Arbeit in den Lagern

In allen Betrieben der UdSSR hingen Plakate mit den Worten Stalins: “Arbeit in der Sowjetunion ist eine Sache der Ehre, des Ruhms, der Tapferkeit und des Heldentums!” Den Zynismus dieser Worte spürten in voller Härte die Häftlinge der stalinistischen Lager, deren Arbeit in Folter und unendliche Erniedrigung umgewandelt wurde. Davon erzählen sie hier.

Drehbuch Video-Interview Angst

Wer den Stalinismus nicht erlebt hat, kann kaum verstehen, wie Millionen völlig unschuldiger und regimetreuer Menschen den Repressionen massenhaft zum Opfer fielen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass im Zuge des Stalinismus sich Angst über das ganze Land legte und jede Unmutsäußerung im Keim erstickte. Es galt, die Leute zu verängstigen, um sie gefügig zu machen. Diese Furcht setzte sich fest und tötete alle natürlichen Gefühle: Mitgefühl, Mitleid, Menschenwürde, sie marterte die Seelen und lähmte den Willen.

———-

Wera Brussarska (geb. Galkowskaja) 1943 in Elgen, Gebiet Magadan geboren. Dort war ihre Mutter in einem Lager inhaftiert. Arbeitete als Bauingenieurin und lebt in Astrachan.

Irina Satwornizkaja 1936 in Harbin (Chinesische Osteisenbahn) geboren und wurde in den 1950-er Jahren in die UdSSR eingebürgert. Arbeitete als Lehrerin und lebt in Omsk.

Georgi Kowalewski 1928 im Gebiet Brjansk geboren. Die Eltern wurden als Kulaken verfolgt. Arbeitete als Meister in der Berufsausbildung und lebt in Moskau.

Walentina Lyssenko 1928 in der Region Krasnodar geboren. Die Eltern waren vermögende Kosaken. Der Vater wurde erschossen. Sie ist Mitglied einer Sowchose und lebt in der Kosakensiedlung Rogowskaja, Region Krasnodar.

Marija Mikljajewa 1923 im Gebiet Woronesch geboren. Die Eltern wurden als Kulaken verfolgt. Arbeitete als Lehrerin und lebt in Woronesch.

Leonid Murawnik 1928 in Moskau geboren. Sein Vater war Parteifunktionär. 1937 wurden seine Eltern erschossen. Ab dem 9. Lebensjahr durchlief er verschiedene Kinderheime, aus denen er mehrmals floh und sich als Landstreicher herumtrieb. Arbeitete als Journalist und lebt in Moskau.

Alexei Nikulin 1931 geboren. Sein Vater wurde als Priester verfolgt. Diente als Geistlicher in verschiedenen Kirchen im Gebiet Kirow und wohnt in der Stadt Kropotkin.

Susanna Petschuro 1933 in Moskau geboren. Sie wurde 1951 im Alter von 17 Jahren verhaftet, zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt, die sie bis 1956 in den Lagern von Inta, Abes und im Zentralgefängnis Wladimir verbüßte. Rehabilitiert. Arbeitete als Historikerin und Archivarin. Lebt in Moskau.

Marija Sewortjan (geb. Giwargisowa) 1928 in Rostow am Don geboren. Beide Eltern wurden verfolgt: Der Vater wurde erschossen, und die Mutter wurde als Familienangehörige eines Volksfeindes verurteilt und verbüßte ihre Haftstrafe im Akmolinsker Lager für Ehefrauen von Vaterlandsverrätern. Sie wurde als Regisseurin populärwissenschaftlicher Filme bekannt und lebt in Moskau.

Nina Smirnowa 1926 im Gebiet Woronesch geboren. Die Eltern wurden als Kulaken verfolgt. Arbeitete als Kindergärtnerin und lebt in der Stadt Kropotkin.

Michail Tamarin (1916-2009) Ingenieur und Geiger. Wurde zweimal verhaftet und verbrachte die Haftzeit in den Lagern von Kolyma. Anschließend Verbannung in die Region Krasnojarsk. Rehabilitiert.

Walentina Tichanowa 1922 geboren, Pflegetochter des Volkskommissars für Justiz der RSFSR. Ihr Stiefvater und ihre Mutter wurden 1938 erschossen. Walentina lebte 4 Jahre in einem Kinderheim in Dnepropetrowsk. Arbeitete als Kunstwissenschaftlerin und lebt in Moskau.

