Nachrichtenarchiv

2011

Großdemonstration in Moskau für "faire Wahlen"

Zur heutigen Großdemonstration in Moskau kamen nach Auskunft der Organisatoren etwa 100 000 - 150 000 Menschen zusammen. Mit der Annahme einer Resolution ging die genehmigte Kundgebung gegen 18.00 Uhr (Ortszeit) zu Ende. Die Teilnehmer forderten die Annullierung des Wahlergebnisses vom vergangenen Sonntag und die Durchführung neuer, fairer Wahlen, zu denen auch oppositionelle Parteien zugelassen wären, darüber hinaus die Freilassung aller politischer Gefangener und die Entlassung des Leiters der zentralen Wahlkommission, Vladimir Tchurov.
Eine weitere Kundgebung ist für den 24. Dezember geplant, die Organisatoren rechnen dann mit der Teilnahme von mehr als einer Million Menschen.
In St. Petersburg kamen etwa 10 000 Menschen zusammen, die Kundgebung löste sich gegen 17.30 Uhr (Ortszeit) friedlich auf.
Auch in den großen Städten im Osten Russlands kamen mehrere Hundert Menschen zu Protestaktionen zusammen, so in Vladivostok, Krasnojarsk, Jekaterinburg, Novosibirsk, Kasan, Tomsk und weiteren Städten.
10.12.2011

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Russischer Menschenrechtsrat nimmt Stellung zu Wahlfälschung und Protestaktionen

Die Mitglieder des Menschenrechtsrats beim Präsidenten der Russischen Föderation bringen am heutigen 09. Dezember ihre tiefe Sorge, aber auch Hoffnung angesichts der aktuellen Lage zum Ausdruck.
Es habe sich gezeigt, dass die russische Bevölkerung auf die unzähligen Hinweise auf Wahlfälschung reagiert und als Zivilgesellschaft auftritt.
Die Verletzung der bürgerlichen Rechte auf freie Meinungsäußerung und faire, freie Wahlen sei zutiefst besorgniserregend und müsse in jedem Einzelfall genau untersucht und gerichtlich verfolgt werden. Eine Wiederholung der Wahl könne nicht ausgeschlossen werden.
Die Mitglieder des Rats verurteilen in ihrer Erklärung die grundlose Anwendung von Gewalt gegenüber friedlichen Bürgern, die ihre Rechte als Wähler im Rahmen der geltenden Gesetze ausüben, und drängen auf Überprüfung der zahlreichen richterlichen Anordnungen zur administrativen Festnahme: „Den Sicherheitskräften muss bewusst sein, dass ihr Einsatz dem Schutz der Rechte der Menschen, wie des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, dient. Die Anwendung von Gewalt, aber auch die Einschüchterung und Bedrohung von Studenten mit Ausschluss aus den Hochschulen und Einzug zur Armee aufgrund friedlicher Teilnahme an Protestaktionen sind inakzeptabel.“
Die Teilnehmer an Demonstrationen werden aufgerufen, sich nicht provozieren zu lassen, keine Gewalt anzuwenden und sich gesetzmäßig zu verhalten.
„Unser Land hat die einmalige Chance, eine empathische Zivilgesellschaft und einen gesetzestreuen Staat zu entwickeln. Wir unterstützen den Einsatz der Bürger für Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Gesetze.“ Der Staat sei verpflichtet, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu zentralen Fragen der Entwicklung des Landes zu äußern und die Stimme der Zivilgesellschaft zu hören.
Russland hat kein Recht, die Fehler, die in entscheidenden Augenblicken seiner Geschichte so oft gemacht wurden, ein weiteres Mal zu wiederholen.“
09.12.2011

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Massive Proteste in Moskau gegen Fälschung der Duma-Wahlen

Am Abend des 5. Dezember 2011 kam es in Moskau zu einer der größten Kundgebungen in den letzten Jahren: Etwa 10 000 Menschen hatten sich Beobachtern der Aktion zufolge versammelt, um gegen die Fälschung des Wahlergebnisses zu protestieren. Die Organisatoren dieser genehmigten Kundgebung sprachen von zahlreichen Verstößen und lehnten eine Anerkennung des Wahlergebnisses infolgedessen ab.
Es sei zu zahlreichen Festnahmen gekommen - die Angaben liegen zwischen 500 und 600 Personen - ,an denen auch die OMON-Einsatzkräfte beteiligt gewesen wären.
In St. Petersburg wurden 230 Demonstranten im Zuge der Protestaktionen gegen die Wahlfälschung festgenommen.
Human Rights Watch hat die Festnahme und Inhaftierung von Oppositionellen und Demonstranten verurteilt und die Behörden aufgerufen, das Recht der Bürger auf Versammlungsfreiheit zu respektieren.

06./7.12.2011

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Belarus und die Rechtsstaatlichkeit ...

In Belarus hat ein Gericht den Menschenrechtler Ales Beljazki am 24.11.2011 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Beljazki ist Chef der Menschenrechtsorganisation Wjasna. Seine Festnahme folgte auf eine Verhaftungswelle gegen Oppositionelle seit der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko im Dezember. Das Gericht sprach den Menschenrechtler wegen angeblicher Steuerhinterziehung schuldig.

Eine genaue Betrachtung des Sachverhalts macht deutlich, dass das harte Urteil vor allem im Zusammenhang mit der menschenrechtlichen Tätigkeit von Beljazki steht. Das Verfahren wurde vom Geheimdienst KGB initiiert. Dabei war in den Dokumenten des KGB ursprünglich nur von einer gesetzeswidrigen oppositionellen Tätigkeit des Vereins die Rede. Der Vorwurf der Steuerhinterziehung ist nachträglich von der Staatsanwaltschaft formuliert worden.

