Interview von Andrej Kamakin mit Jan Raczynski
Am 30. Oktober beging Russland zum 29. Mal den Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgungen. Das Wort Erinnerung impliziert, dass es um Ereignisse geht, die für immer einer fernen Vergangenheit angehören, die ein Land nicht vergessen will. Dabei gilt leider weder das eine noch das andere. Über die ungelernten Geschichtslektionen des Landes führte der Andrej Kamakin/Moskovskij Komsomolez ein Interview mit dem Vorsitzenden von Memorial International, Jan Raczynski. Wir bringen das Interview leicht gekürzt in Übersetzung.
Jan Zbignevitsch, versucht Memorial weiterhin, die Eintragung der Organisation in das Register ausländischer Agenten anzufechten?
Die Möglichkeiten, diese Entscheidung vor russischen Gerichten anzufechten, sind ausgeschöpft. Zum Glück aber hat sich die Beschwerde beim EGMR zum „Agentengesetz“, die 2013 von einer Gruppe öffentlicher Organisationen eingereicht wurde, von ihrem toten Punkt wegbewegt (Klagen wurden von mehr als 60 Organisationen eingereicht, 2017 wurden diese schließlich angenommen und mit der Bearbeitung begonnen; A. K.). Memorial gehört zu den Organisatoren dieser gemeinsamen Aktion. Ich hoffe, dass bald eine Entscheidung getroffen wird.
Was stört Sie an diesem Status? In der heutigen Zeit ist das doch weniger Zeichen einer Schande als viel mehr von Heldentum, zumindest von Unabhängigkeit, von Nonkonformismus. Und das korrespondiert ja auch völlig mit dem, womit Sie sich beschäftigen: Viele, wenn nicht die Mehrheit der Opfer politischer Repressionen, wurden ja gerade als „ausländische Agenten“ verfolgt. Wenn auch in einem etwas anderen Verständnis dieses Terminus\'.
Nun, wenn man solche Parallelen anführt, dann muss man die heutige Regierung dem Regime gegenüberstellen, das die „Ausländischen Agenten“ in den damaligen Zeiten hervorgebracht hat. Und allein die Verwendung eines solchen Etiketts gibt dazu einigen Anlass. Was die öffentliche Wahrnehmung angeht, so hängt alles davon ab, wessen Ansicht das ist. Für unabhängig denkende Menschen, die in der Lage sind, Informationen kritisch zu bewerten, stellt ein solches Etikett in der Tat keinerlei Schande dar. Es ist völlig klar, dass keine einzige der Organisationen, die in das oben erwähnte Register eingetragen wurden, die Funktion eines „ausländischen Agenten“ erfüllt. Sie alle handeln im Einklang mit ihren eigenen Satzungen, Zielen und Überzeugungen.
Aber leider befasst sich die Mehrheit des heutigen Fernsehpublikums nicht mit Details. Ins Fernsehen lädt man mich schon lange nicht mehr ein, aber als man das noch tat, wurde ich wiederholt damit konfrontiert, dass Gegner, anstatt auf Argumente zu antworten, sagten: „Ihre Organisation – das ist ein ausländischer Agent.“ Und für einen bedeutenden Teil der Fernsehzuschauer scheint ein solcher „Beleg“ durchaus überzeugend.
Es gibt aber auch schlicht praktische Dinge. Das ist vor allem ein riesiger Umfang zusätzlicher, sinnloser Belegpflichten. Weil wir eine alte und große Organisation sind, werden wir damit fertig. Aber für eine Vielzahl kleiner Organisationen ist das nicht zu bewältigen. Ein dritter wichtiger Umstand ist die Reaktion der Beamten. Wie jede andere gesellschaftliche Organisation müssen wir zur Erreichung unserer Ziele mit Behördenvertretern zusammenarbeiten. Aber das wird schwierig: Viele Beamte vermeiden zur Sicherheit den Kontakt mit „ausländischen Agenten“. Und einige behindern unsere Tätigkeit ganz direkt.
