Medizin im Gulag

Eine medizinische Versorgung im Lager umfasste nicht nur Medikamente. In ein Krankenhaus zu kommen bedeutete, für eine gewisse Zeit von übermäßiger Arbeit befreit zu werden, zusätzliche Nahrung und Schlaf zu erhalten. Das erhöhte die Chance zu überleben. Manchmal rettete auch die Kunst und die Barmherzigkeit von Ärzten … Ehemalige Häftlinge berichten.

Drehbuch Video-Interview Medizin im Gulag

Semjon Wilenski – 1948 verhaftet, war in Lagern an der Kolyma. Wladimir Kantowski wurde zweimal festgenommen. Er war in Lagern des Wjatlag und Workuta. Jelena Markowa wurde 1943 verhaftet, sie verbrachte ihre Haftzeit im Lager an der Workuta. Ioanna Murejkene wurde 1945 verhaftet, sie verbrachte ihre Haftzeit in Norilsk und nahm dort an einem Lageraufstand teil. Antonas Nawajtis ist Unterleutnant der Luftstreitkräfte, er wurde 1941 verhaftet und war in Lagern in Norilsk. Simonas Narbutas – 1945 verhaftet, war in Lagern in Komi. Susanna Petschuro wurde 1951 im Alter von 17 Jahren verhaftet. Sie verbrachte ihre Haftstrafe in Lagern bei Inta und Abes sowie im Zentralgefängnis Wladimir. Michail Tamarin wurde zweimal verhaftet, war in Lagern an der Kolyma und in der Verbannung in der Region Krasnojarsk. Juri Fidelgolz wurde 1948 verhaftet und verbrachte seine Haftzeit in Tayschet und an der Kolyma. Alexander Zezulesku wurde 1945 als Kriegsgefangener festgenommen, er war in Lagern in Komi und arbeitete als Lagerarzt.

Alexander Zezulesku
Wir hatten im Lager drei Ärzte. Ich war in der Ärztekommission. Unsere Aufgabe bestand darin, den Blutdruck der Insassen zu messen und zu überprüfen, wie die Pobacken der Insassen aussahen. Wenn man die Pobacken hochhob und diese wie ein leerer Sack zusammenfielen, dann musste der Häftling für einen Monat von den Arbeiten im Bergwerk befreit werden.

Susanna Petschuro
I.O.: Gab es dort irgendeine medizinische Kommission? Wenigstens irgendeine? Wer entschied darüber, ob ein Häftling ins Invalidenlager versetzt wird?
S.P.: Ah ja, es gab eine Kommission, die darüber entschied, wer arbeitsuntauglich oder tauglich für leichte Arbeiten war.
I.O.: Und wie geschah dies?
S.P.: Dort gab es einige Ärzte. Sie begutachteten einen und fragten: “So. Haben Sie Distrophie?” “Ja.” “Haben Sie Skorbut?” “Ja.” Aber sie hörten nie auf einen. “Sind Ihre Beine angeschwollen?” „Ja.“
I.O.: Und wer waren diese Ärzte?
S.P.: Das waren Häftlinge. Alle Ärzte waren Häftlinge. Es gab keine freien Ärzte.

Wladimir Kantowskij
W.K.: Der Arm schmerzte sehr, weil ich mich nicht an die Ärzte wenden konnte. Hätte ich das gemacht, hätte man mich in ein Lazarett gesteckt und von dort sonstwohin.
I.O.: Man hätte Sie wieder in ein Invalidenlager schicken können.
W.K.: Genau. Wer war also mein Chirurg? Ich musste selber an mir rumsezieren. Der Arm schwoll an. Ich hatte aber keine andere Wahl. Die Messer waren gut geschärft, in der Elekroabteilung im Werk gab es immer irgendeinen Ersatz für Alkohol. Damit habe ich die Wunde immer wieder desinfiziert und saubergemacht.