Der Prozess gegen den Menschenrechtler zeigt nochmal deutlich, wie konsequent und hart das Regimes des Präsidenten Lukaschenko gegen die Oppositionelle vorgeht. Der Prozess löste scharfe Kritik in der EU aus. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle sprachen von einem "politischen Prozess" und forderten die sofortige Freilassung des Menschenrechtlers.

Die Rechtsstaatlichkeit in Weißrussland wird derzeit auch wegen einem anderen Vorgehen in Frage gestellt - dem Minsker Terroristenprozess. Zwei junge Männer, Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljew, sind zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die beiden für den Anschlag in der U-Bahn, bei dem 15 starben und 300 verletzt wurden, verantwortlich sind. Laut der Staatsanwaltschaft wollten die beiden die Lage im Land destabilisieren.

Gleichzeitig gibt es bei den unabhängigen Prozessbeobachtern und Bürgerrechtlern erhebliche Zweifel an der Beweislage. In der weißrussischen Gesellschaft ist die Vermutung verbreitet, dass der Anschlag von Kräften des Regimes begangen wurde. So wird etwa vermutet, dass die Videoaufnahmen vom Tatort manipuliert worden sind.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in Belarus 400 Menschen hingerichtet.
05.12.2011

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"Golos" zur Arbeit der Wahlbeobachter in Russland

Nach Auskunft der Wahlbeobachter-Organisation „Golos“ wurde die Arbeit der Beobachter in den meisten russischen Regionen auf vielfältige Weise immer wieder behindert. „Warum das?“, fragt die Organisation, wenn die Duma-Wahlen - wie behauptet - korrekt durchgeführt werden sollten.
„Golos“ registrierte sowohl die Androhung von Repressalien als auch systematische Behinderungen beim Zutritt zu den Gebäuden der lokalen Wahlkommissionen. Hier wurde den Beobachtern der Zutritt vielfach gänzlich verwehrt, so dass Unregelmäßigkeiten beim Ablauf des eigentlichen Wahlvorgangs nicht mehr beobachtet werden konnten. In diesem Zusammenhang verweist „Golos“ auch auf das Verbot zu zu fotografieren.
05.12.2011

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MEMORIAL International zu den bevorstehenden Duma-Wahlen

In den letzten Jahren hat Russland eine gefährliche Richtung eingeschlagen. Das Monopol der Macht hat nicht nur ein Mal in unserer Geschichte zu katastrophalen Folgen geführt. Einziges Mittel, den politischen Wettbewerb zu fördern, sind Wahlen.
Es ist müßig, die offensichtlichen Fehler bezüglich der bevorstehenden Duma-Wahlen aufzuführen und auf die Unlauterkeit der Organisation hinzuweisen. Der Einsatz umfangreicher administrativer Maßnahmen führt schon heute dazu, dass das Vertrauen in die künftigen Ergebnisse erschüttert ist.Wir halten es dennoch für wichtig, diese Wahlen ernst zu nehmen und sich daran zu beteiligen. Vor allem auch deshalb, weil die Fälschung der Ergebnisse durch eine geringe Beteiligung nur noch leichter gemacht wird.
Wir halten es für richtig, sich an den Wahlen zu beteiligen und die Wahlzettel nicht den Fälschern zu überlassen.
Die Stimmabgabe für die am Monopol der Macht beteiligten Parteien ist verantwortungslos – das war auch früher so. Parteien zu wählen, die eine nationalistische Rhetorik praktizieren, ist ebenso unmöglich und führt in die Katastrophe. Auf dem Wahlzettel sind jedoch noch weitere Parteien genannt. Wenn keine dieser Parteien in Frage kommt, bleibt die Möglichkeit, den Stimmzettel ungültig zu machen.
Wir halten es auch für unerlässlich, dass möglichst viele Bürger unabhängig von ihrer politischen Einstellung aktiv den Verlauf der Wahlen beobachten. Vergleiche und Analyse der Ergebnisse dieser Beobachtungen können der Ausgangspunkt für weiteres Handeln sein.
Dieser Weg verspricht zwar nicht unmittelbaren Erfolg, andere Mittel dürften jedoch noch aussichtsloser sein.
(Erklärung vom 26.11.2011)

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Chodorkovskij-Film von Moskauer Filmtheatern zurückgezogen

19 von insgesamt 20 Moskauer Filmtheatern verzichteten nach einer gestrigen Meldung der russischen Zeitung Kommersant auf den Verleih des Chodorkovskij-Dokumentarfilms von Cyrill Tuschi.
Der Film wird, wie Kommersant weiter berichtete, lediglich in den Moskauer Filmtheatern Eldar und Fotoloft im Vinsavod-Komplex gezeigt. Eine einmalige Vorführung des Films ist am 2. Dezember im Filmtheater Khudozhestvennij geplant.
Auch aus St. Petersburg, Novosibirsk und weiteren Städten der Russischen Föderation gingen entsprechende Absagen ein. Die Freigabe für den Verleih wurde also zum Scheitern gebracht. Die Firma Kinoclub, die die Rechte an dem Film besitzt, erklärte, dass einige Filmtheater nach entsprechenden Hinweisen der Behörden vom Verleih zurückgetreten sind.
23.11.2011