Sie haben Ihren Kollegen und Mitarbeiter Jurij Dmitriev vorbehaltlos unterstützt und sich sich seit Beginn der strafrechtlichen Verfolgung für ihn eingesetzt. Und ich verstehe Ihre Position vollkommen. Eine andere wäre wahrscheinlich einfach unwürdig. Aber trotzdem, ist Ihnen alles in dieser Sache klar? Haben Sie keine Fragen an Jurij Dmitriev?
Nein, ich habe keine Fragen an Jurij Dmitriev. Ich bin mit ihm seit mehr als zwanzig Jahren bekannt, kann also die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe gegen ihn beurteilen, sogar ohne zusätzliche Informationen zu haben. Im Prinzip konnte jedem unvoreingenommenen Beobachter alles klar werden, nachdem die Ermittlung für das Gutachten ein Büro beauftragt hat, das für seine Dienstfertigkeit den Staatsorganen gegenüber berüchtigt ist. Unter den sogenannten Experten waren weder Ärzte noch Pädagogen, nicht ein einziger Spezialist irgendwie verwandter Bereiche, obwohl die Ermittler die Möglichkeit hatten, sich sowohl an staatliche Experten-Organisationen als auch an beliebige andere bekannte Experten zu wenden.
Ein anderes vielsagendes Faktum ist, dass die Anklage Material, das sie für kompromittierend hält, den Medien zuspielt. Und dass einige Medien Jurij Dmitriev so eifrig diffamieren, legt zwangsläufig bestimmte Gedanken nahe. Und wenn schließlich gesagt wird, dass die Verfolgung in keiner Weise mit der Tätigkeit Dmitrievs in Verbindung steht, dann muss man sich erinnern, dass in den letzten Jahren die Russische Militärhistorische Gesellschaft in Sandarmoch eine große und ziemlich vandalistische Aktivität an den Tag legt und versucht, andere Akzente zu setzen und nicht-existierende Gräber finnischer Okkupanten zu finden. All diese Umstände zeigen auch für jemanden, der Dmitriev nicht kennt, ziemlich deutlich, wie absurd dieses Verfahren ist und dass es einen politischen Hintergrund hat.
Aber warum wird ausgerechnet um Sandarmoch ein solches Aufheben gemacht? Es gibt doch auch andere Massengrabstätten von Repressionsopfern Die Butovo-Gedenkstätte zum Beispiel. Aber dieser Ort ruft, soweit man weiß, keine Allergien bei den Machthabern hervor. Sogar Putin ist dort gewesen.
Ja, Putin hat ihn aufgesucht. Sandarmoch wurde bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ebenfalls von führenden Politikern Kareliens besucht. Sogar von einigen Vertretern der föderalen Organe, beispielsweise von Duma-Abgeordneten. Aber es gibt dennoch wesentliche Unterschiede. Sandarmoch ist ein äußerst spezifischer Ort. Dort sind viele Persönlichkeiten aus heute unabhängigen Staaten begraben, unter anderem herausragende Kulturschaffende der Ukraine. Aber seit 2014 reagierten die örtlichen Beamten auf Besuche ukrainischer Delegationen in Sandarmoch zum Tag der Erinnerung im August mit zunehmender Nervosität. In Sandarmoch war nicht nur von der Vergangenheit die Rede, sondern auch davon, dass sie nicht endgültig vergangen ist. Jurij Dmitriev hat viel darüber gesprochen, ich denke, das war der entscheidende neuralgische Punkt. Die örtlichen Behörden – in erster Linie die Sicherheitsorgane, die in Grenzregionen ihr besonderes Kolorit haben – suchten eine Möglichkeit, Dmitriev mundtot zu machen.
Memorial war bei der Regierung noch nie besonders beliebt, aber in den letzten Jahren haben sich die Beziehungen deutlich verschlechtert. Wann und weswegen kam es zu diesem Umschwung?
