Leonid Jakowlewitsch Murawnik erinnert sich: Ein Leben als Landstreicher

L. J. Murawniks Vater war Parteifunktionär. 1937 wurden seine Eltern erschossen. Ab dem 9. Lebensjahr durchlief er verschiedene Kinderheime, aus denen er mehrmals floh und sich als Landstreicher herumtrieb. Er ist Flugzeugmechaniker und Journalist.

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Drehbuch Video-Interview

L. J. Murawniks Vater war Parteifunktionär. 1937 wurden seine Eltern erschossen. Ab dem 9. Lebensjahr durchlief er verschiedene Kinderheime, aus denen er mehrmals floh und sich als Landstreicher herumtrieb. Er ist Flugzeugmechaniker und Journalist.

Verhaftung der Eltern
Nie werde ich vergessen, wie sich Mama von mir verabschiedete. Wir saßen auf einer Bank auf dem Petrowski Boulevard.
Dort auf dieser Bank auf dem Petrowski Boulevard habe ich sie das letzte Mal gesehen. Tränenüberströmt sagte sie mir: „Ljonik, mein Sohn, ich weiß nicht ob ich wiederkomme. Ich will dich nicht belügen.
Niemand wird dir in diesem Leben helfen. Du musst lernen, allein klar zu kommen. Glaube deinen Eltern und das Leben wird dir leichter fallen.“ Wir gingen zur Oma, dort legte ich mich hin, erschöpft und entkräftet, und schlief ein. Als ich aufwachte, war Mama nicht mehr da. Sie war nach Rostow gefahren.
Das Gewissen verbat ihr, nach Sibirien zu fahren: ‚Soll ich etwa meinen Mann im Stich lassen? Ich muss ihn retten.‘ Sie war so naiv.

Versuche, bei Verwandten unterzukommen
Natürlich wartete ich umsonst auf Mama.
Als ich zu Tante Olja kam, sagte sie nachts ihrem Mann, meinem Onkel Kostja: „Wir müssen diesen Gast loswerden. Gott bewahre, wenn die Tschekisten von ihm erfahren, werden sie unsere Söhne verhaften.“ Morgens sagte sie mir: „Ljonja, nach dem Frühstück fährst du zur Oma.“ Ich frühstückte und ging zur Oma, Berta Moissejewna: „Was machst du hier?“ „Tante Olja hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen gehen.“
Denn alle hatten Angst. Oma hatte drei Töchter, und diese drei Töchter versteckte sie irgendwo, damit sie überlebten. Sie befürchtete, dass man ihre Töchter auch …
Sie begriff, dass, wenn mich die Tschekisten fassten, würden auch ihre Töchter darunter leiden. Sie klammerte sich an ihre Töchter. Ihre Töchter waren ihr näher als ihr Enkel.
Alle wurden aus dem Komsomol ausgeschlossen. Oma sagte: “Fahrt sofort weg, raus mit euch!“
Einmal packte mich der Hausmeister am Kragen und sagte: „Ljonka, lauf fort, man ist auf dich aufmerksam geworden. Wo sind deine Eltern?“ Ich antwortete: „Mama sagte, dass sie bald wiederkommt.“ „Deine Mama wird nicht zurückkehren.“