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Gedenkveranstaltungen für Sergej Magnitzkij in Berlin, London und Washington

In dieser Woche jährt sich zum zweiten Mal der Tod von Sergej Magnitzkij, der nach Aufdeckung von Korruptionsfällen bei den russischen Steuerbehörden und den Sicherheitsdiensten verhaftet worden war und in Untersuchungshaft qualvoll zu Tode kam.
Gedenkveranstaltungen finden nach Mitteilung des Pressedienstes des Hermitage Capital Investmentfonds, bei dem der 37jährige Magnitzkij als Jurist beschäftigt war, am 15. und 16. November in Berlin, London und Washington statt.
In Berlin wurde am 15. November 2011 im Berliner Mauermuseum eine Ausstellung zu Sergej Magnitzkij, Rechtsprechung und Demokratie in Russland in Gegenwart der Mutter Magnitzkijs und der Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, eröffnet.
In Washington veranstalten Vertreter der Helsinki-Gruppe ein Briefing, bei dem auch das Stück „Eine Stunde achtzehn Minuten“ gezeigt wird, das den letzten Minuten im Leben Magnitzkijs gewidmet is und erstmals im Moskauer Dokumentartheater teatr.doc gezeigt wurde. Die Helsinki-Gruppe hatte im Jahr 2010 eine Liste von 60 Personen veröffentlicht, die in verschiedenen staatlichen Stellen an dem Korruptionsfall mit einer Steuerhinterziehung in Höhe von 5,4 Milliarden Rubel etwa 130 Millionen Euro) beteiligt waren.
In London findet mit Unterstützung von Amnesty International am 16. November 2011 die Premiere des Dokumentarstücks „Ein Stunde achtzehn Minuten“ statt.
16.11.2011

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2 Milliarden Rubel für die Aufforstung im Chimki-Wald

Wie Echo Moskvy am 14.11.2011 mit Bezug auf die offizielle Webseite der russischen Regierung berichtet, werden die Regierung und die Stadt Moskau die Summe von 2 Milliarden Rubel für die Aufforstung der Waldflächen bereit stellen, die durch den Verlauf der Autobahntrasse Moskau-St. Petersburg besonders geschädigt wurden.
14.11.2011

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Dokumentarfilm über Natalja Estemirova in München

In München wird auf Initiative von MEMORIAL ein Dokumentarfilm in russischer Sprache über die Menschenrechtlerin Natalja Estemirova gezeigt, deren Ermordung 2009 nach wie vor unaufgeklärt ist. Mylène Sauloy berichtet über die Arbeit von Natalja Estemirova und zeigt Parallelen zu Anna Politkovskaja auf.
Wo: Klub "Gorod" (Hansastr. 181, Nähe Harras)
Wann: 25.11.2011 um 19.00 Uhr
Der Eintritt ist frei.
14.11.2011

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Chimki-Wald: Umweltaktivisten erfolgreich vor Gericht!

Die Frage des illegalen Abholzens von Waldflächen während des Baus der Autobahn-Trasse Moskau-St. Petersburg kann Mitteilung des russischen Pressedienstes „ÖKO-Schutz“ vom 10.11.2011 nunmehr vor Gericht verhandelt werden.
Die Umweltaktivisten hatten darauf hingewiesen, dass die Baugenehmigung und das Abholzen von Waldflächen gegen geltendes Gesetz verstossen würden. Der Trassenverlauf füge dem Wald einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zu und sei das Ergebnis korrupter Machenschaften.
13.11.2011

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Parlamentswahlen in Russland: Protestaktionen gegen unfreie Wahlen

In St. Petersburg begann am 09. November 2011 eine Kampagne, die die Bürger dazu aufruft, gegen alle Kandidaten zu stimmen. Organisator ist die Gruppe „Solidarität“, die in verschiedenen Stadtteilen von St. Petersburg die dort so populären Broschüren „Putin. Eine Bilanz“ und „Putin. Korruption“ verteilte und als Beilage einen Flyer beifügte, der erklärt, wie jeder Wahlberechtigte am 4. Dezember seinen Protest zum Ausdruck bringen und dennoch aktiv an den Wahlen teilnehmen kann, indem er seine Stimme gegen alle angetretenen Kandidaten abgibt, obgleich dies auf dem Wahlzettel nicht vorgesehen ist, oder aber den Wahlzettel ganz durchstreicht.
Ziel der Kampagne ist es, deutlich zu machen, dass die am 4. Dezember stattfindenden Duma-Wahlen, zu denen die Opposition nicht zugelassen ist, weder ehrlich noch frei sind. Die Aktion soll bis zu den Wahlen fortgesetzt werden.
12.11.2011

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MEMORIAL International auf der Frankfurter Buchmesse - Veranstaltungen und Diskussionen