Jelena Markowa
Ich bekam wieder eine Wundrose (Anm.: eine in Lagern verbreitete gefährliche, ansteckende und für den Betroffenen qualvolle Infektionskrankheit) wie bei der ersten Verhaftung im Keller einer Mühle. Meine Körpertemperatur stieg auf 40°C. Auf dem Bein waren rote Muster zu sehen, die an Feuerzungen erinnerten. Das ist ein Krankheitszeichen bei der Wundrose, es heißt „Feuerzungen“. Aja Abramowna, die Lagerärztin, ordnete an, mich in ein Krankenhaus zu schicken, wo keine Zwangsarbeiter wie ich lagen, sondern Häftlinge aus Besserungsarbeitslagern. Und was glauben Sie? Ich durfte nicht in dieses Krankenhaus. Ich war eine Zwangsarbeiterin. Ich hatte die Wundrose, 40°C Fieber und ein sogenanntes Elefantenbein – das ist ein anderes Symptom der Krankheit. In diesem Zustand musste ich also zu Fuß ins Bergwerk Nummer neun gehen. Das waren meine ersten Erfahrungen in diesem Lager.
Wir näherten uns also dem Lager. Ich war krank. Die Frauen nahmen mich in die Mitte unserer Häftlingskolonne. Wäre ich an der Seite geblieben, hätte ich angefangen zu taumeln. Ein Schritt zur Seite und die Wachmannschaft schießt ohne Vorwarnung. Die Wachmänner hätten mich sonst einfach umgebracht. Und so war ich in der Mitte der Kolonne und wurde von anderen Häftlingen mitgetragen. So wurde ich während des Transports gerettet. Als wir in der ersten Lagerzone ankamen und durchgezählt wurden, bin ich vor Fieber in Ohnmacht gefallen. Dann haben sie mich schnell zur Sanitätsstelle gebracht. Ich habe also die Nummer der Lagerabteilung und die Nummer des Bergwerks genannt und fand mich nicht im Bergwerk, sondern in der Sanitätsstelle wieder. Dort wollte man mir übrigens das Bein amputieren. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen. Denn am Bein sah man, dass die Krankheit ihr Spätstadium erreicht hatte, ich bekam dort eine Art Nekrose. Und der Arzt sagte, man müsse das Bein abschneiden. Dabei war ich halb in Ohnmacht, doch ich schrie: „Schneiden Sie es nicht ab! Man muss es behandeln. Ich hatte schon im Gefängnis die Wundrose und ich wurde geheilt.“ Und dann ließen sie es so wie es war, dabei gab es dort keine Medikamente. Die freien Arbeiter im Lager brachten von draußen Antibiotika und sonstige Medikamente. Letztendlich wurde ich doch gerettet und mein Bein wurde nicht amputiert.

Antonas Nawajtis
Ich bekam Zahnschmerzen. Ich ging zum Arzt, es gab einen guten lettischen Arzt namens Latywis Fridmanis. Sein ganzes Werkzeug bestand allerdings nur aus einer Zange, sonst nichts. Er sagte zu mir: “Weißt du, Nawajtis, man muss diesen Zahn ziehen, anders geht es nicht.“ Ich sagte: „Also muss man den Zahn betäuben“. „Es gibt kein Betäubungsmittel. Man muss ihn so ziehen.” “Na gut, wenn es sein muss, mach’s.” Und er fing an meinen Zahn zu ziehen. Er hat den Zahn eingehackt, zog ihn und dieser splitterte und brach. Ich bin zusammengebrochen und fiel zu Boden, Fridmanis stand auch vom Schweiß überströmt da. Später wird es ja nur schlimmer, wenn man das ganze nicht zu Ende bringt. Er nahm eine Arztschere und fing an in das Zahnfleisch zu schneiden. Ich bin in Ohnmacht gefallen, dann führte er mich heraus, wir schöpften etwas frische Luft. Er sagte: „Lass uns weitermachen“. “Nein, ich brauche das nicht. Ich kann nicht, Doktor, ich kann nicht!” Dann ließ er mich unterschreiben, dass ich es verweigerte, dass man mir den Zahn zieht. Abends konnte ich noch gehen. Am Morgen konnte ich den Mund nicht öffnen. Man legte mich in das Lagerkrankenhaus. Am Ende der Woche hatte ich schon mehr als 41°C Fieber. Ich habe meiner Frau schon einen Abschiedsbrief geschrieben. Den Brief habe ich dann einem Flieger [litauischer Name undeutlich ausgesprochen] gegeben. Ich sagte: „Wenn du nach Hause zurückkehrst, gib diesen Brief meiner Frau“.

