Juri Fidelgolz erinnert sich: Ich fühlte mich als Sowjetmensch

Juri Fidelgolz wurde 1948 verhaftet, der antisowjetischen Propaganda und Agitation sowie der organisierten konterrevolutionären Tätigkeit beschuldigt und zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Er ist Bauingenieur und lebt heute in Moskau.

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Drehbuch Video-Interview

Juri Fidelgolz wurde 1948 verhaftet, der antisowjetischen Propaganda und Agitation sowie der organisierten konterrevolutionären Tätigkeit beschuldigt und zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Er ist Bauingenieur und lebt heute in Moskau.

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Ich wurde 1927 in Moskau geboren und wuchs in einer – nach sowjetischem Verständnis – normalen und unpolitischen Familie auf.

Nach Schulabschluss besuchte ich die Vorbereitungskurse des Stahl-Instituts.

Und dort lernte ich meine künftigen Komplizen kennen: Walentin Sokolow und Boris Lewjatow.

Uns schien, dass möglicherweise nicht alles gut war und wir besprachen dies auf unsere Weise, es war kindliches Geschwätz.

Dass wir mit dem Kommunismus eigentlich eine großartige Ideologie hatten und dennoch nicht so gut lebten.

Anhand der besten Beispiele der russischen Literatur wussten wir, dass der Freiheitsgedanke darin immer hervorstach, von Puschkin bis zu den späten Werken des Silbernen Zeitalters. Und plötzlich diese Grenzen, diese grimmige Zensur. Uns kam das merkwürdig vor und in unseren Gesprächen ließen wir diese Kritik zu. Unsere Gespräche und Tagebuchaufzeichnungen – wobei die Aufzeichnungen hauptsächlich von mir stammten – wurden später als Beweis meines Antisowjetismus den Untersuchungsrichtern zur Anklage vorgestellt.

Ich besuchte später die Schauspielschule, während Boris Lewjatow und Sokolow zur Armee gingen.

Ich studierte und fühlte mich als normaler Sowjetmensch und plötzlich – kurz nach Unterrichtsschluss – hielt ein Auto. „Fidelgolz?“, „Ja, das bin ich.“ „Folgen Sie uns.“ Merkwürdigerweise wurde ich im PKW zur Kropotkinskaja Straße und dort – wie ich erst später erfuhr – in die Abteilung für Spionageabwehr gebracht. Davor hatte mir der Leutnant, der mich dorthin fuhr, gesagt: „Keine Sorge, wir müssen etwas klären und dann können Sie wieder gehen.“ Ich wurde in das Untersuchungszimmer im Erdgeschoss gebracht und das Verhör begann.

Und sofort begann er, mich wüst zu beschimpfen, mit Flüchen zu erniedrigen, mich zu entwürdigen.

Offenbar gefielen ihm meine Antworten nicht besonders. Aber was sollte ich schon sagen? Woran hätte ich mich erinnern sollen? Ich hatte doch schon alles vergessen. Mich beschäftigte etwas völlig anderes: Kunst, Theater, mein Rollenstudium usw. Meine früheren Gespräche mit Boris und Sokolow hatte ich bereits vergessen.

Der zweite Untersuchungsführer, Maximow, ein Grobian, wedelte mit den zwei Heften, die meine Aufzeichnung enthielten. Ich erkannte sie sofort: Notizhefte im schwarzen Stoffeinband. Als ich noch Tagebuch führte, schrieb ich darin meine Gedanken nieder. Später gab ich es auf und die Hefte lagen bei mir zu Hause. Und niemand erinnerte sich an sie. Auch ich hatte sie vergessen. Sie lagen einfach rum. Und er fuchtelte mit den zwei Heften vor mir herum und sprach: „Hier! Du hast darin geschrieben. Nun wissen wir, wes’ Geistes Kind du bist. Reines Gift, Antisowjetismus. Hier, Soschtschenko, hier, Achmatowa!“ Und las mir meine eigenen Auszüge vor. „Diesmal kommst du nicht davon. Wir legen jetzt eine Akte über dich an.“
Ein Protokoll wurde erstellt, und in einem Militärbus fuhr man mich ins Butyrka-Gefängnis. Die beiden Wachmänner, die den Wagen fuhren, führten folgendes Gespräch: „Wer ist das?“ „Ein Spion wahrscheinlich, oder ein Feind der Sowjetunion, ist doch egal!“ „Glaubst du, er hat noch lange zu leben?“ „Nichts da, mit denen gibt’s kein Federlesen. Da wird einmal hingelangt und dann ist es aus.“ Solche Gespräche führte man in meinem Beisein.

Wir kamen am Butyrka-Gefängnis an. Das dunkle, finstere Tor öffnete sich wie eine Muschel und ich fühlte, wie diese Muschel hinter mir wie einem gefangenen Wurm zuschlug.

Dort übergaben mich die Begleitsoldaten den Blaukitteln. Damals trugen die Wärter des Butyrka-Gefängnisses solche fettigen blauen Kittel.