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse hatte MEMORIAL International eine Broschüre unter dem Titel: „Der Kampf um die Vergangenheit. Das Russland von heute und die Entstalinisierung“ herausgebracht.
Sie enthält in deutscher Übersetzung eine Reihe von Texten, die bisher nur in russischer Sprache und fast nur im Internet zugänglich waren. Vor allem sind dies die Vorschläge für ein Entstalinisierungsprogramm, die der Präsidialrat für Zivilgesellschaft und Menschenrechte unter maßgeblicher Beteiligung von MEMORIAL erarbeitet hatte und die Präsident Medvedev am 1. Februar dieses Jahres in Jekaterinburg vorgestellt wurden, sowie die Diskussion hierzu auf der Sitzung. Darüber hinaus enthält die Broschüre noch zwei Texte von Jan Raczyński und Lev Gudkov, die sich mit den öffentlichen Reaktionen auf dieses Programm und der Einstellung der Bevölkerung zu Stalin befassen.
Dieses Programm, das Thema Entstalinisierung und seine Relevanz für das heutige Russland und dies nicht zuletzt im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen – den angekündigten Ämtertausch zwischen Medvedev und Putin - standen im Mittelpunkt der beiden Veranstaltungen, die von oder unter Mitwirkung von MEMORIAL gemeinsam mit der DGO und der Heinrich-Böll-Stiftung/Hessen im Rahmen der diesjährigen Frankfurter Buchmesse angeboten wurden.
„‚Antistalinismus‘“ vor den Wahlen – neuer Kurs im Kreml?“ – lautete das Thema der ersten Veranstaltung (mit Irina Scherbakova, Anna Schor-Tschudnowskaja, Jan Raczyński, Margareta Mommsen und Manfred Sapper als Moderator). Im Einladungstext war noch von zunehmenden Abgrenzungsversuchen Medvedevs gegenüber Putin die Rede gewesen. So lag die Frage nahe, ob dies nicht inzwischen obsolet geworden sei. Trotz unterschiedlicher Bewertungen der Rolle Medvedevs war man sich einig darin, dass zumindest seine Rhetorik zu Hoffnungen Anlass gegeben hatte. So hatten die zuvor gebetsmühlenartig wiederholten Verunglimpfungen von MEMORIAL, als wäre das eine Organisation von Verrätern, die von ausländischen Sponsoren finanziert werde und dergleichen, aufgehört. Margareta Mommsen betonte, die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt habe nicht von vornherein festgestanden. Medvedev habe das Putin-Regime in vielen Punkten scharf kritisiert (natürlich ohne Putin selbst zu nennen). Nunmehr hätten aber offenbar die hinter Putin stehenden Clans den Machtkampf für sich entschieden.
Politische Reformen ebenso wie eine Modernisierung – Medvedevs erklärtes Ziel – sind, so Irina Scherbakova, ohne einen eindeutigen Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit nicht möglich. Daher ist das „Entstalinisierungsprogramm“ von besonderer politischer Bedeutung. Jan Raczyński erläuterte das Programm genauer. Alle über 40 Punkte des Programms haben im Wesentlichen ein Ziel, die traditionelle Einstellung, die den Staat verabsolutiert und die Menschen nur als „Baumaterial“ betrachtet, zu überwinden. Diese Vorstellung von der Größe des Staates wird gewöhnlich mit Stalin assoziiert. Im Einzelnen werden die Einrichtung von Gedenkstätten gefordert sowie die Beseitigung der Denkmäler von Tätern (allein in Moskau gibt es noch über 60 Lenin-Denkmäler; in anderen Orten sind in den letzten Jahren neue Stalin-Denkmäler errichtet worden), besserer Zugang zu Archiven, eine eindeutige juristische Bewertung des politischen Terrors und seine Verurteilung in Geschichtslehrbüchern, Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten bei Rentenzahlungen für Repressionsopfer u. v. m. Allerdings ist dieses Programm bisher nicht mehr als ein unverbindliches Papier mit Empfehlungscharakter (Anna Schor-Tschudnowskaja), es ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt und wenn, dann fast nur im Internet diskutiert worden.
In den 90er Jahren hatte das Ziel der Marktwirtschaft alles andere verdrängt, und MEMORIAL fand kein Gehör für seine Anliegen, berichtete Irina Scherbakova. Die gesuchte einigende nationale Idee wurde der starke Staat. Die jetzige Zeit werde immer wieder mit der späten Brezhnev-Zeit verglichen, wirtschaftlich im Hinblick auf die Rohstoffabhängigkeit und gesellschaftlich angesichts der zunehmenden politischen Apathie. Putins Sprecher Peskov habe diesen Vergleich auch nicht zurückgewiesen. Die Podiumsteilnehmer hegen allerdings nicht die Hoffnung auf eine Reformzeit, die darauf folgen könnte wie seinerzeit die Perestrojka auf die langen Jahre der Stagnation. Denn damals habe breiter Konsens darüber bestanden, dass Veränderungen im Sinne einer Demokratisierung vonnöten seien – eine Auffassung, die heute weitgehend fehlt.

Auch auf der zweiten Veranstaltung „Geschichtspolitik in Russland: Kampf um ‚Entstalinisierung‘“ stand das Programm dieses Namens ebenfalls im Mittelpunkt. Auf einem Bildschirm wurden Bilder gezeigt, die die die gegenläufigen Tendenzen veranschaulichen – Propaganda-Plakate für Stalin, stalinistische Parolen, Photos von Demonstrationen (unter maßgeblicher Beteiligung der KPRF), Ehrerbietungen an Stalins Grab an der Kremlmauer u. a. m. Diese Bilder scheinen, so Moderator Sapper, eine Omnipräsenz von Stalin zu suggerieren. Demgegenüber betonte Jan Raczyński, die öffentliche Reaktion auf Entstalisierungsbestrebungen falle keineswegs so negativ aus wie es scheinen könnte – sie sei nicht identisch mit der veröffentlichten Meinung. Dies belegen Umfrageergebnisse selbst des staatsnahen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, denen zufolge 70 % der Befragten für einen freien Zugang zu Archiven plädieren, über 50 % wesentliche Punkte des Programms unterstützen, ja sogar die heftig umstrittene Umbettung von Lenins Leichnam findet mehrheitlich Zustimmung. Dies zeige, dass die Arbeit von MEMORIAL nicht erfolglos war. Das „Entstalinisierungsprogramm“ soll dazu beitragen, verbreitete Stereotypen im Bewusstsein der Menschen und umso mehr bei politisch Verantwortlichen zu überwinden.
Die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit ist, wie Gerd Koenen betonte, insofern schwieriger als die der NS-Zeit, als es sich um Verbrechen der Machthaber an ihrem eigenen Volk handelte und zudem Täter in vielen Fällen selbst zu Opfer wurden. Das traumatische Beschweigen der Geschichte habe eben damit zu tun, dass es gerade für Russland – anders als für die anderen postsowjetischen Länder - besonders schwierig ist, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Die Bedeutung von MEMORIAL liege darin, hier einen „zivilisatorischen Kern“ zu bewahren, bis sich künftige Generationen dem Umgang mit der Vergangenheit gegenüber aufgeschlossener zeigen werden.
Vera Ammer, MEMORIAL Deutschland
29.10.2011

