Folterungen, Absprachen und Betrug: Warum Unschuldige sich und ihre „Mittäter“ in ihren Aussagen belasten

OVD-Info berichtet über die Kooperation von Angeklagten mit den Ermittlungsbehörden - worin sie besteht und welche Folgen sie in politischen Strafverfahren hat

„Novoe velitschie“ (neue Größe), „Set“ (Netz), der Bolotnaja-Prozess, das Verfahren gegen Koltschenko und Sentsov – was haben die bekanntesten Strafprozesse im heutigen Russland gemeinsam? In all diesen Verfahren gab es Personen, die vor dem Prozess Absprachen mit den Ermittlern getroffen hatten. OVD-Info legt dar, was das bedeutet und was die Angeklagten dazu bewegt, zur Inhaftierung ihrer Kameraden beizutragen und warum die derzeitige Situation niemandem recht ist.

Den 9. Mai 2014 verbringt Gennadij Afanasjev auf der offiziellen Parade zum Tag des Sieges in Simferopol. Nach Hause kehrt er nur noch zu einer Haussuchung zurück: FSB-Mitarbeiter haben ihn festgenommen, auf den Rücksitz platziert und ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Man befragt ihn nach einer Person namens Tschirnij und spricht über irgendwelche Minen am Belbek-Flughafen.

Nach der Haussuchung wird Afanasjev zum FSB-Sitz gebracht und wieder geschlagen. Dann wird ihm ein Anwalt zugeteilt, der ihn fragt: „Bist du geschlagen worden? Das macht nichts, geschlagen werden alle, das ist so üblich, leg ein Geständnis ab.“ In den folgenden 10 Tagen wird Afanasjev täglich vom Untersuchungs-Isolator im Kofferraum zum FSB transportiert. Man will erreichen, dass er gesteht, einen Terrorakt geplant zu haben, und verspricht ihm dafür Erleichterungen.

An einem dieser Tage bringt man Alexej Tschirnij zu ihm – einen weiteren Angeschuldigten im Verfahren gegen die „Krim-Terroristen“. Dieser sagt aus, er habe mit Afanasjev „Sprengstoff- und Mordanschläge durchführen und Menschen abschlachten“ wollen. Danach sagte er unmittelbar in Anwesenheit der Geheimdienstmitarbeiter: „Sorjan, es ist halt so spassiert.“

Nach dieser Gegenüberstellung wird Afanasjev anderswohin gebracht, man legt ihm eine Gasmaske an und würgt ihn. Er bekommt keine Luft mehr. In die Gasmaske wird Gas geleitet, er erbricht sich, verschluckt sich am Erbrochenen und unterschreibt schließlich ein Geständnis, Sprengstoffanschläge in Simferopol geplant zu haben.

In der Nacht kommen die Geheimdienstler mit neuen Papieren in die Zelle, mit zwei weiteren Namen: Koltschenko und Sentsov. Afanasjev wird mit Elektroschocks an den Geschlechtsorganen traktiert, man droht, ihn zu vergewaltigen. Er unterschreibt Aussagen, in denen er Sentsov als Organisator einer terroristischen Vereinigung bezeichnet.

Der Prozess gegen die „Krim-Terroristen“ basiert ausdrücklich auf den Aussagen Tschirnijs und Afanasjevs. Beide haben eine vorgerichtliche Absprache getroffen, derzufolge sie eine Haftstrafe von sieben Jahren strengen Vollzugs erhielten. Koltschenko wurde zu 10 Jahren strenger Strafkolonie verurteilt und Sentsov zu 20.

Was ist eine vorgerichtliche Absprache?

Eine vorgerichtliche Einigung über eine Zusammenarbeit ist eine Absprache zwischen dem Angeklagten und der Ermittlung in einem Strafprozess. Im Rahmen dieser Kooperation muss der Angeschuldigte bestimmte Dinge tun, die den Ermittlern helfen, Verbrecher zu finden und die nötigen Beweise zu beschaffen.

Worin das im Einzelnen besteht, hängt vom jeweiligen Verfahren ab. Nach Aussage der Juristin von OVD-Info Nadezhda Kusina muss der Betreffende in jedem Fall gegen seine Mitangeklagten aussagen. Deshalb wird so eine Übereinkunft meistens in Prozessen gegen mehrere Beteiligte getroffen, in denen eine Person gleich all ihre Mittäter preisgeben kann.

Die Beschuldigten müssen in diesem Fall ihre Schuld gestehen, obwohl das Gesetz dies nicht zwingend vorschreibt. Nach dem Geständnis behandelt das Gericht mit Einverständnis des Angeklagten sein Verfahren gesondert. In diesem Fall untersucht der Richter keine Beweise und kann das Verfahren in wenigen Stunden abschließen.