Juri Fidelgolz 1927 in Moskau geboren. 1948 verhaftet und der Bildung einer antisowjetischen Organisation beschuldigt. Verurteilung zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager. Die Haftzeit verbrachte er in den Lagern von Taischet und Kolyma. Rehabilitiert. Arbeitete als Bauingenieur, ist Mitglied des Schriftstellerbundes und lebt in Moskau.

Wera Juljewna Chudjakowa (geb. Gekker) 1922 in Potsdam geboren. Im selben Jahr siedelte die Familie nach Sowjetrussland über. 1938 wurde ihr Vater erschossen und ihre Mutter verhaftet. Im September 1942 wurde Wera, die damals Studentin an der Musikhochschule war, gemeinsam mit ihren Schwestern Marsella und Alissa verhaftet und zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt. Wera verbüßte die Haftzeit in Lagern in Kirgisien, Usbekistan, Sibirien und Kasachstan. Rehabilitiert. Arbeitete als Musiklehrerin und lebt im Gebiet Moskau.

Rosa Schowkrinskaja 1930 in Dagestan geboren. Ihr Vater war Mitglied des Gebietsparteikomitees von Dagestan und starb in der Haft. Die Schwester Oktjabrina wurde zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Arbeitete als Grundschullehrerin und lebt in Machatschkala.

Olga Zybulskaja 1935 in Frunse (heute Bischkek), Kirgisien, geboren. Die Eltern waren Mikrobiologen. Ihr Vater wurde 1937 erschossen. Die Mutter wurde als Familienangehörige eines Volksfeindes zu 8 Jahren Lagerhaft verurteilt. Olga wuchs bei Verwandten auf. Arbeitete als Chemieingenieur und lebt bei Moskau.

Brussarska
Aus der Akte erfuhr ich, dass ich eine Schwester und einen kleinen Bruder hatte. Bei der Verhaftung meiner Mutter nahm man ihn auch gleich mit. Meine Schwester war 3 Jahre alt und sie blieb im Dorf. Als ich später gemeinsam mit meiner Schwester das Dorf Duchowschtschina besuchte – das ist ein kleines Städtchen – erzählte man uns, dass die Kinder 3 Tage lang weinten, nachdem man die Eltern verhaftet hatte. Das Vieh wurde nicht hinausgetrieben. Niemand traute sich ins Haus, um die Kinder zu trösten, mit ihnen zu sprechen. Später wurden die Kinder vom NKWD abgeholt.

Kowalewski
G. K: Mit seinem zweiten Bruder passierte etwas Schreckliches: Kusma Semjonowitsch.
I. O: Wie meinen Sie das?
G. K: Man nahm ihm alles weg, seinen gesamten Besitz. Die ganze Ernte, alles, was er angebaut hatte. Er wurde krank und starb. Das war so um 1932, 1933 oder 1935. Er starb und hinterließ 4 Kinder im Alter von einem bis zwölf Jahren. Eine Woche später hängte sich seine Frau auf. Sie hatten kein Essen mehr, und die Kinder blieben zurück …
I. O: … als Waisen?
G. K: Als Waisen. Die Verwandten hatten Angst sie aufzunehmen. Kontakte waren verboten.
I. O: Was passierte mit den Kindern?
G. K: Die Kinder blieben ihrem Schicksal überlassen. Mal brachte man ihnen etwas Essen. Sie lebten noch eine Weile und dann starben sie.
I. O: Alle?
G. K: Alle vier. Sie liefen nackt herum und niemand, nichts …