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Historiker in Russland vor Gericht - Warum?

In Archangelsk begann jetzt der Prozess gegen den Historiker Michail Suprun und den ehemaligen Leiter des Informationszentrums der Verwaltung für innere Angelegenheiten der Region, Alexander Dudarev.
Die Ermittlungsbehörden stellten fest, dass die ohne die Zustimmung der Angehörigen erfolgte Übergabe einer Datenbank über deportierte Russlanddeutsche an das Deutsche Rote Kreuz eine Straftat darstelle. Dem Historiker drohen nun zwei Jahre Haft wegen illegaler Sammlung und Verbreitung der privaten und vertraulichen Informationen. Dudarev könnte wegen Überschreitung der Dienstbefugnisse zu vier Jahren Haft verurteilt werden.
Informationen über die gerichtliche Verfolgung von Personen stellen nach russischer Gesetzgebung keine Verletzung der Privatsphäre dar, sondern müssen jedem Bürger zugänglich sein. Das gilt auch im Falle der Russlanddeutschen. Problematisch ist allerdings, wie so oft bei der russischen Justiz, dass die Rechtsbegriffe schwammig sind und willkürlich ausgelegt werden.
Berücksichtigt man ganz allgemein die gegen Suprun und Dudarev angeführten Argumente, so müsste auch die Datenbank des Verteidigungsministeriums über die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten als geheim eingestuft werden!
Der Prozess stellt einen bemerkenswerten Präzedenzfall für die Mitarbeiter der Archive und Forscher, die aus Angst vor möglicher Verfolgung die Herausgabe der Informationen nun zurückhalten werden.
Arsenij Roginskij, Vorsitzender von MEMORIAL International und selbst Historiker, sieht bei diesem Prozess die Gefahr, dass eine vollständige Rehabilitierung der in der Stalinzeit verfolgten Völker und der Bauern, die Opfer der Kollektivierung wurden, forthin unmöglich wird. Damit aber, so fürchtet Roginskij, würde auch und vor allem das gemeinsames Gedenken und die Bewältigung des Grauens der russischen Vergangenheit gezielt behindert.
22.10.2011

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Erklärung von MEMORIAL International zum Timoschenko-Urteil

Vor zwei Tagen wurde das Urteil vom 11.10.2011 über die frühere Premierministerin der Ukraine, Julia Timoschenko, durch das zuständige Kiever Gericht im Internet veröffentlicht. MEMORIAL International gibt am 17.10.2011 dazu folgende Erklärung ab:
Die strafrechtliche Verfolgung staatlicher Führungspersonen, die sich nicht mehr im Amt befinden, für bestimmte Regierungsentscheidungen, die sie während ihrer Regierungszeit getroffen haben, erfordert seitens des Gerichts besondere Umsicht bei der Definition der Vorsätzlichkeit, der einzelnen Straftaten, des eingetretenen Schadens usw. sowie der zu treffenden Strafmaßnahmen. Dabei muss dem Recht auf ein faires Verfahren besondere Aufmerksamkeit eingeräumt werden.
Die öffentlich vorliegenden Erklärungen über die Art Straftaten, die J. Timoschenko angelastet werden, der harte und nicht zu begründende Charakter der vorbeugenden Maßnahmen und des getroffenen Urteils sowie zahlreiche Verletzungen des Anspruchs auf ein gerechtes Verfahren während der Prozessdauer führen uns zu dem Schluss, dass das Strafverfahren politisch motiviert und als politische Abrechnung einzuordnen ist. Das veröffentlichte Urteil enthält auch keine vollständige Aufzählung der J. Timoschenko zur Last gelegten Straftaten.
MEMORIAL protestiert gegen die politische Instrumentalisierung gerichtlicher Verfahren und fordert die Aufhebung des Urteils und die Freilassung von Julia Timoschenko.
Der Vorstand von MEMORIAL International
17.10.2011

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MEMORIAL auf der Frankfurter Buchmesse

MEMORIAL International wird auch in diesem Jahr wieder auf der Frankfurter Buchmesse (12.-16.10.2011) mit einem Stand vertreten sein (5.0 C 973) und Publikationen sowie neue Projekte vorstellen: So werden Sie an unserem Stand erste Videointerviews aus unserem Projekt „Die letzten Zeugen“ mit deutscher Untertitelung sehen können.

