Direktor des Museums von Medvezhegorsk festgenommen

Sergej Koltyrin, seit 1991 Direktor des Regionalmuseums von Medvezhegorsk, ist am heutigen 2. Oktober in Petrozavodsk festgenommen worden, mit ihm noch eine weitere Person, deren Name zunächst nicht bekannt wurde. Möglicherweise handelt es sich um seinen Bekannten Jevgenij Nosov aus Severodvinsk.

Beiden wird „Pädophilie“ unterstellt (Art. 135, Abs. 4 StGB der Russischen Föderation).

Die Gedenkstätte Sandarmoch gehört zum Bereich des genannten Museums, das denn auch maßgeblich an den jährlichen Gedenkveranstaltungen am 5. August in Sandarmoch mitgewirkt hat. Der jüngst propagierten Auffassung, in Sandarmoch könnten sowjetische, von Finnen ermordete Kriegsgefangene verscharrt sein (die als Anlass zu den kürzlcih vorgenommen, umstrittenen Ausgrabungen gedient hatte), stand er skeptisch gegenüber. Allerdings hielt er sich mit diesbezüglichen Äußerungen in letzter Zeit zurück – unter Hinweis auf massive Drohungen seitens der Machtorgane.

Mit der beabsichtigten Anklage wegen angeblicher Pädophilie setzen die Ermittlungsbehörden die Methode der Diffamierung und Kriminalisierung fort, die sie schon gegen Jurij Dmitriev, den maßgeblichen Entdecker und Erforscher von Sandarmoch und Leiter von Memorial Karelien, angewandt hatten – offenbar sehen sie darin ein probates Mittel, um Historiker, die die Geschichte der Hinrichtungsstätte Sandarmoch aufarbeiten, definitiv auszuschalten.

2. Oktober 2018

 

 

 

Die Situation der hungerstreikenden ukrainischen Häftlinge in Russland wird immer prekärer insbesondere von Volodymyr Baluch und Oleh Sentsov, die sich bereits seit weit über 130 Tagen im Hungerstreik befinden.

Die internationale Solidarität hält unvermindert an. In Deutschland findet (fast) jeden Donnerstag eine Mahnwache vor der russischen Botschaft statt, initiiert von Ronald Wendling.

 

 

In Paris werden 24stündige Hungerstreiks vor der russischen Botschaft abgehalten, die Teilnehmer lösen sich ab.

 

Darüber hinaus ist Oleg Sentsov einstimmig zum Ehrenbürger der Stadt Paris gewählt worden.

Solidaritätskundgebungen gibt es auch in Russland. In Moskau werden seit etwa drei Wochen täglich Einzelmahnwachen organisiert, vor der Präsidentenadminsitration, außerdem am Gribojedov- und Okudzhava-Denkmal, die Teilnehmer sprechen die Termine per Facebook ab.

 

 

Kundgebungen finden in noch weiteren Städten statt, vor allem in Petersburg auf dem Nevskij-Prospekt, Petrozavodsk u. a. In Moskau und Petersburg kommt es immer wieder zu Festnahmen und Attacken.

 

26. September 2018

 

 

 

Erklärung der Internationalen Gesellschaft Memorial

 

Am heutigen 20. September 2018 hat die Richterin des Stadtgerichts Schali Marina Sajnetdinova dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben und die Öffentlichkeit sowie Presservertreter vom Prozess gegen Ojub Titiev ausgeschlossen. Dies erfolgte unter dem Vorwand, dass man die Sicherheit der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, die als Zeugen der Anklage im Prozess aussagen, nicht gefährden dürfe.

Der Vorwand ist absurd: Die Staatsanwaltschaft fürchtet plötzlich um die Sicherheit der Polizisten, nachdem an elf öffentlichen Verhandlungstagen bereits 57 Zeugen von 65, die die Anklage vorgeladen hat, vernommen worden sind. Fast alle Zeugen sind Mitarbeiter der Polizei. Es sind nur noch wenige Polizisten zu befragen, und zwar gerade die, die aktiv daran beteiligt waren, das Verfahren gegen Titiev zu fabrizieren.