Simonas Narbutas
Ich bekam starke Brustschmerzen. Ich konnte schon kaum auf die Pritsche klettern. Manchmal konnte ich nicht in die Kantine gehen. Und ich hatte so starke Brustschmerzen, dass ich nicht richtig atmen konnte. Du atmest und je tiefer du einatmest, desto schlimmer schmerzt die Brust. Ich ging zur Sanitätsstelle und sagte, wie es mir ging. Ein Mann, von dem ich später erfahren habe, dass er ein Arzthelfer war, sagte, dass ich kein Fieber hätte. Er sagte: „Das wird von selbst weggehen”. Deswegen musste ich ich am 6. April zur Arbeit gehen. Ich war gerade noch am leben. Der Brigadier hat meine Arbeitsnorm von fünf Meter auf drei Meter reduziert. Das hat er dem Wachmann mitgeteilt. Dann gab man mir die Schaufel. Und wissen Sie, ich konnte sie nicht hochheben. Bei dem Versuch diese Schaufel hochzuheben, hatte ich entsetzliche Schmerzen in der Brust. Ich kann nicht, ich kann nicht. Ich schaufelte den Schnee etwas weg und fiel in diesen Schnee hinein. Der Wachmann schrie: „Steh auf! Sonst werde ich schießen!“ Wenn du schießen willst, dann schieße. Ich war völlig entkräftet. In ein Krankenhaus zu kommen ist ein riesiges Glück. Ich fühlte mich so glücklich über einen möglichen Aufenthalt im Krankenhaus, dass ich wieder in Ohnmacht gefallen bin. Ich war unendlich glücklich darüber, dass ich am nächsten Tag nicht zur Arbeit musste. Man legte mich dann tatsächlich in ein Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass ich Fieber hatte. Ich weiß nicht wieviel, vielleicht zweiundvierzig. Ich bekam Bluthusten. Ich spuckte Blut und sie dachten, das kommt davon, dass ich zusammengeschlagen wurde. Da der Bluthusten aufhörte, schickten sie meine Blutwerte ins Zentralkrankenhaus in Wetlasjan; dann wurde bei mir eine offene Lungentuberkulose festgestellt.

Juri Fidelgolz
Ich erkrankte dort an Tuberkulose und bekam Blutungen in der Luftröhre. Die Ärztin, die die Frau des Lagerleiters war, hatte meiner Ansicht nach einen ähnlichen Bezug zu Medizin wie etwa ich zu irgendwelchen Mondsonden. Die Ehefrau musste auch einen Posten in diesem Lager besetzen und deswegen stand sie auf irgendeiner Liste der Beschäftigten als Leiterin der Sanitätsstelle. Sie sorgte sich nur darum, dass die Häftlinge Krankheiten nicht vortäuschten. Sie war auch bei meiner Untersuchung dabei und das einzige, wovor sie Angst hatte, war, dass ich meine Krankheit simulieren könnte. Ich hatte subfebrile Körpertemperatur, wie alle Tuberkulosekranke. Abends hatte ich also mehr als 38°C Fieber und am Morgen hatte ich keine erhöhte Temperatur. Sie hat mir zweimal – abends und morgens – die Temperatur gemessen. Morgens, als ich kein Fieber hatte, sagte sie zu mir: „Du hast zwei Optionen. Entweder du gehst als Krankheitsheuchler zur Arbeit oder du gehst in den Karzer wegen Verstoßes gegen die Lagerregeln und Arbeitsverweigerung“. Ich ging also zur Arbeit. Kaum fing ich an zu schaufeln, bekam ich wieder Fieber. Bald bekam ich auch wieder starke Blutungen. Ich habe diese Ärztin fast mit Blut angespuckt, das Blut kam schon aus dem Mund. Doch ich wurde aus der Arbeits- in die Invalidenbrigade überführt. Dort wurden jeden Tag die Toten neben mir mit Haken entfernt. Tja, und ich wartete ruhig, bis es mir ebenso erging. Ich wünschte mir, Gott möge mir noch etwas Zeit geben, damit ich liegen und mich von dieser unerträglichen Arbeit erholen könnte.

Michail Tamarin
Eines Tages wurde mir schlecht. Ich erinnere mich puttygen download , wie mir schwindelig wurde und ich stützte mich an einem Pfosten ab. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Als ich anfing zu jammern, näherten sich die Leute. Sie brachten mich in die hölzerne Baracke, die Sanitätsbaracke hieß. Dort kam der Arzt herein, sein Name war Alexej Stepanowitsch Tokmakow. Ein sehr interessanter Mann, er war auch ein Häftling. Er stellte bei mir eine eitrige Blinddarmentzündung fest. Da es dort kein Licht gab, ordnete er den Sanitätern an, die Kerzen anzuzünden. Dann wurde ich in derselben Nacht bei Kerzenlicht operiert. Der Arzt entfernte alles, was nötig war. Nach der Operation wurde ich in ein Krankenzimmer gelegt. Nach einigen Tagen im Krankenzimmer bekam ich Fieber und musste wieder auf den Operationstisch. Die Wunde hatte sich entzündet. Ich habe immer noch eine kreuzförmige Narbe an der Stelle, wo die Entzündung entfernt wurde. Dann kam ich wieder ins Krankenzimmer. Nachts hatte ich hohes Fieber und der Arzt hat mich in den Korridor rausgeschmissen. Sie dachten, ich wäre ein hoffnungsloser Fall. So wurde ich zwei- oder dreimal aus dem Krankenzimmer geworfen und morgens wieder ins Krankenzimmer gebracht. Das Personal wunderte sich, dass mein Herz noch schlug.

