Herta Müller, Svetlana Alexievich und Jonathan Littell bitten um Solidarität mit Jurij Dmitriev

 

Nachstehend der Appell in deutscher Übersetzung.

 

Sehr geehrte Frau Mijatović,

wir sind in großer Sorge um das Leben und das Schicksal des russischen Historikers Jurij Dmitriev. Dmitriev ist ein bedeutender GULAG-Forscher, er hat die Stalinsche Hinrichtungsstätte in Sandarmoch (Republik Karelien, Russland) entdeckt. Sein Strafverfahren wird derzeit vor dem Stadtgericht in Petrozavodsk verhandelt.

Ihnen als Menschenrechtskommissarin des Europarats ist dieses Verfahren sicher nicht unbekannt. Es begann im Dezember 2016, als gegen Dmitriev  eine niederträchtige Beschuldigung erhoben wurde – er wurde der Kinderpornographie bezichtigt. Im März 2018 endete dieses Verfahren - so sah es damals jedenfalls aus - mit seinem vollständigen Freispruch. Wir sind sicher, dass die intensive Anteilnahme und die öffentliche Resonanz nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland eine nicht unwesentliche Rolle dabei gespielt haben.

Allerdings erreichte die Staatsanwaltschaft, dass der Freispruch revidiert wurde, und erhob nunmehr eine noch weitergehende Anklage: Dmitriev soll gewaltsame sexuelle Übergriffe gegen seine minderjährige Pflegetochter begangen haben. Offenbar wurde dieses abstoßende Vergehen ausgesucht, weil das Vorurteil, alleinstehende Väter seien potentielle Gewalttäter, sehr verbreitet ist.

Nach all dem, was man dazu lesen konnte, liegt diesem Verfahren ebenso wie schon dem ersten der Wunsch zugrunde, das Gedenken an die Repressionen zu tilgen und mit Dmitriev abzurechnen, der unwiderlegliche Zeugnisse für die dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte ans Licht gebracht hat. Die russischen Machthaber wollen die Geschichte Sandarmochs umschreiben und Dmitriev, der sie erforscht hat, diffamieren und ihm ein monströses Verbrechens zur Last legen.

Wir dürfen dabei den heutigen russischen Hintergrund nicht übersehen – die schleichende Rehabilitierung des Stalinismus… Dmitriev, der die Namen einiger Tausend Bürger von 58 Nationalitäten, die in Sandarmoch erschossen wurden, eruiert und ihnen ein Denkmal gesetzt hat, ist den Behörden ein Dorn im Auge.

Aufgrund der Anklage könnte Dmitriev zu einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren verurteilt werden. Das wäre nicht nur das Ende seiner Forschungsarbeit, sondern ein Todesurteil.

Das zerstörte Schicksal seiner Pflegetochter mag man sich gar nicht ausmalen.

Der Prozess gegen Dmitriev weckt Assoziationen an zwei berüchtigte Strafverfahren, die seinerzeit Europa erschütterten: die Anklagen gegen den Offizier Alfred Dreyfus und gegen Mendel Bejlis. Beide waren politisch motiviert und basierten auf verbreiteten Vorurteilen.

Sowohl für Dreyfus als auch für Bejlis traten bedeutende Intellektuelle aus mehreren europäischen Ländern ein, die von ihrer Unschuld überzeugt waren. Heute setzen sich Bürger, darunter Kulturschaffende und Wissenschaftler unseres Kontinents gemeinsam für die Freiheit und Rehabilitierung Dmitrievs ein. Zwanzig Botschafter europäischer Länder in Russland haben im Herbst 2019 die Gedenkstätte in Sandarmoch besucht und den Opfern des Terrors sowie dem Wirken Dmitrievs die Ehre erwiesen.

Artikel 6 der Europäischen Konvention für Menschenrechte verankert das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Wir sind überzeugt, dass der Prozess gegen Dmitriev mit einem Freispruch enden wird, wenn es denn zu einem fairen Verfahren kommt.

„Alles, was ich will, ist Wahrheit und Gerechtigkeit“ – das schrieb Émile Zola in seinem berühmten Artikel „Ich klage an“.

Die Wahrheit im Prozess gegen Dmitiev – dafür erheben wir hier unsere Stimme.

Sehr geehrte Frau Mijatović, bitte schließen Sie sich uns an!

Gez. Herta Müller, Svetlana Alexievich und Jonathan Littell 

15. Juni 2020

 

 

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