Smirnowa
Es gab gar keine Volksfeinde! Die Arbeiter und Bauern wurden vernichtet. Jene, die den Boden bearbeiteten und dem Land zu essen gaben. Diese wurden vernichtet. Wie viel Millionen sind umgekommen, wie viele wurden vernichtet.
Um zu leben, musste der Boden bearbeitet und gewirtschaftet werden. Das war unser Reichtum. Das Vieh wurde konfisziert, die Gebäude, das Haus, alles blieb in der Sowchose. Die wenigen Sä- und Dreschmaschinen … Ohne diese Agrarmaschinen kann man nichts mehr ausrichten. Alles wurde uns weggenommen. Uns blieb nichts mehr. So, wie wir waren, wurden wir zum Bahnhof gefahren und in Waggons verladen. Davon habe ich schon erzählt. Die Leute hatten Angst davon zu sprechen, obwohl einige Bescheid wussten.
Auch nach dem Krieg hatten wir Angst darüber zu sprechen. Umso mehr zu Kriegszeiten, da man für jedes unachtsame Wort denunziert werden konnte. Wenn man dagegen war oder sich lustig machte, konnte man verhaftet werden und verschwand spurlos ohne Ermittlung und Prozess. Nach Kolyma und so verschwand man.
Selbst Ljonja hatte Angst darüber zu sprechen. Vor seinem Tod verriet er mir ein Geheimnis, dass er der Sohn eines Kulaken war. Ich antwortete ihm: „Das soll ein Geheimnis sein? Ich bin auch die Tochter eines Kulaken. Und seit langem sprechen alle offen darüber, nur du verheimlichst das immer noch.”

Mikljaewa
Bloß nicht darüber sprechen. Gott behüte, wenn jemand davon erfährt. Es war ein schlimmes Jahr – 1937 – zahllose Verhaftungen. Ob schuldig oder unschuldig, Politiker wurden verhaftet und jene, die mit Politik nichts anzufangen wussten. Kulaken galten als Volksfeinde. Verhaften und wieder ins Gefängnis mit ihnen.
A. K: Also haben Sie Ihr ganzes Leben geschwiegen?
M. M: Das ganze Leben.
Ich wollte standhaft bleiben, aber einmal wurde ich doch schwach und warf einen Blick auf ein Papier. Großvaters Bruder, Iwan Terentjewitsch, wurde als Kulak enteignet. Mehr wollte ich nicht wissen, es bedrückte mich zu sehr. Ich wollte nicht alles erfahren und dachte: ‚Irgendwann wird Gras über die Sache gewachsen sein.‘ So war das.

Kowalewski
I. O: Haben Sie denn Ihre Mutter jemals gefragt: „Mama, warum wurde Vater verhaftet? Was hat er denn getan?“ Hat sie das irgendwie erklärt?
G. K: Ich habe nicht gefragt, und sie hat nichts erklärt, und wir hatten Angst darüber zu sprechen.
I. O: Selbst unter vier Augen?
G. K: Ja.

Nikulin
Als Vater verhaftet wurde, jagte man uns aus dem Haus. Mein ältester Bruder war damals 12 Jahre alt, und ich war ein Baby. Mutter flehte: „Geben Sie mir wenigstens die Windeln für mein Baby.“ Selbst die Windeln gab man ihr nicht. Alles wurde weggenommen, wir wurden fortgejagt. Und Mutter – möge sie in Frieden ruhen – hatte mit uns 5 Kindern ihre liebe Not. Ihr Ältester war 12, und ich lag noch in den Windeln. Mama hatte ihre liebe Not. Sie sagte später, wir wären durch 21 Wohnungen gezogen. Mal gewährte man ihr Einlass. Aber bevor jemand davon erfuhr, dass man ein Priesterweib und seine Brut beherbergte, musste sie am nächsten Tag weiter. Wer sie nicht fortjagte, dem drohte dasselbe Schicksal wie dem Popen. Also schickte der Gastgeber uns mit großem Bedauern weiter.

Schowkrinskaja
1936, als die Repressionen begannen, wurde Vater verhaftet.
Am selben Abend packte Mutter die Sachen und fuhr mit uns weg. In den Aul, 180 km weit entfernt.
Wir kamen in der Siedlung an. Früher wurden wir empfangen. Diesmal kam niemand, um uns zu begrüßen. Nicht eine Menschenseele. Der Fahrer half uns, wir betraten das Haus und blieben dort. Das war unsere Ankunft im Aul.
Zur Beerdigung und zur Totenmesse wurde niemand zugelassen. Ringsum stellte der Dorfsowjet Wachen auf, damit niemand reinkam. Mama und wir Kinder beweinten Papa allein. In der Kolchose wurde Mama nicht aufgenommen, wir Kinder durften nicht in die Schule.
Alle in der Siedlung liebten und achteten unseren Vater, aber sie hatten auch Angst, selbst untereinander. Und als Vater verhaftet wurde, trat niemand für ihn ein, niemand legte ein gutes Wort ein. Weder als Vater verhaftet wurde, noch als meine Schwester verhaftet wurde. Es war eine schreckliche Zeit, eine schreckliche Zeit.