Alexander Zezulesku
Ich erkrankte dort an Dysenterie. Ich hatte 39-40°C Fieber. Ich wurde ins Krankenhaus gelegt. Dann kamen Leute, um mich zum Leiter unserer Lagerabteilung Belajew zu führen, an diesen Namen kann ich mich erinnern. Es war so, als kämen die Sklavenhändler, um ihre Gefangenen abzuholen. Belajew sagte zu mir: „Na, Doktor, bist du krank?“ Ich sagte: „Natürlich, ich halte gerade noch durch.“ Man gab mir drei Thermometer in die beiden Achseln und in den Mund – ich hatte mehr als 40°C Fieber. Sie sagten mir: „Beweisen Sie, dass Sie wirklich krank sind.“ Ich fragte: „Wie soll ich das beweisen?“ “Nehmen Sie die Hose runter und beweisen Sie es.“ Man gab mir große Zeitungsblätter. Das war für mich als Mensch und als Arzt eine schreckliche Demütigung, dass sie glaubten, ich würde meine Krankheit vortäuschen. Sie glaubten auch nicht, dass ich Fieber hatte, dass ich ein sterbender Mensch war. Als ich mich mit Blut auf diese Zeitung entleerte, sagte er: „Er ist tatsächlich krank, er ist sicher bald hinüber.“ Ich musste noch eine Woche dort warten, bis mein blutiger Durchfall weg war. Dann wurde ich in Begleitung zweier Aufseher von Uchta nach Workuta geschickt. Wir fuhren 24 Stunden lang. Sie glaubten, dass ein sterbender Mensch kein Essen braucht, deswegen gaben sie mir auch keines.

Ioanna Murejkene
Wir wurden von einer Bauchtyphus-Epidemie gerettet. Eine Frau wurde krank, dann die andere, dann kam die Epidemie. Unsere Baracke wurde ganz verriegelt, denn es waren schon viele angesteckt worden. Wir wurden also abgesperrt, die Fenster wurden vernagelt und die Türen abgeschlossen; als Toilette hat man uns eine Tonne reingestellt. Nur eine Tonne. Zuerst freuten wir uns so. Wir waren froh, von einer so schweren Arbeit befreit zu werden. Aber dann bekamen wir Fieber und Fieberfantasien. Wissen Sie, die Frauen irrten hin und her, einige waren schon bewusstlos, sie wurden abgeholt und irgendwohin gebracht. Wohin wissen wir nicht, sie sind nie zurückgekehrt. Andere konnten die Krankheit überstehen. Ohne Medikamente, ohne alles. Irgendwie haben wir es überlebt.

Susanna Petschuro
In der Siedlung Abes, wo ich später hinkam, war die Sterblichkeit natürlich sehr hoch. Dieses Lager war das schlimmste von allen, denn es war ein Invalidenlager. Dort gab es gar nichts mehr. Das war die letzte Station. Das waren schwerkranke, alte Leute, die nicht nur die letze Hoffnung, sondern jede Vorstellung vom Leben verloren hatten. Für sie gab es kein Leben mehr. Die Sterblichkeit war gewaltig. Die Leute wurden eigentlich gar nicht behandelt. Ich habe eine Zeit lang als Krankenschwester in der Krankenstation gearbeitet. Diese Krankenstation war eine gewöhnliche Baracke mit zweistöckigen Pritschen. Drin waren 300 Leute querbeet mit Typhus, Syphilis, Lungenentzündung, Schizophrenie und Infarkt. So war es dort. Wer nachts stirbt, der stirbt. Wer nicht stirbt, der stirbt vielleicht in der nächsten Nacht, vielleicht überlebt die Person sogar. Und so arbeitete ich dort im Nachtdienst. Die Leute sterben und du sitzt da und weinst, weil du nichts dagegen machen kannst.

Semjon Wilenski
Ich wurde in die Totenkammer gebracht. Durch einen glücklichen Zufall wurde ich von dort herausgetragen. Eine junge Krankenschwester, die zufällig nach Kolyma beordert worden war, wusste nicht, wo sich die Baracke der Sanitätsstelle befand. Sie ging in die Totenkammer hinein und entdeckte plötzlich einen Menschen, der sich bewegte. Ich wurde also noch lebend dort rausgebracht.
I.S.: Sie waren also am Sterben und wurden in die Totenkammer gebracht?
S.W.: Ja. Das Mädchen hat dann Alarm geschlagen, man brachte mich in ihren kleinen Behandlungsraum und sie pflegte mich gesund, ja.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Wiktor Griberman (Riga)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL – Bonn)

© MEMORIAL International 2012

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