Weshalb sind vorgerichtliche Absprachen bei Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern so beliebt? Die Aussagen eines Angeklagten können als Grundlage für die Inhaftierung noch fünf weiterer Mittäter dienen, ohne dass es weiterer Beweismittel bedürfte. Aber welchen Vorteil hat der Angeklagte davon?

Nach dem Gesetz ist eine vorgerichtliche Einigung ein strafmildernder Umstand. Wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, kann das Gericht in diesem Fall den Angeklagten maximal zur Hälfte der gesetzlich vorgesehenen Höchststrafe verurteilen.

Wer sich auf eine Absprache eingelassen hat, wird bis zur Verurteilung häufig in den Hausarrest oder überhaupt aus der Haft entlassen, ist aber verpflichtet, an seinem Wohnort zu verbleiben. Dies war bei Nina Masljaeva der Fall, der ehemaligen Buchhalterin im „Siebten Studio“ von Kirill Serebrennikov, die mit anderen Mitarbeitern der Theatergruppe beschuldigt wurde, staatliche Gelder entwendet zu haben. „Ich bin zur Zusammenarbeit bereit, entlassen Sie mich nur in den Hausarrest“, sagte sie bei einer Verhandlung. Und man entließ sie tatsächlich zunächst in den Hausarrest und danach gänzlich aus der Haft, gegen die Auflage, ihren Wohnort nicht zu verlassen.

Die Kooperation mit der Ermittlung kann auch dazu beitragen, dass der Angeklagte schneller verurteilt wird und somit früher aus der Untersuchungshaft in die Kolonie kommt. Viele Angeklagte freuen sich darüber, so seltsam das scheinen mag, denn die Lebensbedingungen in der Kolonie sind gewöhnlich besser: Man kann sich im Territorium frei bewegen, arbeiten, sich ausruhen, mit anderen Verurteilten Kontakt haben oder sich auch in die Einsamkeit zurückziehen.

Wie enden die Absprachen mit der Ermittlung in der Praxis?

Die Haftstrafen, die Angeklagte im Falle einer Absprache bekommen, sind deutlich geringer als die ihrer Mitangeklagten. Hier einige Zahlen.

Verfahren

Mit vorgerichtlicher Absprache

Ohne vorgerichtliche Absprache

Bestechungszahlungen für gute Staatsexamensnoten

6,5 Jahre Bewährung

8 bzw. 8,5 Jahre Strafkolonie

Waffenhandel

3-3,5 Jahre gewöhnlichen Vollzugs

5 Jahre 2 Monate bis 8 Jahre gewöhnlichen Vollzugs

Drogenhandel

5 Jahre gewöhnlichen Vollzugs

8 Jahre gewöhnlichen und 4 Jahre strengen Vollzugs

Korruption

5 Jahre strengen Vollzugs

13 Jahre strengen Vollzugs

Staatsverrat

6 Jahre strengen Vollzugs

14 und 22 Jahre strengen Vollzugs

Der Anwalt Dmitrij Dinse beschreibt die Situation in politischen Prozessen wie folgt: 2015 hat z. B. ein Petersburger Gericht Angeklagte im Hisb-ut-Tahrir-Verfahren verurteilt (Hisb-ut-Tahrir ist eine islamische Partei, die in Russland als terroristische Organisation gilt).

Gazura Magomedova und Machamadimina Salieva wurden zu fünf Jahren im gewöhnlichen bzw. strengen Vollzug verurteilt. Beide bekannten sich nach einer vorgerichtlichen Einigung schuldig. Ihr Mitangeklagter Isljas Kagirov machte ebenfalls ein Schuldeingeständnis, traf jedoch keine Abmachung und erhielt ebenfalls fünf Jahre im allgemeinen Vollzug. Die anderen Angeklagten, die sich einer Absprache sowie einem Schuldbekenntnis verweigert hatten, wurden zu Strafen von zwölfeinhalb bis 17 Jahren Kolonie verurteilt.

Aber so läuft es nicht immer. Beispielsweise versprechen die Ermittler dem Angeklagten eine Bewährungsstrafe als Gegenleistung für Kooperation, veranlassen ihn dazu, die gewünschten Aussagen zu machen und auf unabhängige Anwälte zu verzichten. Und dann landet er trotzdem in der Strafkolonie.