Memorial ist keine Ausnahme: Das Verhältnis zur Regierung ist für alle unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen schwieriger geworden. Nach meiner Einschätzung kam es dazu 2011 nach den groß angelegten Fälschungen der Wahlen zur Staats-Duma. Das Thema ist hinreichend gut untersucht. Übrigens, was Memorial angeht, so kann man in den Worten des Präsidenten Anfang 2000 einen Vorboten der Komplikationen sehen. Vladimir Putin hatte erklärt, dass man auf die Geschichte des Vaterlandes stolz sein müsse. Aber in der Geschichte des Vaterlandes gibt es verschiedene Seiten. Und wenn man konkret über die Geschichte des Staates spricht, dann begegnet man auch äußerst beschämenden Seiten. Die Position unserer Regierung aber besteht heute darin, dass es solche Seiten in der Geschichte des Staates nicht gibt. Tragische gibt es, aber beschämende nicht. Der Staat ist der wichtigste Wert. Einzelne Menschen können sich irren, aber der Staat ist immer unfehlbar. Genau darin besteht unsere hauptsächliche Differenz zum Staat. Die damit zusammenhängenden Probleme haben ebenfalls nicht wir allein. Je größer die Differenz ist, desto mehr Probleme bekommen alle unabhängigen Historiker, die unsere Vergangenheit objektiv bewerten.
In wieweit hat sich die Veröffentlichung der „Liste der vierzigtausend NKWD-Mitarbeiter zur Zeit des Großen Terrors“ auf Ihr Verhältnis zu den Behörden ausgewirkt?
Natürlich hat das in bestimmten Kreisen Verärgerung hervorgerufen. Die Liste selbst geht übrigens in hohem Maße auf die Arbeit des unabhängigen Forschers Andrej Zhukov zurück, mit dem wir seit langem freundschaftliche Beziehungen unterhalten und der jahrelang Informationen gesammelt hat. Wir haben dieser Arbeit einfach ein moderneres Format gegeben. Und es natürlich auch ergänzt: Unsere Forscher haben sich auch viele Jahre mit diesem Thema beschäftigt.
Wovon ließen wir uns bei der Veröffentlichung dieser Datenbank leiten? Die Sache ist die, dass die Geschichte des sowjetischen Staatsterrors ziemlich seltsam aussieht. Es gibt eine große Zahl an Opfern, es gibt Verbrechen, aber über die Verbrecher selbst wird so gut wie nie gesprochen.
Wer sind sie, die Verbrecher? Diese Liste gibt teilweise eine Antwort auf diese Frage. Nicht alle dort sind Verbrecher, und nicht alle Verbrecher sind dort verzeichnet. Unser Forscher Sergej Filippov hat bereits zwei Bände biographischer Nachschlagewerke veröffentlicht, die den Leitern der Parteiorgane gewidmet sind, die den Terror umsetzten. Der „Trojka“ gehörte immer ein Vertreter der Partei an. Leider verfahren etliche regionale FSB-Archive so, dass sie die Sitzungsprotokolle der „Trojka“ häufig nur als Kopie herausgeben, wobei die Namen derer, die diese verbrecherischen Entscheidungen trafen, geschwärzt sind.
Zu welchem Zweck wird das geheimgehalten?
Das ist rational recht schwer zu erklären, weil es sowieso unmöglich ist, sämtliche Informationen zu verheimlichen. Zu viel davon wurde schon vor dem Jahr 2000 veröffentlicht. Und auch in den 2000er Jahren wurde noch hinlänglich viel bekannt. Die Ausreden, die wir von Zeit zu Zeit hören, über den Schutz der Nachkommen, denen das angeblich unangenehm ist, sind lächerlich. Den Nachkommen eines jeden Verbrechers ist es unangenehm, wenn die Taten ihrer Vorfahren bekannt werden. Und soll man dann etwa deswegen die Namen aller Verbrecher auf ewig für geheim erklären? So eine Argumentation ist ziemlich abwegig.