Chudjakowa
Wissen Sie, das waren damals schwierige Jahre für das Land. Ich erinnere mich daran, dass bei der Verhaftung unserer Eltern unsere Schwester Marsella Juljewna eine Psychose erlitt, weil sie sich vor der Verhaftung fürchtete.
Nachts konnte sie nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr – und das war nicht sehr oft – dachte sie, dass es zu uns käme. Sie wurde psychisch krank. Und als Stalin starb, war ihre Krankheit auf einmal fort. Ganz plötzlich! Als wäre sie nie krank gewesen.

Zybulskaja
Das Haus befand sich gegenüber vom Friedhof. Dort wohnten wir. Meine Schwester und ich wechselten uns mit dem Schulbesuch ab. Zur ersten Schicht ging meine Schwester. Wenn sie zurückkam putty , zog sie die Schuhe aus. Sie waren ganz feucht. Feuchte Stiefel, die ich anzog. Wir hatten keine anderen Schuhe. Und dann ging ich in die Schule. Wir waren gute Schülerinnen, doch Großmutter bat darum, dass wir niemandem erzählten, wo unsere Eltern waren, wie wir hier gelandet waren, und wir schwiegen. Obwohl es auch erniedrigend und ärgerlich war. Und wenn ich meine Freundinnen besuchte und erlebte, wie unhöflich sie ihre Eltern behandelten, sie beschimpften und so, sagte ich ihnen stets: „Wenn ihr nur wüsstet, wie schlecht es ohne Eltern ist, würdet ihr niemals so mit euren Eltern reden.“

Murawnik
A. K: Wurden Sie denn nicht nach Ihren Verwandten gefragt? Nach Ihrer Mutter, Ihrem Vater? Wo wohnst du? Woher bist du?
L. M: Nein, erst später, bei einer neuen Arbeitsstelle, da musste man einen Lebenslauf schreiben. Heute ist das anders. Ich dachte mir etwas aus, das war nicht gut, aber ich dachte mir etwas aus. Alle Heimkinder, ob aus Butowo oder nicht, alle logen wie gedruckt. Ich schrieb, dass mein Vater im Bürgerkrieg gefallen war. Er hatte ja auch irgendwie damit zu tun gehabt. Und meine Mutter und ich verloren uns aus den Augen. Wo das war, daran konnte ich mich nicht erinnern. Ich verlor sehr früh meine Mutter. Das schrieb ich, und das reichte und ersparte mir weitere Fragen.

Sewortjan
Ich weiß nicht mehr, wer es war. Aber alle sagten mir, und auch Tante Olja sagte: „Du musst. Ich weiß, dass du beim Komsomol über dein Leben berichten musst. Wer ist dein Vater, wer ist deine Mutter? Und du? Du hast niemanden außer deiner Tante. Wer sind deine Angehörigen?“ Davor hatte ich Angst. Also trat ich dem Komsomol nicht bei. Erst später, nach dem Parteitag, als alles wieder schick war, da bin ich in die Partei eingetreten.

Brussarska
W. B: Offen gestanden, erst als ich Pioniermitglied wurde, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es so einen Stalin gab.
I. O: Aha, und wer war das?
W. B: Ich wollte ihn sehen, hören oder wenigstens ein Foto von ihm sehen. Damals bezogen wir keine Zeitung. Man führte mich in die „Rote Ecke“ und zeigte mir ein großes Porträt. In meiner Vorstellung war er ein riesiger Mann, ein Gigant, ein Gulliver. Und ich dachte immer an Dora Stepanownas Worte: „Er ist wie Gott. Er sieht alles. Er weiß alles. Er liest unsere Gedanken.“ Ich dachte: ‚Wahrscheinlich auch meine Gedanken. Ich darf nicht schlecht über ihn denken.‘ Verstehen Sie? Und da war diese Furcht. Dieser Schnurrbart. Und wenn er im Radio sprach, hörte ich zu – und er hatte doch diesen georgischen Dialekt – ich dachte: ‚Warum spricht er so undeutlich?‘ Aber mehr auch nicht, mehr nicht.