Die Kinder-Sammelstelle des NKWD im ehemaligen Danilow-Kloster
Ich schlief schon, als wir die „Danilowka“ erreichten. Man führte mich in die rechte Apsis, brachte mir eine Matratze, eine Art mit Heu gefülltes Kissen, und einen Lappen. Als wohlerzogener Junge zog ich meine Samtjacke und die Hose aus und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen, als wäre nichts vorgefallen, wurden wir in den Speisesaal geführt, wo man uns Buchweizengrütze mit Fleisch vorsetzte. Das war die Spezialität des Hauses. Lecker zubereitet, klumpig, nicht körnig, sondern ein verklumpter Brei mit Fleischstücken. Die obdachlosen, ausgemergelten Kinder leckten die Schüsseln ab. Aber wir bekamen keinen Bissen von diesem Fleisch und diesem Brei herunter. Wir befanden uns in einem Zustand der Erschöpfung. Wir konnten an nichts denken, uns an nichts erinnern. Als würden wir in Wirklichkeit gar nicht existieren.
Eines Nachts wurden 15 von uns geweckt, und wir mussten uns aufstellen. Dann wurden wir in ein Auto gesteckt, auf dem stand „Innereien“, und man fuhr uns zum Bahnhof.
Auf dem Weg zum Bahnhof sagte ein Mädchen: „Wohin fährt man uns, zum Töten?“ Ich erinnere mich an diese besorgte Stimme des Mädchens. Dann kamen wir in einen Waggon und der Zug fuhr los. Unser Wächter war sehr gut. In seiner Revolvertasche hatte er Machorka anstelle einer Waffe.

Das Kinderheim in Genitschesk
Jeder dachte so bei sich: ‚Wohin führt uns das Schicksal?‘ Auf jeden Fall nicht ins Gefängnis, sondern ins Kinderheim. So gelangten wir zu diesem Kinderheim. Und fast alle seine Bewohner erwarteten uns bereits.
Wir kamen in Quarantäne. Kaum drinnen, kam kurz darauf ein 15-jähriger hochgewachsener, braungebrannter, muskulöser Kerl herein und sagte: „Ich heiße Kandyba. Ich bin der Anführer dieses Kinderheims. Und von nun an werdet ihr euch nur mir unterordnen.“
„Vergesst die Vergangenheit. Ihr habt keine. Ich werde euch erziehen. Ihr werdet Ganoven, und in einem Monat nehme ich auch als Ganoven auf. Was ist ein Ganove? Ein Ganove muss Raub und Taschendiebstahl beherrschen. Wenn ihr das erlernt puttygen download , habt ihr ein leichtes Leben. Ihr werdet satt sein und so weiter und so fort.“
Was also haben uns die Kinderganoven beigebracht? Wir gingen zum Hafen, ließen Fassreifen mitgehen, die wir gerade bogen und anschliffen, um daraus Säbel zu machen. Nachts zogen wir mit dem Säbel los. Auf den Dachböden hing Störfleisch. Es war so saftig und appetitlich! Wir also „ritsch“, und die Beute fiel „plumps“ runter. „Ritsch“ und wieder fiel etwas runter. Wir versteckten es und ab ging es ins Kinderheim.
Dieser Kandyba hatte engen Kontakt zum NKWD. Zwar konnte er kaum schreiben, aber es fand sich immer jemand, dem er etwas diktieren konnte, und die erzählten uns später davon. Er schrieb in seinen Berichten darüber, wo und was wir waren, wohin wir gingen, wenn wir die Schule schwänzten, worüber wir sprachen und so weiter.

Flucht. Das Kinderheim in Cholm
Nach einer Beratung beschlossen wir 1940 zu fliehen.
Wir gingen zur Arabatka, wo Eisenbahnwagen standen, die mit Sand für die ukrainischen Eisenwerke beladen wurden. Wir verstecken uns im Sand und flohen so aus dem Kinderheim in Genitschesk. Als wir in Saporoschje ankamen, gingen wir natürlich zuerst zum Markt. Nicht umsonst hatte uns Kandyba beigebracht, wie man sich Essen besorgt.
Schmand, Brot und Fladen besorgten wir uns durch Diebstahl. Und am Fuße des Staudamms vom Dnepr-Wasserkraftwerk hatten wir unser Versteck, wo wir unsere Beute verspeisten, denn wir hatten fast 24 Stunden nichts gegessen. Und hier wurden wir nachts von der Miliz überrascht.
Von dort ging es ins nächste Kinderheim nach Cholm. Dort begann ein neuer Abschnitt unserer Kindheit. Das war ein gutes Kinderheim, ohne Anführer, mit einer Heimleitung. Viele Kinder, deren Eltern verfolgt wurden, waren hier, und man behandelte sie sehr gut.