Es sind zwei Veranstaltungen von bzw. unter Beteiligung von MEMORIAL geplant:

am 14.10., 19.00 Uhr, eine gemeinsame Veranstaltung mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropa-Kunde und der Heinrich-Böll-Stiftung im Saalbau Gutleut, Rottweiler Straße 32, 60327 Frankfurt am Main zum Thema:
„Antistalinismus“ vor den Wahlen – neuer Kurs im Kreml?
mit Irina Scherbakowa, Margareta Mommsen, Anna Schor-Tschudnowskaja unter der Moderation von Manfred Sapper („Osteuropa“)

und am 15.10., 11.15-12.00 Uhr auf der Buchmesse im Forum Dialog, 5.1 A 962:
Geschichtspolitik in Russland: Der Kampf um die „Entstalinisierung“
Podiumsteilnehmer: Gerd Koenen, Manfred Sapper („Osteuropa“) und als Vertreter von MEMORIAL Jan Ratschinskij, Irina Scherbakowa, Dmitrij Kokorin und Vera Ammer.

Die Veranstaltung hat die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Russland vor den Wahlen zum Thema und behandelt in erster Linie das „Entstalinisierungsprogramm“, das von der Gesellschaft MEMORIAL öffentlich zur Diskussion gestellt wurde.

Wir würden uns freuen, Sie am Stand und auf unseren Veranstaltungen begrüßen zu können.

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LET HIM GO NOW - Demonstration zum Jahrestag der Inhaftierung Khodorkovskijs

Die studentische Vereinigung „Behind Bars“ der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main http://www.facebook.com/behindbarsfrankfurt plant eine Demonstration zum Jahrestag der Inhaftierung von Mikhail Khodorkovsky, die über den Fall Khodorkovsky hinaus ein starkes Signal angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Russland aussenden und die tiefe Besorgnis über die fortschreitende Degradierung rechtsstaatlicher Standards durch die russische Rechtsprechung zum Ausdruck bringen will.
MEMORIAL Deutschland schließt sich dieser Initiative an. Die Erklärung der Veranstalter geben wir nachstehend im Wortlaut wieder:

„Aufruf zur Demonstration "Let Him Go! Now!" am 29.10. 2011 in Berlin
Termin: Samstag, 29. Oktober 2011, 15 Uhr
Treffpunkt: vor der Botschaft der Russischen Föderation,       
Unter den Linden 63-65, 10117 Berlin

Hiermit rufen wir zu einer Demonstration für die Achtung der Menschenrechte in Russland und gegen die Inhaftierung von Mikhail Khodorkovsky und Platon Lebedev auf. Am 29. Oktober werden sich Menschenrechtsaktivisten und russische Oppositionelle vor der russischen Botschaft versammeln, um an die Bedeutung des 8. Jahrestages der Inhaftierung Khodorkovskys zu erinnern.

Die Menschen in Deutschland und Russland sind sehr besorgt über die fortschreitende Degradierung von rechtsstaatlichen Standards in Russland und insbesondere über die unrechtmäßige Inhaftierung von Mikhail Khodorkovsky und Platon Lebedev. Ermöglicht wird diese fortwährende Inhaftierung durch die beharrliche Weigerung der russischen Strafverfolgungsbehörden, das geltende russische Recht anzuwenden, durch die Nichtachtung von Urteilen des obersten russischen Gerichtshofs sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Für diese Missachtung von nationalem und internationalem Recht sehen wir nur eine Ursache: Beiden Männern wurde Kritik an russischen Politikern und dem Beamtenapparat zum Verhängnis; für ihre freie Meinungsäußerung zahlen sie mit einem nun schon mehr als 2900 Tage währenden persönlichen Dilemma.
Über Jahre hinweg haben Khodorkovsky und Lebedev den Herrschenden in Russland den Spiegel vorgehalten und diese im Laufe ihrer Prozesse zu immer gröberen Verstößen gegen das russische Verfahrensrecht bzw. Verfassungsrecht veranlasst. So führen sie der internationalen Öffentlichkeit vor Augen, dass russische Gerichte oft weniger dem Recht als den Interessen einiger Weniger dienen. Diese werden vermutlich nicht davor zurückschrecken, bei Bedarf neue Vorwürfe zu konstruieren, die die Kreml-Kritiker für weitere Jahre hinter Gittern halten sollen.
Durch ihre ungebrochene Haltung angesichts dieser Bedrohung und vielfach inhumaner Haftbedingungen haben Khodorkovsky und Lebedev große Überzeugungskraft gewonnen und sind zu einem Sinnbild der russischen Modernisierungs- und Demokratiebewegung geworden.
Der fragwürdige „deal" an der Spitze Russlands im Vorfeld der kommenden Wahlen gibt aktuellen Anlass zur Sorge um diese Demokratiebewegung. Wir fürchten um die Rechte der Opposition und fragen uns, welche Wahl das russische Volk wirklich hat.