Wie die Gespräche der Ermittlungsorgane mit den kooperationswilligen Häftlingen ablaufen, ergibt sich aus den Aufzeichnungen eines Untersuchungsrichters vermutlich mit Demjan Moskvin, der im Zusammenhang mit der kriminellen Vereinigung des Ex-Gouverneurs von Komi Vjatscheslav Gajser angeklagt wurde. Die Aufzeichnung wurde im Kanal Chance For Justice veröffentlicht, eine verschriftlichte Fassung erschien bei Mediazona.

In der Aufzeichnung droht der Ermittler dem kooperationswilligen Beschuldigten, bei jeder „Unbotmäßigkeit“ ein neues Verfahren gegen ihn einzuleiten und ihn aus dem Hausarrest in Untersuchungshaft in die Butyrka zu bringen. Dazu teilt er mit, dass mit dem Gericht bereits eine Bewährungsstrafe für ihn vereinbart worden sei. Nach einem Monat wurde Moskvin indes zu sechs Jahren Kolonie strengen Vollzugs sowie zu einer Strafzahlung von zwei Millionen Rubeln verurteilt.

„Ich bin einer der beiden Angeklagten in dem Verfahren, die eine Absprache mit dem Staatsanwalt getroffen haben", so Moskvin in einem Brief. „Das heißt nicht, dass ich der Ermittlung irgendwelche mir bekannten Tatsachen und Informationen mitgeteilt hätte, in erster Linie bedeutet das, dass ich der Version der Ermittlung, egal, wie absurd sie war, vorbehaltlos zustimmen und alle ‚Aussagen\' unterschreiben musste."

Nach Angaben der Gerichtsabteilung beim Obersten Gericht der Russischen Föderation haben in den letzten vier Jahren 47 % der Verurteilten, deren Verfahren nach einer vorgerichtlichen Absprache gesondert behandelt wurden, eine reale Haftstrafe erhalten. Bei 9 % wurden die Verfahren eingestellt, und nur 20 Personen von 17.868 wurden freigesprochen.

(…)

Wie die Ermittlung die gewünschten Aussagen bekommt

2018 nahmen FSB-Grenzbeamte den Ukrainer Alexander Steschenko fest. Man beschuldigte ihn, das Haus des Muftis auf der Krim – des ranghöchsten Geistlichen in der Region - in Brand gesteckt zu haben. Nach drei Monaten bekannte Steschenko sich schuldig und traf eine vorgerichtliche Absprache. Nach einem weiteren Monat wurde er zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt und nach einem Jahr vorzeitig auf Bewährung entlassen.

Im Sommer 2019, unmittelbar nach seiner Freilassung, berichtete Steschenko in einem Interview mit „Krym.Realii“, wie die drei Monate zwischen Festnahme, und Schuldbekenntnis verlaufen waren. „Was ich da ausgesagt habe – das war eine reine Phantasie des FSB. Ich habe dieses Haus nicht in Brand gesteckt, ich habe Veliev Erol oder Alexander Tretjakov nie gesehen, ich habe diese Personen verleumdet. Man hat mir gesagt, wen ich nennen sollte. Man hat mich mit Fäusten traktiert, ausgezogen, mir Elektroschocks versetzt, mich mit Wasser übergossen, gefoltert und zu diesen Aussagen gezwungen. Es war unerträglich, ich musste sagen, was sie verlangten.“

Im Juli 2019 berichtete Pavel Rebrovskij, einer der Angeklagten im „Novoe-velitschie“-Prozess, wie man ihn zu einer vorgerichtlichen Absprache genötigt hatte. Er wurde nicht gefoltert, allerdings drohte ihm der Untersuchungsrichter mit einer Anklage wegen Terrorismus, wenn er nicht bereit wäre, zu kooperieren. Gegen die verlangten Aussagen versprach man Rebrovskij eine Bewährungsstrafe.

Rebrovskij wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er fühlte sich betrogen und widerrief seine Aussagen, zugleich berichtete er von den Arbeitsmethoden der Ermittler. Das Verfahren wurde ans Gericht zur Revision zurückverwiesen.

Der bekannteste Prozess, in dem Folter eine Rolle spielte, läuft gerade jetzt, und zwar gegen die „terroristische Vereinigung" „Set“. Mindestens sechs Angeklagte haben von Folterungen und Schlägen berichtet, ein weiterer von folterähnlichen Haftbedingungen in der Untersuchungshaft. Auch hier kam es zu vorgerichtlichen Absprachen.

Igor Schischkin, der eine solche getroffen hatte, bestritt, dass Gewalt gegen ihn angewendet worden sei, obwohl Mitglieder der Beobachtungskommission gleich nach seiner Festnahme erklärt hatten, Ärzte hätten bei ihm einen Jochbeinbruch, zahlreiche Hämatome und Schrammen festgestellt. Schischkin selbst führte die Verletzungen auf sportliches Training zurück.