Vielleicht ist die Sache aber auch einfach in einer Geheimhaltungsmanie begründet, die den Geheimdiensten im Blut liegt. Hier kann man an die Formulierung aus Iosif Brodskijs „Asiatische Maximen“ erinnern: „Wenn es nicht geheim ist, dann ist es nichtig.“ Aber vielleicht will man auch keine Verallgemeinerungen. Es gibt beispielsweise die Aussage Nasedkins, Volkskommissar für Innere Angelegenheiten von Belarus, der diesen Posten von Mai bis Ende Dezember 1938 innehatte. Er sagte, wollte man alle diejenigen bestrafen, die an Verprügelungen teilgenommen hätten, müsse man 80 Prozent des Personals den Prozess machen.
Kann man also davon sprechen, dass die ganze Organisation kriminell war?
Ja, unbedingt. Denn ein solches Ausmaß an Terror gegen das eigene Volk hat in der Weltgeschichte nicht seinesgleichen.
Der Pressesprecher des Präsidenten hat als Antwort auf die Frage einer Veröffentlichung der Liste dieses Thema als höchst sensibel bezeichnet. Gab es irgendwelche Anspielungen oder vielleicht sogar direkte Forderungen der Beamten, diese Datenbank zu sperren?
Nein, solche Versuche gab es nicht. Es gab Gerüchte, die von einigen Medien verbreitet wurden, dass es angeblich irgendwelche Erben derer gäbe, deren Namen wir veröffentlicht hatten und dass die darüber sehr empört seien. Aber wir selbst haben diese Erben nie zu Gesicht bekommen. Uns erreichten keinerlei Anfragen von ihnen, weder direkt noch in ihrem Auftrag. Es gab zu diesem Thema Äußerungen von einzelnen marginalen Personen. Aber seriöse Argumente gegen die Veröffentlichung sind mir nicht zu Ohren gekommen. Und es ist auch schwierig, gegen etwas zu debattieren, das ausschließlich auf Dokumenten basiert.
Ein Argument kann man vielleicht trotzdem anführen: Bei weitem nicht alle von Ihnen aufgelisteten Menschen waren mit Blut befleckt. Unterdessen wurde und wird diese Datenbank im öffentlichen Raum oft als „Liste der Henker“ serviert.
Wir haben sie nie als „Liste der Henker“ bezeichnet. Im Gegenteil, dieser Datenbank geht eine Erklärung voraus: „Man darf nicht davon ausgehen, dass alle Organisatoren und Beteiligte an politischen Repressionen in dem vorliegenden Nachschlagewerk vertreten sind oder dass alle hier genannten Personen unbedingt an politischen Repressionen beteiligt waren.“ Ja, es ist sehr schmerzlich zu erkennen, dass dein Vorfahr in einer Organisation gedient hat, die weder der Gesellschaft noch dem Staat zu Ehren gereichte. Aber was soll man tun, wenn es so ist?
Ich kann ein Beispiel aus meiner eigenen Familiengeschichte anführen: Einer meiner relativ nahen Verwandten war formal ein Mitarbeiter des NKWD. Er leitete die Bildungsabteilung der Bolschewistischen Arbeitskommune, in der man obdachlose Kinder umerzog. Er nahm natürlich an keinen Erschießungen teil und hat auch sonst nichts Schlimmes getan. Viele Jahre später, nachdem man ihn bereits erschossen hatte, kamen seine Zöglinge zu seinen Kindern, um ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Dennoch ist es mir sehr unangenehm, dass er dort gearbeitet, diese Uniform getragen hat... .
Bei uns liebt man es übrigens sehr, sich auf die eigentlichen Henker zu konzentrieren. Auf Blochin (Vasilij Blochin, einer der bekanntesten und „effektivsten“ Exekutoren von Todesstrafen während der Periode der Massenrepressionen; letzte Position: Kommandant des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, A. K.) und auf andere. Der Beruf des Henkers ist zweifellos widerwärtig. Aber die Hauptschuldigen waren nicht die, die auf den Abzug drückten, sondern jene, die die Verfahren fabriziert hatten. Eben diese waren es, die den Tod verursachten. Wer das Urteil ausführt, spielt nur eine technische Rolle. Dementsprechend sind vor allem die Ermittlungsbeamten schuld, die Geständnisse erzwangen, jene, die ihnen den Auftrag gaben, die Materialien für die Verfahren zu fälschen und jene, die die Urteile fällten im Wissen darum, dass sie das nicht richtig ist. Jedem auch nur halbwegs gebildeten Menschen musste das einleuchten. Und erst recht den Staatsanwälten, die den Trojkas angehörten. Sie nahmen völlig bewusst an den verbrecherischen Handlungen teil, dem Massenmord an ihren eigenen Bürgern.