Deswegen gehen wir auf die Straße! Wir wollen ein freies, demokratisches Russland, einen guten Nachbarn, der sein eigenes Volk mit Respekt behandelt. Denn im Kern geht es nicht nur um das Schicksal zweier Männer hinter Gittern, sondern um ein Volk, welches seit Jahren politisch entmündigt wird und – bei Wahrnehmung seiner Bürgerrechte – ständig Repressionen fürchten muss.
Unsere Bemühungen werden ein geringer Bruchteil dessen sein, was die politischen Gefangenen für die Demokratie in Russland leisten. Nichtsdestotrotz versammeln wir uns und zeigen zum 8. Jahrestag der Inhaftierung von Mikhail Khodorkovsky – dem Tag, an dem seine erste Haftstrafe endet – unsere Solidarität mit ihm und allen politisch Verfolgten in Russland. Bitte unterstützen Sie diesen Einsatz für das Recht durch Ihre Teilnahme!“

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Alexanian in Moskau gestorben

Vassilij Alexanian, ehemaliger Vizepräsident des Erdölkonzerns Yukos, ist nach Auskunft seiner Familie im Alter von 39 Jahren in Moskau gestorben.
Der Menschenrechtler Valerij Bortchev, Mitglied des Menschenrechtsrats beim Präsidenten der Russischen Föderation, führt in einem Interview mit Echo Moskvy den Tod Alexanians auch auf die unhaltbaren Zustände in den russischen Haftanstalten zurück, wo z.T. stalinistische Gepflogenheiten herrschten. So sei der schwerkranke und fast vollständig erblindete Alexanian in Ketten an sein Krankenbett gefesselt worden. Im September 2006 waren bei Alexanian Krebs und Tuberkulose dianostiziert worden.
Die russischen Strafverfolgungbehörden werden immer wieder und zuletzt noch im Fall Magnitzkij scharf kritisiert.
Alexanian wurde 2006 wegen Unterschlagung, Geldwäsche und Steuerhinterziehung inhaftiert und nach zweieinhalb Jahren gegen eine Kaution von 50 Mio Rubel freigelassen, nachdem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Inhaftierung Alexanians als widerrechtlich bezeichnet hatte.
2010 wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt.
04.10.2011

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Bericht aus Moskau - ein Gespräch im Kölner Lew Kopelew Forum

mit Lena Zhemkova, Geschäftsführerin von MEMORIAL International, Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von MEMORIAL International, und Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Böll-Stiftung

Anders als geplant stand die am 26. Oktober 2011 von Elisabeth Weber, Mitglied des Beirats des Lew Kopelew Forums, geleitete Veranstaltung ganz im Licht - oder besser im Schatten - der jüngsten Entwicklung in Moskau, also der kurz zuvor bekannt gewordenen Information über den bevorstehenden „Ämtertausch“ zwischen Putin und Medvedev. Diese als Farce, ja als Verhöhnung empfundene Entscheidung hatte so keiner der Podiumsteilnehmer erwartet, ebenso wenig das Publikum, das der Veranstaltung über zwei Stunden gebannt und konzentriert folgte und sich mit Fragen beteiligte.
Medvedev sei, so Arsenij Roginskij, von einigen zwar immer nur als ein „Klon“ Putins angesehen worden, von anderen aber doch immerhin als ein Klon mit positiven Tendenzen. Sowohl Roginskij als auch Lena Zhemkova hatten nach ihren persönlichen Begegnungen mit Medvedev einen positiven Eindruck. So zeigte er Verständnis dafür, dass sich die NGOs durch die gesellschaftliche Atmosphäre unter Druck gesetzt fühlten. Anders als Putin betonte er die Priorität des Gesetzes, das über allem stehe, und er erklärte ausdrücklich, Freiheit sei besser als Unfreiheit. In letzter Zeit schien es Konflikte zwischen ihm und Putin zu geben. Vielen gab dies zu Hoffnungen Anlass, schien es doch darauf hinzudeuten, dass es irgendwo noch einen Raum für Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten gebe. Die jetzige Entscheidung über einen bloßen Platztausch zwischen beiden straft alle Hoffnungen Lügen. Sowohl Roginskij als auch Jens Siegert betonten, dass vor allem die Tatsache, dass Medvedev Premierminister werden solle, überrascht habe – er hätte zum Beispiel den im nächsten Jahr frei werdenden Posten des Präsidenten des Verfassungsgerichts übernehmen können. Die nunmehr bevorstehende zwölfjährige Regierungszeit Putins (die Verlängerung der Amtszeit geht auf eine Reform Medvedevs zurück) kann nach Roginskij nur durch schwerwiegende Wirtschaftskrisen in Frage gestellt werden, die zwar von vielen erwartet, aber von niemandem ernsthaft gewünscht werden. Die Folge ist eine zunehmende politische Apathie und unter Jugendlichen der verstärkte Wunsch nach Emigration.
Die wirkliche Gefahr geht für Roginskij indes nicht von Putin aus, sondern von der Funktionärsschicht in seiner Umgebung, die ihn unterstützt. Unter Medvedev waren diese Beamten leicht verunsichert – schließlich hätte es ja sein können, dass Medvedev einige seiner liberalen Bekenntnisse in die Tat umsetzt. Unter Putin fühlen sie sich sicher, selbst wenn er sich noch so liberal äußert.
Siegert berichtete, auch Medvedevs liberale Versprechungen seien nur leere Worte geblieben. So seien 11 hervorragende Anordnungen Medvedevs, die eine der Modernisierungskommissionen erreicht hätte, komplett im Sande der Bürokratie verlaufen. Die Rückkehr Putins erfolge zu einem Zeitpunkt, zu dem viele seiner schon überdrüssig seien, und zwar nicht nur die bekannten Gegner und Oppositionellen, sondern gerade diejenigen, die einst seine Anhänger waren und seine Politik begrüßt hatten (beispielsweise gegenüber Georgien als Schlag nicht nur gegen Georgien, sondern auch gegen die USA u. dgl.). Die generelle Skepsis betrifft die völlig ausufernden Korruption, die den Staat immer weniger funktionstüchtig werden lässt. Es besteht Konsens darüber, dass sich etwas ändern muss. Beliebt – vor allem bei dem Publikum, das sich im Internet oder durch die Presse (nicht im Fernsehen) informiert - sind Personen, die sich im Einzelnen widersetzen: Siegert führte u. a. den Piloten in Irkutsk an, der es, wenn auch vergeblich, abgelehnt hatte, mit dem Abflug auf den verspäteten Gouverneur zu warten. Das Streitgespräch mit dem Tower war tags darauf im Internet nachzulesen und trug dem Piloten eine landesweite Zustimmungswelle ein. Immerhin haben 60-65 % der Bevölkerung Internet-Zugang, und 40 % nützen es regelmäßig.
Dieser Konsens, der Wunsch nach Veränderung erklärt nach Roginskij auch, dass Michail Prochorov, der inzwischen abgesetzte Vorsitzende der Partei „Pravoe delo“, im Sommer einer Umfrage in sibirischen Städten zufolge dort auf einen Schlag für diese Partei 17-20 % Zustimmung erzielte (obwohl noch gar keine Propaganda stattgefunden hatte und obwohl Prochorov als bekannter Milliardär eher den Hass auf sich ziehen müsste). Zu erklären war dies mit seiner ungewohnten und eigenständigen Art – und diese Zustimmung ist ein weiteres Indiz dafür, dass viele etwas anderes, Neues wollen. Bezeichnend war indes, dass nach diesen Umfragen und nach einer eigenmächtigen Aktion Prochorovs (er hatte Plakate mit seinem Portrait und Parolen verbreitet) alles in die Wege geleitet wurde, um ihn aus dem Sattel zu heben.
Einen wesentlichen Grund für die Rückkehr Putins (der alles andere als ein „workaholic“ sei) ins Präsidentenamt sieht Roginskij in den geplanten wirtschaftlichen Umgestaltungen des nächsten Jahrzehnts, wie z.B. der Privatisierung der größten Staatsunternehmen (Rosneft, Gazprom, Eisenbahn). Diese grundlegenden Reformen im Griff und unter Kontrolle zu behalten, zu bestimmen, wer den Zuschlag bekommt, in wessen Hände alles kommt – das könne sich Putin nicht entgehen lassen. Außenpolitisch ist Hauptziel, die ehemaligen Sowjetrepubliken (abgesehen vom Baltikum) zu einen und zu kontrollieren.
Befürchtungen insbesondere hinsichtlich der Situation für die NGOs hegt vor allem Lena Zhemkova. Sie betonte, man müsse sich auf zwölf schwere Jahre einstellen und sich mit bescheidenen Erfolgen – Siegen – zufrieden geben. Es wäre schon ein solcher Sieg, wenn sich die Lage für eine NGO wie MEMORIAL nicht verschlechtere, wenn Institutionen wie das Levada-Zentrum, die Böll-Stiftung sowie die Zeitung Novaja Gazeta erhalten blieben und weiter agieren könnten. Hier gibt es auch Grund zur Zuversicht: Die Podiumsteilnehmer berichten übereinstimmend, dass sich in letzter Zeit immer mehr und auch in der Provinz gezeigt hat, dass gerade unter Jugendlichen ein zunehmendes Interesse an öffentlichen Diskussionen (anders als früher nicht mehr nur im privaten Kreis) besteht und dass diese Jugendlichen keine Angst haben.
Für MEMORIAL kommt es laut Arsenij Roginskij jetzt darauf an, als NGO nicht in die Rolle einer radikalen politischen Partei zu schlüpfen, auch wenn dies immer wieder erwartet werde.