Krieg und Evakuierung in den Ural
Als der Krieg ausbrach, rief man uns zusammen und sagte uns: „Kinder, der Staat hat uns aufgezogen, wir müssen unserem Staat danken und patriotisch handeln.“ Und es setzte eine massenhafte Flucht aus dem Kinderheim an die Front ein.
Sascha Schaljapin war ein Heimkind, sein Vater wurde als Kulak verfolgt. Aber zu Kriegsausbruch floh er aus dem Kinderheim an die Front und wurde Held der Sowjetunion.
Sina Tkatschenko floh auch an die Front. Sie war unsere Pionierleiterin, und sie mochte uns alle sehr, uns Kinder, deren Eltern verfolgt wurden. Sie sagte offen: „Ihr seid der Stolz unseres Kinderheims.“
Dann ging der Direktor wieder von Gruppe zu Gruppe.
Und sagte: „Kinder, ich habe eine Bitte. Lauft nicht mehr fort! Wir haben viele Kleinkinder und nur wenige ältere Kinder. Wir kommen mit den Kleinen nicht mehr zurecht!“ Sie wurden in Wagen gefahren, da viele noch nicht laufen konnten.
Und unser Kinderheim wurde in den Ural evakuiert.
Es gab nichts zu essen und wir begannen wieder mit unseren Betrügereien, stiegen in Dachböden ein. Das war ein sehr reiches Dorf. Aber dort wurden nicht nur die Dachböden versperrt, wo die halbfertigen Pelmeni in Säcken lagerten, sondern auch die Brunnen. Sie wollten uns Heimkinder nicht bei sich haben. Mit Heimkindern verbanden sie minderjährige Straftäter, und sie befürchteten, dass man ihnen alles stehlen würde. Aber sie bekamen doch Gewissensbisse als man ihnen erklärte, dass die Kinder hungern würden und sich nicht auf den Beinen halten könnten.
Im Winter stellten wir uns auf dem Schulhof auf und es wurde ein Markt veranstaltet. Aus dem ganzen Bezirk kamen Lehrer, Ärzte, Kolchosbauern und Arbeiter, um Kinder auszuwählen und sie unter ihre Fittiche zu nehmen. Ich kam zu einer Lehrerin, die Parteifunktionärin war.
Ich dachte: ‚Wenigstens kann ich mich hier satt essen.‘ Aber sie sagte: „Sitz nicht auf dem Sofa, das ist für Gäste, genauso wie die Stühle, die sind weich. Setz dich auf den Schemel.“
Sie bezeichnete uns als „verzogen“. Also rannten Kulesch und ich wieder fort.

Im Betrieb
Wir landeten dann im Werch-Issetski-Werk an den Siemens-Martin-Öfen. Wir waren natürlich zu schwach, um die Schaufel mit Schamott zu beladen und diesen 8 Meter weit in den Ofen zu werfen. Und Gusenko, ein Stahlwerker, sagte: „Um hier zu arbeiten, muss man Speck mit Butter essen.“ Aber wir bekamen nur sehr wenig zu essen. Das Gesetz war drakonisch: wer zu spät kam, erhielt keine Essensmarke.
Und mein lieber Freund Kulesch bekam ein Geschwür. Die ganze Zeit war ihm kalt und er war hungrig, aber vor allem war ihm kalt. Als er am Schlackehof vorbeilief, wo die Ofenschlacke gesammelt wurde, hockte er sich hin, um sich etwas zu wärmen, verlor das Bewusstsein, fiel in die glühende Schlacke und verbrannte. So verlor ich meinen Kuleschik.