Werden Sie die auch nennen?
Die Liste derer, die zu den Trojkas gehörten, ist uns fast komplett bekannt. Leider hat sich die Generalstaatsanwaltschaft geweigert, mit uns zusammenzuarbeiten: Wir kennen die Namen, aber wir kennen die Dienstliste der Staatsanwälte nicht. Wir versuchen diese Weigerung gerichtlich anzufechten. Bislang zwar vergeblich, aber wir werden selbstverständlich weitergehen.
Und mit welcher Motivation hat sich die Staatsanwaltschaft geweigert?
Die Motivation ist absurd: Angeblich handelt es sich um persönliche Daten.
Soweit ich weiß, bezieht sich der Begriff „Persönliche Daten“ auf lebende Personen.
Das ist völlig richtig, nach dem Tod eines Menschen kann man diese Art von Informationen nicht mehr als persönliche Daten bezeichnen. Aber das ist nicht das Hauptargument. Das Gesetz zu persönlichen Daten lautet, dass die durch das Gesetz vorgesehenen Einschränkungen sich nicht auf Archiv-Informationen erstrecken. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass es um Dienstlisten bei Beschäftigungen in staatlichen Posten geht. Solche Angaben können nicht für geheim erklärt werden, sofern es keine Informationen zu Geheimagenten sind. Staatsanwälte allerdings gehören ja nun mal nicht zu den Geheimagenten.
Der Ihnen wahrscheinlich bekannte Denis Karagodin erstellt seine eigene Liste: Er enthüllt Personen, die an der Verhaftung, der Verurteilung sowie der Erschießung seines Urgroßvaters beteiligt waren. Und diese Aufstellung ist ziemlich umfangreich. Darin sind Führer der Partei sowie der Regierung enthalten, Ermittler und Gefängniswärter und sogar Schreibkräfte und Fahrer des NKWD. Wie bewerten Sie eine solche Herangehensweise?
Was Schreibkräfte und Fahrer angeht, so steht mir diese Position nicht nahe. Aus meiner Sicht war eine Putzfrau in der Reichskanzlei keine Kriegsverbrecherin. Verbrecher sind diejenigen, die Entscheidungen getroffen haben, und die, die sie ausgeführt und sich ihrer Ungesetzlichkeit bewusst waren. In einem Urteil der Nürnberger Prozesse ist klar formuliert, dass die Verantwortlichkeit bezüglich des Dienstgrades der Nationalsozialistischen Partei und der SS automatisch auf einer bestimmten Ebene beginnt. Hinsichtlich der gemeinen Mitglieder ist alles individuell zu entscheiden – je nachdem, inwieweit sie an den Verbrechen beteiligt waren.
Karagodin nennt nicht nur die Mörder seines Urgroßvaters. Er hat vor, sie vor Gericht zu bringen. Und sei es auch posthum. Haben Sie eine ähnliche übergeordnete Aufgabe? Eine Verurteilung der Verbrecher zu erreichen und vor allem des Regimes, in dessen Namen die Verbrechen verübt wurden?
Das ist nicht so sehr eine Frage der Verurteilung als vielmehr der genauen Einordnung der Vergehen. Es bedarf in der Tat eines gewissen juristischen Verfahrens.
Manche nennen es das „Russische Nürnberg“.
