Erklärung der Internationalen Vereinigung Memorial
Am 1. August hielten wir alle den Atem an und warteten auf Nachrichten. Was wir lange nicht hatten glauben können, wurde wahr: weltweit bekannte russische politische Gefangene, darunter auch unser Kollege und Memorial-Mitstreiter Oleg Orlov, kamen in Freiheit. Durch Geheim-Erlasse Putins wurden sie begnadigt und konnten endlich ihre Angehörigen wieder in die Arme schließen. Ihr Leben ist (hoffentlich) nicht mehr in Gefahr.
Ilja Jaschin in Gefängniskleidung. Foto: Jevgenij Feldman / Meduza
Das ist zweifellos eine erfreuliche und ermutigende Nachricht, was seit Beginn der russischen Großinvasion in der gesamten Ukraine am 24. Februar 2022 so selten geworden ist.
Aber die Nachricht hat einen bitteren Beigeschmack. Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, dürfen nicht „verurteilt und begnadigt“ werden - Menschen, deren „Schuld“ in den Augen des Staates allein darin besteht, dass sie den Mut haben, aufrichtig für ihr Land zu leiden und zu kämpfen, für eine Zukunft ihres Landes, die auf der Einhaltung internationaler Gesetze und der Menschenrechte basiert.
Das Schmerzliche dieser Nachricht besteht auch darin, dass sich heute in Russland weiterhin mehrere hundert politischer Gefangener für ihre Überzeugungen hinter Gittern befinden – aufgrund fabrizierter Anschuldigungen, nach in Eile zusammengeschusterten widerrechtlichen „Strafartikeln“ zur Unterstützung des Krieges. Unsere Pflicht ist es, an jeden von ihnen zu erinnern, seien es bekannte öffentliche Persönlichkeiten und Aktivisten der Zivilgesellschaft – wie der Memorial-Aktivist Jurij Dmitriev – oder völlig unbekannte Studenten oder Rentner, die einfach nicht bereit waren, ihre Seele zu verbiegen. Unter ihnen sind auch Ukrainer, die in die Fänge des russischen Gerichtssystems geraten sind. Ihnen weiterhin Briefe in die Haft zu schreiben, sie zu unterstützen, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen – das ist unsere Aufgabe.
Der vollzogene Austausch ist ein grandioser diplomatischer Erfolg. Daran wurde lange Monate gearbeitet. Es ist schwer zu fassen, dass es nicht mehr zu einer rechtzeitigen Haftentlassung Alexej Navalnyjs kommen konnte, der der Repressionsmaschine zum Opfer gefallen ist. Und diese Arbeit darf nicht anhalten, solange es in Russland und Belarus politische Gefangene gibt. Viele von ihnen befinden sich gerade jetzt in realer Lebensgefahr.
Die schlechte Nachricht ist die, dass die amtierende russische Regierung so das geltende internationale Recht unterminieren kann. Sie entzieht Mörder und Verbrecher ihrer gerechten Bestrafung, indem es Geiseln, die es zuvor eingesperrt hat, „begnadigt“. In Geiselhaft verbleibt indes ein ganzes Land, in dem nach wie vor ein freies Wort den Verlust der realen Freiheit zur Folge haben kann.
Deshalb werden unsere Arbeit und der Kampf von Memorial – „für eure und unsere Freiheit“ – nicht aufhören.