Erklärung der Internationalen Vereinigung Memorial
Die Maßnahmen politischer Unterdrückung in Russland haben seit dem Beginn der groß angelegten Invasion in der Ukraine einen ausgesprochen zynischen Charakter angenommen.
Heutzutage kann in Russland jegliche Kritik an den Machthabern, jede Äußerung gegen Krieg und Willkür Anlass für politische Verfolgung bieten. Laut OVD-Info wurden zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 17. Dezember 2023 19.847 Menschen in Ordnungshaft genommen, weil sie gegen den Krieg protestieren. Die Liste der politischen Gefangenen im Projekt "Unterstützung für politische Gefangene" umfasst derzeit 631 Personen, und diese bekanntermaßen unvollständige Liste wird fast täglich umfangreicher.
Wladimir Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, Ivan Safronov zu 22 und Alexej Navalnyj zu 19 Jahren. Haftstrafen von solcher Dauer aus politischen Gründen hat es in Russland seit Stalins Zeiten nicht mehr gegeben. Drei Wochen lang wusste man nichts über den Aufenthaltsort und den Zustand von Navalnyj, und über den schwerkranken Alexej Gorinov war zwei Wochen lang nichts bekannt. Erst am 25. Dezember fanden ihn seine Anwälte in einem Gefängniskrankenhaus. Auch diese Praxis der Informationsblockade in Bezug auf politische Gefangene war typisch für die sowjetische Repressionspraxis.
Unser Kollege Oleg Orlov, dem vorgeworfen wird, den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine "zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger sowie zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" zu diskreditieren, wird weiterhin strafrechtlich verfolgt. Orlov hat öffentlich erklärt, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine zu diesen Interessen in direktem Widerspruch steht und den internationalen Frieden und die Sicherheit vielmehr untergraben hat. Die Staatsanwaltschaft forderte deshalb eine dreijährige Haftstrafe für ihn.
Am 14. Dezember 2023 beschloss das Moskauer Stadtgericht, das Verfahren gegen Orlov an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen, um die Motive für seine "kriminelle Aktivität" zu ermitteln, und die Ermittler suchen nun nach Beweisen dafür, dass er aus "ideologischem und politischem Hass" gegen den Krieg protestiert hat, was einen erschwerenden Umstand darstellt.
Eine Reihe weiterer Memorial-Aktivisten befindet sich bereits in Untersuchungsgefängnissen und Straflagern: Michail Krieger befindet sich seit über einem Jahr in Haft - er wurde am 3. November 2022 wegen "Rechtfertigung des Terrorismus" verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt; Bachrom Chamroev wurde am 24. Februar 2022 verhaftet und wegen "Rechtfertigung des Terrorismus" und "Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung" zu dreizehn Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt; Alexander Tschernyschov wird des angeblichen Versuchs beschuldigt, interne Dokumente des Permer Memorial-Verbands ins Ausland zu schmuggeln und befindet sich seit sechs Monaten in Untersuchungshaft; Jurij Dmitriev, der in einem fingierten Fall zu 15 Jahren verurteilt wurde, sitzt seit mehreren Jahren hinter Gittern.
Jeder unvoreingenommene Mensch, der sich mit dem Material dieser Strafsachen vertraut gemacht hat, wird deren politischen Charakter und die Anzeichen für offensichtliche Fälschungen klar erkennen. Das herrschende Regime in Russland unterdrückt nicht nur soziale und politische Aktivisten, sondern auch Kulturschaffende. Ein markantes Beispiel dafür war die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen den Schriftsteller Boris Akunin (Grigori Tschchartischwili) am 18. Dezember wegen "Rechtfertigung des Terrorismus" und "Verbreitung bewusst falscher Informationen über die Aktionen der russischen Streitkräfte in der Ukraine". Die Dramaturgin Svetlana Petrijtschuk und die Regisseurin Jevgenija Berkovitsch befinden sich seit dem 4. Mai 2023 wegen eines Theaterstücks in Haft, in dem die möglichen Gründe thematisiert werden, die junge Frauen manchmal in die Netzwerke terroristischer Organisationen treiben. Ihnen wird vorgeworfen, "öffentlich zu terroristischen Aktivitäten aufgerufen" zu haben. Künstlern, Regisseuren und Musikern, die sich gegen den Krieg positioniert haben, wurde ihre Arbeitsplätze und Auftrittsmöglichkeiten genommen.
Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko wurde im Anschluss an ihre Performance gegen die Militäraggression Russlands gegen die Ukraine zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die russische Kultur wird nicht von irgendwelchen Feinden von außen "aus dem Programm genommen", sondern innerhalb Russlands selbst; sie wird vernichtet, um die totale Kontrollausübung über die Bevölkerung durch die Regierung zu erreichen. Die internationale Vereinigung Memorial betrachtet die Menschenrechtsverletzungen in Russland und im postsowjetischen Raum mit Sorge. Wir rufen die internationale Gemeinschaft, Menschenrechtsaktivisten aus aller Welt und die UN-Gremien auf, unverzüglich die Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland und ein Ende der Verfolgung für eine öffentliche Positionierung gegen den Krieg zu fordern und alle verfügbaren rechtlichen und diplomatischen Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen.
Freiheit für die politischen Gefangenen in Russland!
27. Dezember 2023