Petschuro
Die nationale Zugehörigkeit war auch ein wunder Punkt. Judenhass war an der Tagesordnung. Denn in Kyschtym lebten vertriebene Kulaken verschiedener Couleur. Hohe Zäune, alles war abgesperrt und ringsum waren Lager. Und sie fürchteten jeden. Sie hatten Angst vor den Flüchtigen aus den Lagern. Sie hassten jeden. Sie hassten die Sowjetmacht, und die Sowjetmacht assoziierten sie aus irgendeinem Grund mit Juden, aber auch das ist verständlich. Und endlose Gespräche: „Wenn es diese Juden nicht gäbe, würden die Deutschen uns nicht auf die Pelle rücken. Euretwegen sterben jetzt unsere Männer.“

Chudjakowa
Und von Karaganda fuhr der Zug durch. Aber zunächst wartete er dort 20 Minuten. Und ich saß diese 20 Minuten im Zug neben meiner Schwester. Und wieder musste man die Papiere zeigen. Wir hatten schreckliche Angst!
„Gekker“ ist doch ein deutscher Familienname, deswegen fürchteten wir uns immer so sehr.

Satwornizkaja
Anfangs, als wir noch neu in Omsk waren, sagten wir niemandem, dass wir aus Harbin stammten.
A. K: Warum?
I. S: Weil wir beschattet wurden. Wir kamen 1959 dort an, und Papa war seit 1955 dort.
Und er wurde befragt: „Wer besucht Sie?“ „Meine Tochter.“ „Was macht sie, studiert oder arbeitet sie? Wo studiert sie? Wo arbeitet sie? Was ist mit dem Schwiegersohn?“ Sie stellten Fragen zu allen Familienmitgliedern. Als ob sie das nicht auch so wussten.
„Wer von den Leuten aus Harbin besucht Sie? Was wissen Sie von ihnen?“ Sie stellten auch Fragen zu anderen Leuten. Also verschwiegen wir, dass wir aus Harbin waren.

Petschuro
Als ich verhaftet wurde, vernichteten meine Eltern aus Furcht Großmutters sämtliche Gebetbücher. Das waren uralte Gebetbücher. Außerdem alle Kupferleuchter, die antiken Kerzenhalter. Obwohl ich nicht verstehe, wie man das hätte gegen sie verwenden können. Aber ich verstehe, dass sie nicht rational handelten. Sie vernichteten alles.
Sie hatten Angst, dass man sie verhaften würde. Alle wurden doch verhaftet. Bei fast allen wurden die Eltern verhaftet. Meine blieben irgendwie davon verschont. Und sie vereinbarten, wer sich um meinen jüngeren Bruder kümmern würde, damit er nicht ins Kinderheim käme.

Brussarska
Ich wünschte so sehr, man hätte mir Mutters Briefe gegeben. Sogar jetzt habe ich Wera Iwanowna Sacharowa angerufen: „Gib mir Mutters Briefe.“ „Wir haben doch alles verbrannt. Wir hatten solche Angst. Wir haben alles verbrannt.“

Satwornizkaja
I. S: Ich ging noch bis 1954 zur Schule. Es war wohl 1954 als dieser Brief kam, denn vor Stalins Tod gab es den „Eisernen Vorhang“.
A. K: Sie hatten also 6 Jahre lang keinen Kontakt zu Ihrem Vater?
I. S: Natürlich nicht.
A. K: Und haben Sie sich an ein Konsulat gewandt, um zu erfahren, wo er war?
I. S: Wo denken Sie hin! „Volksfeinde“!
A. K: Aber in China kannten Sie diese Worte doch nicht.
I. S: Wir kannten sie nicht, aber fürchteten das Konsulat wie das Feuer. Nach Stalins Tod war ich zum ersten Mal im Konsulat. Das Wetter in Harbin war scheußlich! Wind und Regen peitschten gelben Schlamm auf.
Einen oder zwei Tage später wurden wir ins Konsulat geführt. Dort stand ein großes Porträt. Hinter den Toren. UdSSR – die Vorstellung von Heimat. Dort stand ein riesiges, mannshohes Stalinporträt. Daneben waren viele Blumen und starke Scheinwerfer. Deren grelles Licht trieb die Tränen in die Augen. Wir weinten natürlich nicht.