Er wurde zu dreieinhalb Jahren Kolonie im gewöhnlichen Vollzug verurteilt. Dafür hatte sich Schischkin für schuldig erklärt, gegen andere Prozessbeteiligte ausgesagt und von der Aufgabenverteilung, der Struktur der Organisation, ihren Kontakten, Sitzungen und der „Vorbereitung von Terrorakten“ berichtet. Nach Auskunft von Anwalt Dmitrij Dinse hätte der Richter ihn auch zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilen können.

Warum selbst Putin der Auffassung ist, dass etwas geändert werden muss

Von Mängeln im System bei den vorgerichtlichen Absprachen und den gesonderten Verfahren in Russland spricht sogar der Präsident. Im Frühjahr 2019 forderte er die Organe auf, sich gegen gesonderte Verfahren zu wenden, wenn es Zweifel an den Beweisen der Anklage und an der Freiwilligkeit der Geständnisse gibt. Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka pflichtete ihm bei und plädierte sogar für gesetzliche Beschränkungen in diesem Bereich.

Im Oktober 2019 berichtete ein Richter aus Jaroslavl, die Staatsanwaltschaft habe nach Tschajkas Äußerung eine Obergrenze für gesonderte Verfahren festgesetzt. Wird diese überschritten, werden die Staatsanwälte disziplinarisch zur Verantwortung gezogen. Der Richter selbst wandte sich jedoch dagegen mit dem Argument, gesonderte Verfahren könnten die überlasteten russischen Gerichte entlasten. Dieses Problem existiert tatsächlich. Nach Angaben von „Fontanka“ entfielen in Petersburg auf einen Richter durchschnittlich 62,8 Entscheidungen pro Monat, d. h. zwei täglich.

Dmitrij Agranovskij, der Anwalt von Sergej Udalzov und Leonid Razvozzhaev, angeklagt im Bolotnaja-Prozess, klagte 2014 beim Verfassungsgericht gegen den Teil des Strafgesetzbuchs, der die Prozedur einer vorgerichtlichen Absprache behandelt. Seiner Meinung nach verletzt die gesetzliche Möglichkeit für Ermittler, Beweise zu beschaffen, indem man einem der Angeklagten irgendwelche Vorteile verspricht, das Recht der übrigen Angeklagten auf Verteidigung, das Prinzip der Unschuldsvermutung und der Gleichberechtigung der Parteien, weil die Verteidigung diese Möglichkeiten nicht hat. Das Gericht hat diese Klage umgehend abgewiesen, woraufhin sich der Anwalt an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gewandt hat. Dessen Entscheidung wird für Ende 2019 erwartet.

Gegenüber OVD-Info sagte Agranovskij, dass Russland dem Beispiel anderer Länder folgen könnte: „Da wird von Anfang an eine vorgerichtliche Einigung im Rahmen eines gleichberechtigten Prozesses geprüft, die Beweise werden untersucht. Und erst danach erhält jemand gewisse Präferenzen, wenn sich seine Aussagen bestätigen. Und bei uns ist es umgekehrt.“

Weshalb jemand, der sich auf eine Absprache einlässt, länger einsitzen kann als alle anderen

Der Angeklagte im Prozess gegen die „Krim-Terroristen“ Gennadij Afanasjev hat sich im Prozess gegen Oleg Sentsov und Alexander Koltschenko von seinen Aussagen losgesagt und erklärt, dass er seine Mitangeklagten unter der Folter belastet hatte. Sein Urteil wurde nicht revidiert, allerdings wurde er bereits nach einem Jahr von Präsident Putin begnadigt und konnte in die Ukraine zurückkehren. Ähnlich erging es Sentsov und Koltschenko selbst. Im September 2019 kehrten beide im Rahmen eines großen Gefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine in die Heimat zurück. Der erste Anwalt Alexej Tschirnijs, der bei der Gegenüberstellung mit Afanasjev von Morden und Sprengstoffanschlägen gesprochen hatte, berichtete Krym-Realii, dass man die gewünschten Aussagen bei seinem Mandanten ebenfalls mit Folter erpresst habe. Aber anders als Afanasjev hat sich Tschirnij nicht von seinen Aussagen distanziert. Er ist jetzt der einzige Angeklagte in diesem Prozess, der immer noch in der Kolonie seine siebenjährige Haftstrafe absitzt.

Autorin: Anastasia Medvedeva
Redakteur: Michail Schubin

Quelle: https://ovdinfo.org

7. November 2019

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