegigen Beschuldigung der „Rechtfertigung des Nazismus“ eingeleitet. Putins Regime kümmert sich schon lange nicht mehr um eine Plausibilität der Anklagen.
Außer der Schließung erfanden die russischen Behörden noch weitere Methoden, um Organisationen unter Druck zu setzen und ihnen ihre Arbeit zu erschweren. Eine davon ist ihre Eintragung (und inzwischen auch schon die einzelner Bürger) in das so genannte „Register ausländischer Agenten“. Das geschieht auf außergerichtlichem Wege, aufgrund einer Willkürentscheidung von Beamten des Justizministeriums. In dieses Register wurde eines der führenden russischen soziologischen Zentren — das Levada-Zentrum — aufgenommen, dann die Stiftung zum Schutz der Transparenz, etliche Memorial-Verbände, die Menschenrechtsgruppe „Bürger. Armee. Recht“, die Wehrpflichtige betreut, die bereits erwähnte Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“, die die Rechte der Wähler verteidigt, die Stiftung „Zum Schutz der Rechte Gefangener“, die „Ökowacht Sachalin“ und Dutzende andere.
Weniger verbreitet ist ein Verfahren, das in seinen Folgen erheblich schwerwiegender ist. Internationale oder ausländische Organisationen, die in Russland tätig sind, werden für „unerwünscht“ erklärt. Diese Entscheidung trifft die Generalstaatsanwaltschaft, ebenfalls außergerichtlich, ohne Begründung. Es gibt bereits über hundert „unerwünschter“ Organisationen. Dazu gehören Greenpeace, Transparency International, der WWF, der unabhängige TV-Kanal Dozhd und viele andere. Die Zusammenarbeit russischer Bürger und Organisationen mit einer „unerwünschten“ Organisation wird strafrechtlich verfolgt. Da keiner dieser Begriffe im Gesetz definiert ist, kann alles Mögliche als Zusammenarbeit gewertet werden, etwa ein Interview, das einem „unerwünschten“ Medium gegeben wurde, und wahrscheinlich allein schon die Korrespondenz.
Wie die Erfahrung der sowjetischen Dissidenten zeigt, erschweren das Fehlen eines juristischen Status bei einer Organisation und selbst strafrechtliche Verfolgung ihrer Mitglieder natürlich die Arbeit, machen sie aber nicht unmöglich. Die Tätigkeit von NGOs ist keine fixe Idee von Einzelpersonen. Danach besteht öffentlicher Bedarf, in vielen Fällen eine öffentliche Notwendigkeit, und dies besonders jetzt, wo viele von der Verfassung deklarierten Rechte und Freiheiten ebenso zu einer Fiktion werden wie sie es zu sowjetischen Zeiten waren, wo es keine Meinungsfreiheit mehr gibt und sich alle Fernsehkanäle und gedruckten Massenmedien in den Händen des Staats befinden und in Wirklichkeit keine Informations-, sondern reine Propagandamedien sind.
Nach wie vor sind Flüchtlinge und Binnenvertriebene auf Hilfe und Schutz angewiesen. Die Rechte von Soldaten und Wehrpflichtigen sind akut bedroht, die Probleme von Behinderten und Gefangenen bestehen fort, politische Regimegegner werden weiterhin verfolgt, Fälle spurlosen Verschwindens und von Folter werden nicht untersucht, die Aufgabe, sich gegen Wahlfälschungen zur Wehr zu setzen, ist auch noch aktuell. Zivilgesellschaftliche Aktivisten befassen sich mit all diesen Problemen unabhängig davon, ob das den Staatsbeamten genehm ist oder nicht.
Zurzeit ist diese Arbeit ebenso schwer und riskant wie unter der Sowjetmacht, aber sie geht weiter, wenngleich es sehr viel schwerer geworden ist, Erfolge zu erzielen. Unsere Vorgänger vor 40 Jahren haben den Mut nicht sinken lassen, und wir werden das auch nicht tun.
Jetzt noch einige Schlussbemerkungen.
Ich vertrete hier Memorial — eine Vereinigung von Menschen, die sich mit der Erinnerung an die tragische Vergangenheit befassen. Man kann die Menschen nicht zwingen, die Vergangenheit zu vergessen, umso weniger, wenn die Vergangenheit zurückkehrt. Und diese Rückkehr hat sich praktisch bereits vollzogen.
Die Rückkehr zu sowjetischen Unterdrückungsmethoden des Andersdenkens geht natürlich einher mit einer Rückkehr zu sowjetischen Geschichtsmythen, die manchmal grotesk verzerrt und verstärkt werden. Der Pakt mit Hitler von 1939, dessen sich sogar die sowjetischen Propagandisten schämten und den sie als notwendig zu erklären versuchten, wobei sie die geheimen Zusatzprotokolle unterschlugen, wird heute als Triumph der sowjetischen Diplomatie ausgegeben.
Formal hat der Staat sein Verhältnis zum kommunistischen Terror nicht revidiert, aber Stalin-Denkmäler tauchen in mehreren russischen Städten auf, manchmal auch mit Unterstützung der regionalen Behörden.
Kürzlich ist ein neues Geschichtslehrbuch erschienen, das die alten Konzeptionen einer „feindlichen Einkreisung“ und einer russischen singulären Sonderrolle wieder aufgreift. Die von den Propagandisten präparierte Geschichte wird zu einer ideologischen Waffe.
Der Streit geht weniger um historische Fakten als vielmehr um die Grundlagen der menschlichen Entwicklung.
Der Mensch ist kein Verbrauchsmaterial für die Lösung staatlicher Aufgaben, wie sich das die heutigen russischen Machthaber vorstellen. Er hat den Staat zu beherrschen und zu gestalten. Es ist nicht Sache des Staates, zu bestimmen, wie die Menschen leben sollen, vielmehr obliegt es den Menschen, über den Staatsaufbau zu entscheiden.
Das sind keine abstrakten humanistischen Ideale, sondern eine Praxis zum Überleben der Gesellschaft.
Gesellschaftliche Organisationen und Aktivisten, Menschenrechtler — das sind die Instanzen, die vor einer ungünstigen und gefährlichen Entwicklung warnen müssen. Wenn der Staat die Selbstorganisation von Bürgern durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit torpediert, untergräbt er seine eigene Zukunft und die Zukunft der Gesellschaft. Ein Staat, der die Rechte der eigenen Bürger verletzt, wird zwangsläufig zu einer Gefahr für andere Staaten.
Deshalb (hiermit kehre ich zum Thema unseres heutigen Treffens zurück) ist es die gemeinsame Aufgabe und das gemeinsame Interesse von Menschen guten Willens, Aktivisten zu unterstützen, die die Bürgerrechte verteidigen. Das gilt für die, die den Kampf im eigenen Land fortsetzen, wie auch für jene, die sich zur Ausreise gezwungen sahen.
Das ist eine extrem wichtige Aufgabe. Ich hoffe, dass die Weltgemeinschaft alles tun wird, um ihr gerecht zu werden.
10. September 2023