Fidelgolz
Damals hatten die Leute vor allem Angst, Angst vor Denunziationen und davor, eine unachtsame Bemerkung zu machen.
Jeder sprach über Stalins Tod. Alle erstarrten, hatten Angst etwas Falsches zu sagen, fürchteten, dass es schlimmer würde. Sie befürchteten, ein noch schlimmerer Tyrann würde an Stalins Stelle folgen, und man würde alle unterm Wachturm aufstellen und mit einer Maschinengewehrsalve niedermähen. Für die Wachmannschaften wäre das ein Kinderspiel. Wir fürchteten uns vor der Willkür der Soldaten, die in ihrem Zorn um des Führers Tod alles Mögliche mit den wehrlosen Gefangenen anstellen konnten.

Tamarin
A. K: Erinnern Sie sich an den XX. Parteitag und Chrustschows Rede über Stalin?
M. T: Ja.
A. K: Wie empfanden Sie diese?
M. T: Ich glaubte nicht daran, dass sich etwas ändern würde. Ich glaubte nicht daran und fürchtete mich davor. Das konnte nicht sein. Ich sprach mit niemandem darüber. Nur mit meinem Bruder Boris. Ich wurde doch per Amnestie aus der Verbannung befreit. Und 1956 folgte die Rehabilitierung.
Ich begann, mich wieder wie ein Mensch zu fühlen, aber fürchtete mich, darüber offen zu sprechen. Meine Papiere waren zwar wieder in Ordnung, und mir standen Vergünstigungen zu. Erst später erfuhr ich, dass es diese Gesellschaft „Memorial“ gab.

Smirnowa
Die Miliz befragte mich: „Welche Einstellung haben oder hatten Sie zur Sowjetmacht?“ Und ich sage: „Welche Einstellung soll ich haben? Ich kenne keine andere Macht.“ Ich wurde 1926 geboren, zu Zeiten der Sowjetmacht. Ich war zufrieden mit der herrschenden Macht. Natürlich brachte uns diese Macht keine Freude, heute kann man das so offen sagen. Wir haben so viel gelitten, von Kindesbeinen an. Wo ist meine Kindheit? Ich hatte keine. 1934, es begann 1930, wir hungerten, 1933 packte man uns noch fester an der Gurgel, 1937 die Repressionen, der Vorsitzende und der Buchhalter wurden verhaftet, die Kolchose zerfiel. 1941 begann der Krieg. In all den Jahren kamen wir kaum auf die Beine, als mit dem Krieg der Hunger wiederkam.

Kowalewski
G. K: Warum erzähle ich denn auch heute niemandem, dass ich verfolgt wurde? Warum erzähle ich den Freunden und Kollegen nichts davon? Wenn ich im Sanatorium, im Krankenhaus bin, warum erzähle ich niemandem davon?
I. O: Warum?
G. K: Ich verschweige es.
I. O: Warum?

Tichanowa
Wissen Sie, ich muss sagen, dass ich die Angst immer irgendwie unbewusst verspürte. Sie wissen doch, dass ich impulsiv bin und sehr kategorisch. Ich bin kein umgänglicher Mensch. Aber all diese Jahre verhielt ich mich sehr ruhig, sehr ruhig.

Lyssenko
A. K: Und in dieser Sowchose wusste niemand davon, dass Ihre Eltern als Kulaken enteignet wurden?
W. L: Mein Bruder und ich fuhren zum FSB. In meiner Jugend, als diese Erschießungen waren, habe ich nicht weiter darauf geachtet. Erst später, als die Rente näher kam, begannen die Schlafstörungen, die Gedanken ließen mich nicht los, und ich hatte Angst zum FSB zu fahren. Einfach Angst.
Ich hatte lange Angst und konnte mich erst spät entschließen dort hinzufahren. Ich überredete meinen jüngeren Bruder: „Slawa, lass uns fahren, und uns davon überzeugen, dass er es wirklich ist.“ Damals hatte ich Angst und hatte mich damit abgefunden, dass sich nichts ausrichten ließ. Aber in den schlaf- und ruhelosen Nächten dachte ich an meinen Vater. Er war geachtet, das sage ich nicht, weil er mein Vater war, sondern weil er wirklich von seinen Mitmenschen geachtet wurde.
Also beschloss ich: „Ich fahre hin. Komme, was wolle. Ich bin schon alt. Wenn sie mich verhaften, dann ist es eben so!“

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL, Moskau)

Kamera:
Andrei Kostjanow
Andrei Kupawski
Sergei Missarow

Schnitt:
Sebastian Prieß (MEMORIAL, Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites, Berlin)

Übersetzung und Untertitel:
Irina Raschendörfer (Berlin)

© MEMORIAL International 2012

Suche