Meiner Meinung nach ist diese Gegenüberstellung nicht ganz korrekt. Die Ideologie des Nationalsozialismus war von aller Anfang an verbrecherisch. Sie sah von Anfang an die Vernichtung der einen zum Wohl der anderen vor. Eine Vernichtung aufgrund von Merkmalen, von denen man sich nicht befreien konnte. Es ist unmöglich aufzuhören, Zigeuner oder Jude zu sein! Die kommunistische Ideologie getrennt genommen von der Praxis ist nicht verbrecherisch. Sie ist eine Ideologie, die auf ihre Weise eine Verzerrung des Christentums ist. Es gab ziemlich viele Menschen, – und wahrscheinlich kannten Sie einige davon, ich jedenfalls tue das – die aufrichtig an eine klassenlose Gesellschaft glaubten und an die Möglichkeit einer universellen Brüderlichkeit. Was den Umfang einer solchen Untersuchung betrifft, ist sie sicherlich mit Nürnberg vergleichbar. Vielleicht würde sie Nürnberg sogar übertreffen. Denn bei uns dauerte die Herrschaft der „einzig wahren Lehre“ keine 12, sondern 70 Jahre.
Oft ist zu hören, dass das Thema Repressionen die Gesellschaft spaltet, weil alle unsere Vorfahren entweder Henker oder Opfer waren. Außerdem könne man sowieso niemanden zurückbringen und nichts mehr ändern. Und weil das so ist, sei es besser zu vergessen oder wenigstens seltener daran zu erinnern. Mit solchen Argumenten werden Sie selbst wahrscheinlich auch konfrontiert. Was antworten Sie darauf?
Dazu kann man vieles sagen. Erstens, ohne die gedankliche Verarbeitung der Vergangenheit, ohne eine Bestrafung der Verbrecher - und es sei es dadurch, dass ihre Namen genannt werden, und das ist nach meiner Ansicht eigentlich die wichtigste Bestrafung – ist es unmöglich, weiterzukommen. Ein Land, in dem es gleichzeitig einen Sacharov-Prospekt und einen Andropov-Prospekt gibt, kann sich nicht normal entwickeln. Wo man Blumen auf das Grab von Stalin und auf das Grab derer legt, die er umgebracht hat. Das ist eine Art von Schizophrenie.
Das Argument, dass „unsere Vorfahren entweder Henker oder Opfer waren“, hält keiner Kritik stand. Opfer gab es viele Millionen. Eine Million Erschossener und noch etwa 11 Millionen, die man in Lager steckte, deportierte, entkulakisierte, denen man ihr Eigentum wegnahm... . Ich spreche schon gar nicht von den Millionen, die vor Hunger starben. Henker gab es mindestens um zwei Größenordnungen weniger: ein-, zweihunderttausend. Ja, und es gab die, die Bescheid wussten, aber schwiegen. Aber das ist da nichts dasselbe wie Mörder. Einer vergleichsweise kleinen Gruppe Henkern zu verzeihen, was sie vielen Millionen angetan haben, erscheint nicht logisch. Eine solche Betrachtungsweise ist einer nationalen Versöhnung wenig förderlich, ganz im Gegenteil. Ein Geschwür muss geöffnet und gereinigt werden. Sonst wird sich nur weiter Eiter ansammeln und früher oder später herausbrechen.
Haben Sie nicht das Gefühl, dass die Sache darauf hinausläuft, dass Ihre Organisation geschlossen wird?
Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird. Es gibt ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen. Es gibt das staatliche Konzept zur Bewahrung der Erinnerung an die Opfer, und sei es auch in hohem Maße eine Deklaration. Es gibt Erklärungen hoher Beamter, in denen der massenhafte Terror verurteilt wird. Unter diesen Bedingungen ist nicht klar, welche Dividende die Schließung von Memorial bringen könnte und wem. Eine andere Sache ist, dass man unsere Tätigkeit natürlich erschweren und einschränken wird. Nun ja, wir haben in 30 Jahren schon alles Mögliche gesehen...
Das heißt, man mag euch nicht, aber euch zu schließen – das steht doch nicht dafür?
Ja, so ungefähr.
20. Oktober/20. November 2020
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker