Edem Abdulaewitsch Orazly wurde 1930 im Dorf Kozy auf der Krim geboren. 1944 wurde er als Krimtatare wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit nach Usbekistan deportiert. Er wurde rehabilitiert und lebt heute in Moskau.
Edem Abdulaewitsch Orazly wurde 1930 im Dorf Kozy auf der Krim geboren. 1944 wurde er als Krimtatare wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit nach Usbekistan deportiert. Er wurde rehabilitiert und lebt heute in Moskau.
Kriegsbeginn
Ich heiße Edem, Edem Abdulaewitsch, der Nachname lautet Orasly, O-ras-ly. Ich wurde 1930 auf der Krim geboren. Meine Vorfahren, mein Vater und meine Mutter stammen aus dem Bezirk Sudakskij, das Dorf heißt Kozy. Ich ging dort in die fünfte Klasse, als man 1941 plötzlich verkündete, dass der Krieg begonnen hatte. Können Sie sich an das Lied erinnern? – „Um 4 Uhr des 22. Juni wurde Kiew bombardiert – uns wurde erklärt, dass der Krieg ausgebrochen ist“ Und was glauben Sie? Der Krieg hatte im Juni erst angefangen und schon im Oktober haben die Deutschen die Krim erobert. Mein Vater wurde direkt an die Front geschickt, ich blieb mit meiner Oma. Meine Oma sagte zu mir: “Enkelchen, deine Tante ist ganz alleine, lass uns doch zu ihr umziehen, du gehst ja ehe nicht zur Schule”. Wir lebten ja unter der deutschen Besatzung. Ich zog mit meiner Oma, meiner Tante und ihrem Sohn in das Haus in Solnetschnaja Dolina zusammen. Das schlimmste nicht nur für mich sondern auch die anderen Bewohner des Dorfes war, dass wir zweieinhalb Jahre lang unter der deutschen Besatzung lebten. Sie haben uns sehr schlimm behandelt.
Wir wurden von allen Seiten umzingelt. Es war natürlich sehr schwer, aber wir haben überlebt. In der Ferne haben wir…ja…unsere Panzer gesehen! Dann kamen unsere Befreier näher, wir küssten und umarmten sie. Das war am 13. April – ich erinnere mich genau. Am 13. April wurde unser Dorf befreit. Dann kam eine schöne Zeit. Das glücklichste für mich war, dass ich schon in den ersten Tagen einen Brief von meinem Vater bekam. Er erzähle darin, dass er zum Offizier befördert wurde, am Anfang war er ja nur Soldat.
Deportation
Am 13. April wurden wir durch unsere Streitkräfte befreit und am 18. Mai fing auf den Befehl Stalins unsere Deportation an. Wie das vor sich ging, werde ich genauer erzählen. Das ist eine echte Tragödie. Am 17 Mai, kurz vor dem Anfang der Massenverfolgungen, haben sie die Häuser aufgesucht. Ja, eine Autokolonne hielt an, es stiegen größtenteils Soldaten aus. Wir haben nichts verstanden. Als ich aus dem Haus heraus bin, stand da ein Offizier und sprach mit meiner Oma. Sie verstand kein Russisch. Der Offizier fragte, wieviele Menschen im Haus leben und sie antwortete auf Tatarisch.
Als ich zurückkam, stand der Offizier wieder da. Die Oma sagte zu mir:
„Der kommt schon zum zweiten Mal, frag mal was er will“. Wir fanden, dass er sehr unfreundlich dreinblickte. Ich fragte: „Was wollen Sie?“.
- Wohnen Sie hier?
- Ja.
- Und wer wohnt sonst noch hier?
- Wir wohnen hier.
- Wer ist denn wir, wieviele seid ihr?
- Ich, meine Tante, ihr Sohn Sitibram und die Oma.
- Ihr seid also zu viert? Zwei Kinder und zwei Erwachsene?
- Ja.
Er schrieb es auf und ging weg. Das ist alles. Dann ging er zu den Nachbarn. “Was wollte er?” – fragte die Oma. Ich sagte: „Ich weiß nicht, er fragte wieviele Leute hier wohnen“. „Vielleicht kommt noch eine Armeeeinheit, und muss einquartiert werden“, vermutete die Oma.
Am nächsten Tag um drei Uhr nachts hörten wir jemand laut an unsere Tür klopfen. Man klopfte sehr stark. Vielleicht mit einem Stiefel oder einem Gewehrkolben. Die Oma sagte: “Wer klopft denn da?” Sie öffnete nicht und fragte auf Tatarisch: “Wer ist da?“
-Öffnen Sie die Tür, schnell!
Ich sagte: “Oma, das sind unsere Leute, nicht die Deutschen” – sie dachte, die Deutschen wären zurück. Wir öffneten die Tür. “Was wollen Sie?” – fragten wir. Es war dunkel, es gab ja keinen Strom. Meine Tante, die inzwischen aufgewacht war, hielt die Öllampe in der Hand. Ein Offizier, kein Soldat, ging in die Wohnung herein. Er wurde von zwei Soldaten mit Maschinenpistolen begleitet. Sie sagten: „20 Minuten, um euch fertigzumachen. In 20 Minuten müssen alle fertig sein.“ Wir verstanden immer noch nicht, was los war. Die Oma: “Was hat er gesagt?” Ich sagte: “Oma, vielleicht hat es ein Erdbeben gegeben und wir haben es nicht gehört, vielleicht gibt es wieder Kämpfe?” Wir verstanden gar nichts.
- Beeile dich, wir haben ja nur 20 Minuten.
- Was soll ich denn mitnehmen?
„Nimm etwas zum Essen mit“ – sagte die Oma. Sie legte ihr Tuch auf den Boden und legte das Essen hinein. Das war’s. Nach 20 Minuten kam der Offizier. Wir waren etwas langsam, meine Tante weinte. Sie war schon einmal im Exil und fühlte, dass etwas nicht in Ordnung war. Wir wurden herausgetrieben. Die Haustür blieb offen.
Das ganze Dorf wurde in den Kolchos-Stall getrieben. Der Stall war von einer großen zwei Meter hohen Mauer umgeben. Vor dem Eingang stand ein Wachmann. Für den Fall, dass jemand weglaufen sollte, wurde auf der kleinen Anhöhe ein Maschinengewehr aufgestellt. Wir wussten alle nicht, was jetzt kommt. Wir haben uns alle gegenseitig beruhigt, man schütze uns sicher nur vor Kämpfen oder so. Es war natürlich ganz anders, es gab eine Anordnung, uns aus diesem Gebiet auszusiedeln. Die Leute wurden geweckt und konnten in 20 Minuten ja kaum etwas mitnehmen. Dann kamen die Lkws der seltenen amerikanischen Marke Studebaker, Anderthalb und Drei-Tonner, die mit Menschen beladen wurden. Man schrie: „Steig du dort ein!“ Wenn man eine Sache zu viel hatte, wurden sie einem aus den Händen gerissen. In unserem Lkw waren 48 Menschen, wir fuhren im Stehen und mussten uns irgendwie aneinander halten. Es war ja unmöglich dort zu sitzen, verstehen Sie?
Transport nach Usbekistan
Wir warteten. Wir hatten Angst. Da wurden einige Familien zusammengetrieben, vielleicht fünf oder zehn. Die Menschen wurden auf die Autos eingeteilt. Da sagte die Tante: “Lasst uns doch zusammen fahren!” Darauf sagte ein Soldat: „Nein, es ist nicht erlaubt! In Feodossija schauen wir weiter. Ihr werdet nach Feodossija gebracht.” Wir wollten meinen Cousin mit reinnehmen. Die Leute waren schon in den Autos, das Gepäck aber nicht. Sie sagten, die Wagen seien schon zu voll. Die Leute baten die Soldaten: „Geben Sie uns bitte das Gepäck“. „Nein, es ist schon zu voll!“
So haben sie uns erniedrigt. Das waren die Leute von Berija, die da am Werk waren, sie waren mit Abstand die schlimmsten. Es war schrecklich! Der ganze Hof war voll von Gepäck. Wenn jemand von den Deportierten noch etwas dabei hatte, wurden die Sachen von den Soldaten aus den Händen gerissen und auf den Boden geschmissen. Vielleicht wollten die Soldaten die Sachen für sich haben. Ihre Aufgabe war es die Menschen zu verladen. Schrecklich! Und die Leute haben nichts verstanden, das war ein echter Alptraum an diesem Tag.