Ich wurde am so genannten Bahnhof aufgenommen. Dort war die Aufnahme, von dort wurden Gefangene auf Transport oder ins Gericht geschickt, alles auf dem Bahnhof. Auf dem Bahnhof gab es Boxen. Dort saß ich zunächst ein. Eine Box war für 5 bis 6 Personen vorgesehen. Die Boxen waren sehr hoch und fast bis zur Decke mit Glaskacheln ausgelegt. Und als man mich in so eine große Box einsperrte, schaute ich mich um und sah, dass jemand in eine Kachel eingeritzt hatte: „Freund, glaube mir: Einst weicht die Nacht.“ Und ich dachte: „Ich bin auch Dekabrist. Also gibt es in diesem Land neben dem Schreiber einen neuen Dekabristen.“

Später kam ich in eine Einzelbox. Der Unterschied zur Gemeinschaftsbox bestand darin, dass man dort nur sitzen oder stehen konnte, wie in einer Federmappe.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie viel Zeit ich in dieser Box verbrachte. Manchmal wurde ich zum Austreten hinausgeführt. Gegessen wurde aus einem Napf. Ich aß gar nichts, hatte keine Lust, trank nur so eine Brühe. Und dann trübte sich mein Bewusstsein, weil die Schmerzen unerträglich waren, ich erstarrte dort.

Danach brachten mich andere Wärter – ich glaube, es war ein älterer Herr im blauen Kittel – in ein Labor. Dort wurden meine Fingerabdrücke genommen. Die Finger wurden eingeschmiert und dann wurde an beiden Händen von jedem einzelnen Finger der Abdruck genommen. Danach wurde ich im Profil und von vorn fotografiert, kurz das ganze Programm.

Ich begriff, dass ich in etwas Schlimmes hineingeraten war, als ich derart bearbeitet wurde. Danach führte man mich durch Gänge. Das Butyrka-Gefängnis ist riesig, ich hatte nicht geahnt, dass es so viele Gänge von einem Treppenhaus zum anderen gab. Alle Treppenaufgänge waren vergittert. Entgegenkommende Wärter mit Häftlingen lassen die Schlüssel gegen ihre Schnallen scheppern. Ich muss mich mit dem Gesicht zur Wand drehen, während der andere Gefangene vorbeigeht. Das war das erste, was ich in den Fluren des Butyrka-Gefängnisses sah. Danach wurde ich wieder in eine Zelle gesteckt. Aber diese Zelle – ich sah so etwas zum ersten Mal und es war unvergesslich – nannte sich „weiche Zelle“. Offenbar war sie für jene bestimmt, deren Nerven oder psychischer Zustand durch die Haft Schaden genommen hatten, die tobten; und deshalb wurden sie in so eine Weichzelle gesteckt. Auch dort konnte man nur sitzen oder stehen und alle Wände waren mit einer Art gepolstertem Kunstleder verkleidet.
Ich konnte mir nichts antun, wenn ich mich z.B. umbringen wollte, indem ich mit der Stirn gegen die Wand stieß, weil dort alles weich war.

Später führt man mich nach oben, die schwere, blechbeschlagene Zellentür mit Durchreiche und Spion wurde geöffnet und man sagte mir: „Eintreten. Dort ist die Pritsche, hinlegen.“ Mir wurde erklärt, was erlaubt und was verboten war. So durfte man tagsüber sitzen, aber sich nicht hinlegen. Und zur Nachtruhe musste man sich so hinlegen, dass man Hände und Gesicht durch den Türspion sehen konnte. Das waren die Bedingungen. Bei Verstoß drohte der Karzer. Dort war alles sehr streng. Für die Notdurft gab es einen Abortkübel. Ein Waschbecken gab es, an dem man sich waschen konnte. Morgens, mittags und abends wurde die kleine Durchreiche geöffnet und ein Napf mit Alulöffel zum Essen durchgesteckt.

Während der Verhöre musste ich in einigem Abstand vom Tisch auf einem Hocker sitzen. Der Hocker durfte nicht näher an den Tisch gerückt werden, an dem der Untersuchungsführer saß. Manchmal öffnete er das Fenster. Das Verhörzimmer befand sich in den oberen Stockwerken der Butyrka und ich hörte die Straße, das Fenster führte zur Straße. Ich hörte das Geklapper der Damenabsätze, Gespräche, das Klingeln der Straßenbahnen, das Hupen der Autos, und für mich war das wie Musik. Und wenn er das Fenster schloss, dann verstummte alles und ich verzweifelte deshalb. Ich wollte dieser Musik der Straße, der Freiheit weiter zuhören, diesen Atem spüren.

Und dann kam Major Maximow und sagte: „Hör zu, du bist eine Laus auf dem Körper unseres Landes, ein Parasit. Wir werden dich vom Volkszorn abschirmen. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, würde man dich wie einen Volksfeind in Stücke reißen, bis nichts mehr von dir übrig bliebe. Wir beschützen dich, du kannst uns dankbar dafür sein, dass wir dich vor dem Volkszorn beschützen.“

Wir warteten wohl 2 Monate auf unser Urteil. Auf Papyruspapier, dafür gab es ein spezielles Formular.

Also, Juri Lwowitsch Fidelgolz, geboren am…, nun es wird alles genau beschrieben. „Schmiedete ein verbrecherisches Komplott und gründete eine Gruppe“, ich gründete und Lewjatow gründete auch eine Gruppe, wir alle waren Begründer von Gruppen, verstehen Sie.

Immer wieder habe ich diese Träume. Manchmal sogar unwillkürlich. Plötzlich kommen sie download putty , führen mich ab, wieder verurteilen sie mich zu einer Haftstrafe. Und ich fühle: „Lieber Gott, ich habe doch schon gesessen. Genug!“ Und wieder bin ich dran. Das ist so eine schreckliche Qual. Ich wache auf und manchmal denke ich: „Vielleicht ist das, was ich jetzt erlebe ein Traum? Und der Traum, den ich sah, ist Realität.“ So eine Verwirrung.

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL – Berlin)

© MEMORIAL International 2011

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