Vera Ammer, MEMORIAL Deutschland

02.10.2011

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Der Straßburger Richterspruch im Kommentar

Vera Vassiljeva, Korrespondentin des russischen Menschenrechtsportals hro.org, kommentiert am 21.09.2011 den Straßburger Richterspruch zur Yukos-Klage auf eigene Weise:
Der Konzern sei nicht aus politischen Gründen diskriminiert worden?
Das habe der Ermittler im Pitschugin-Prozess, Alexander Bannikov, ganz anders gesehen. Und gesagt.
Auch die Weigerung einiger Staaten, die Auslieferung ehemaliger Yukos-Mitarbeiter abzulehnen, weil es sich um politische Flüchtlinge handele, passe nicht so recht ins Bild.
Möglicherweise sei der Begriff schlecht gewählt, und es wäre besser von persönlichen, materialistischen Gründen zu sprechen?
Svetlana Gannushkina, Vorsitzende des Flüchtlingshilfswerks „Bürgerbeteiligung“ und Mitglied des Menschenrechtszentrums von MEMORIAL, habe der Autorin gegenüber erklärt, dass in der Yukos-Sache weder nach objektiven noch nach sachlichen Kriterien verhandelt würde. Schon 2003 habe sie bei einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Putin zu Menschenrechtsfragen den Eindruck gewonnen, dass dieser sowohl auf den Menschen Chodorkovskij als auch auf den Prozess äußerst emotional reagierte.
Dieser Eindruck wird durch den Chefredakteur der polnischen Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, bestätigt, dem in einer Diskussion am 6. September 2010 im internationalen Waldai-Klub die sehr persönliche Reaktion Putins in der Sache Chodorkovskij aufgefallen war.

Ist der Yukos-Konzern also ein Opfer persönlicher Antipathie von Seiten Putins? Diese Feststellung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs steht noch aus …

22.09.2011

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