Flucht nach Taschkent
Meine Reise begann am Kasaner Bahnhof und dauerte fast einen ganzen Monat. Ich fuhr nach Taschkent. Sie wohnten in der Stadt Tschirtschik. Der Bruder meines Vaters war dort leitender Ingenieur. Aber meiner Oma gefiel mein Kommen gar nicht. „Oma, was ist los? Weshalb?“ „Du trägst ein Mal.“ „Welches Mal?“ „Wenn dein Onkel erfährt, dass du da bist, wird er sehr schimpfen.“
In diesem Kombinat arbeiteten 170 Tausend Häftlinge. Mein Onkel war der Direktor dieses Kombinats.
Im Betrieb durfte ich nicht arbeiten. Ich hatte keine Dokumente. Ich trieb mich dort herum, bis mich die Miliz in Untersuchungshaft nahm. Einige Zeit später war mein Gerichtsprozess, wo man mich und weitere Obdachlose, von denen es viele gab, wegen Landstreicherei verurteilte. Auf dieses Vergehen standen 2 Jahre Haft. Aber als die Richterin mein Urteil verlas, sagte sie: „Der Junge bekommt Bewährung.“
„Ich weiß, wo dein Vater ist, deshalb bringe ich dich nicht in Not. Ein guter Bekannter wird sich um dich kümmern.“ Dieser gute Bekannte war der Major Besuglow.
Es gab drei Militärschulen: für Artilleristen, Panzerstreitkräfte und Flieger. Und er fragte mich: „Auf welche willst du?“ Und ich antworte: „Zu den Fliegern.“ So ging ich zur Fliegerschule.
Ich wurde als Unteroffizier entlassen und kam ins Jagdregiment auf die Tschuktschen-Halbinsel. Zuerst war ich auf Sachalin, anschließend auf der Tschuktschen-Halbinsel. Dort diente ich bis 1951.
Als ich nach der Wehrzeit nach Moskau kam, trug ich eine gute Fliegeruniform mit Taschen. Das stand einem Unteroffizier eigentlich nicht zu.
Ich ging zu einer anderen Tante, zu Tante Olja. Sie sagte: „Ljonja, meine Kinder sind im Krieg gestorben. Wir hatten große Angst um sie, als deine Mutter dich hierher brachte. Du wohnst abwechselnd bei uns und bei Oma. Wir hatten große Angst. Aber jetzt haben wir nichts mehr zu befürchten.“ Stalin lebte damals noch. Das war im Herbst 1951.
Als ich nach Orjol kam, sagte meine Oma: „Ljonja, du bist aus Moskau gekommen. Weißt du denn nicht, dass hier alle sagen, dass es weitere Verhaftungen geben wird? Und diesmal haben sie es vor allem auf die Kinder jener Häftlinge abgesehen. Und bei dir wurden Vater und Mutter verhaftet. Fahr zu meiner Schwester nach Liwny, in der Provinz bist du vor der nächsten Verhaftungswelle sicher.“

Perestroika
Die 1990er-Jahre haben mein Leben natürlich verändert. Als die Demokratiebewegung begann, trat ich „Memorial“ bei. Viele meiner Vorstellungen haben sich geändert. Ich begann, jene Bücher zu lesen und begriff die Zusammenhänge besser.
Ich begriff, dass es sich nicht um soziale Verwahrlosung handelte, dass es nichts zu tun hatte mit trinksüchtigen Eltern oder getrennten Familien. Die sozialen Gründe waren nur vorgeschoben. Nein, hierbei handelte es sich um eine lupenreine verbrecherische Staatspolitik in Bezug auf die Kinder.
Und diese Kinder, diese kleinen Diebe, waren Kinder von deklassierten entkulakisierten Bauern. Und wir waren die Kinder von politisch Verfolgten.

Drehbuch:
Aljona Koslowa (MEMORIAL – Moskau)
Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrei Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Prieß (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites, Berlin)

Übersetzung und Untertitel:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL – Berlin)

© MEMORIAL International 2012

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