Wir kamen nach Feodossija. Das war am Abend des 18. April. Das Auto fuhr im Rückwärtsgang an einen offenen Eisenbahnwagen. Sie sagten uns: “Umsteigen!” Der alte Mann, der nicht gehen konnte, wurde als erster in die Ecke geschleppt. Es wurde dunkel, der Waggon wurde zugeschlossen. Sitzen war unmöglich, denn in diesem kleinen Wagen wurden 48 Menschen eingesperrt.
Wir fuhren. Jemand musste auf die Toilette. Die Tür war fest zugeschlossen. Wir schrien, aber das hat niemanden interessiert. So fuhren wir weiter. Wir haben erstmals bei Saratov etwas zu Essen gekriegt. Dort warf man uns, 48 Menschen, 6 Leibe Schwarzbrot in den Waggon.
Wir fuhren 25 Tage lang von der Krim bis nach Zentralasien, bis zur Oblast Taschkent. Unser Ziel hieß Bahnhof Begowat und der Ort, zu dem wir transportiert wurden, hieß FVZ Nr. 1, Abteilung Nr. 3 FVZ steht für Ferne Verbannungs-Zone. Zuerst wurden wir aus dem Zug rausgeworfen und lebten irgendwo unter den Bäumen. In der Nähe gab es ein Teehaus und einen Teich. Neben dem Teich wuchsen Bäume, unter denen wir übernachteten. Wir haben niemanden interessiert.
Es tauchte sogar ein Gerücht auf, dass Stalin über unsere Deportation berichtet wurde und er soll gesagt haben: “Was für eine Schweinerei, bringt alle zurück!” Vielleicht wurde das Gerücht absichtlich lanciert, damit die Leute nicht zornig werden. Verstehen Sie? Es gab wirklich so ein Gerücht. Von Stalin wurde stets wie von einem sehr guten, lieben Mann gesprochen.
Das erste Jahr war unglaublich schwer. Warum? Es gab keine Lebensmittel und keine Kleidung. Es war Krieg und wir kümmerten niemanden. Die lokale Bevölkerung hat auch gelitten, die Angehörigen waren an der Front, die materielle Lage war schlecht. Ich war ein kleiner Junge und versuchte das Überleben meiner Familie zu sichern.
Ich sah wie Leute vor Hunger und vor Krankheiten starben. Es wütete eine schreckliche Malariawelle. Ansonsten starben die Menschen vor Hunger. Wir lebten neben einem Krankenhaus, das insgesamt 20 Liegeplätze hatte. Alle Gänge im Krankenhaus und alle Wiesen drumherum waren voll von Menschen. Alle warteten auf den Arzt, der mit den Leuten sprach. Es gab aber keine Medikamente. Die Leute starben. Der Ort war für eine so große Anzahl von Leichen nicht ausgelegt. Man errichtete eine Art Erdhütte, deckte sie zu und legte die Leichen hinein. Jeden Tag fuhr ein Usbeke, der Irgasch-Aka hieß, einen Berg von Leichen auf einem einäugigen Ochsen weg. Die Leichen waren zugedeckt, aber Arme und Beine ragten in alle Richtungen aus dem Wagen heraus. Man grub einen Graben aus, er warf die Leichen hinein, schüttete ihn zu und fuhr zurück. Im ersten Jahr sind sehr viele gestorben. Sie starben vor Hunger und Krankheiten. Es wird angenommen, dass im ersten Jahr 50% der deportierten Krimtataren starben. Es gab niemanden, der diese Leute behandelte, man ließ sie einfach sterben.
Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL – Moskau)
Kamera:
Iwan Kupzow (Moskau)
Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL – Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)
Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL – Bonn)
© MEMORIAL International 2011