Offenbar haben diese Personen erkannt, dass die „Argumente“ der Anklage vor Gericht keinen Bestand haben können und dass ein öffentliches Gerichtsverfahren alle Lügen und Ungereimtheiten in den Aussagen der von der Anklage beigebrachten Zeugen ans Licht bringen wird. Jetzt werden sie nicht einmal mehr den Anschein einer Gesetzlichkeit im Titiev-Prozess zu erwecken suchen, und das Gericht ist ihnen dabei zu Hilfe gekommen.

Im Zusammenhang mit unserer Forderung, die gerichtliche Zuständigkeit bei den Ermittlungen und im Prozess zu ändern, haben wir immer wieder festgehalten, dass es in „Kadyrovs“ Tschetschenien keine Hoffnung auf ein gerechtes und unvoreingenommenes Verfahren gegen jemanden geben kann, den Kadyrov bereits zum Verbrecher und „Volksfeind“ erklärt hat. Die heutige Gerichtsentscheidung bestätigt unsere Befürchtungen.

Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft Memorial

 

20. September 2018

 

Nachtrag: Inzwischen wird die Öffentlichkeit doch wieder zu den Gerichtsverhandlungen zugelassen.

Oktober 2018

Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial

Zehn oppositionell eingestellte Einwohner der Stadt Moskau und der Moskauer Region werden beschuldigt, im Dezember 2017 die extremistische Organisation Novoe Velitschie (Neue Größe) gegründet zu haben, angeblich mit dem Ziel eines gewaltsamen Sturzes der Regierung sowie der konstitutionellen Regierungsform der Russischen Föderation (Art. 282.1 StGB RF).

Wir haben die Unterlagen des Verfahrens gründlich geprüft und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Organisation Novoe Velitschie im Wesentlichen von den Sicherheitsdiensten gegründet worden ist, die sich bemühten, der Gruppe extremistische Züge zuzuschreiben.

Einer der Gründer und Führer von Novoe Velitschie ist offensichtlicher Agent der Sicherheitsorgane (wahrscheinlich des FSB) und den Mitgliedern der Gruppierung als Ruslan D. bekannt. Bei seiner Befragung als Zeuge wurde er im Protokoll als Aleksandr Konstantinov eingetragen (weitere Personalien werden geheim gehalten). Er war Führungsmitglied, Sekretär der Organisation und Leiter des finanziellen Bereichs. Mit Hilfe von Ruslan D. verfassten die Geheimdienste selbst Satzung und Programm von Novoe Velitschie, und zwar so, dass es den Merkmalen einer extremistischen Vereinigung entsprach, und mieteten für die Gruppierung ein Büro mit „Wanzen“ an.

Als die minderjährige Anna Pavlikova die Gruppe wegen eines Streits verließ, überredete der Agent sie zurückzukommen. Nach einem Monat wurde sie verhaftet und verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, wobei ihre Gesundheit ernsthaften Schaden nahm.

Neben Ruslan D. wurden zwei weitere Mitarbeiter der Polizei in Novoe Velitschie eingeschleust sowie offenbar ein oder zwei weitere Informanten. Aber ungeachtet der Anstrengungen der Provokateure finden sich in Satzung, politischem Programm und Flugblättern keine konkreten Worte und Leitsätze darüber, dass die Mitglieder auf gewaltsamem Weg den Sturz der Regierung beabsichtigen oder die konstitutionelle Regierungsform Russlands verändern wollen. In den auf der Website der Gruppierung veröffentlichten Texten sehen wir keine direkten Aufrufe zur Gewalt.

Das sogenannte Verfahren Novoe Velitschie ist ein Symbol der Brutalität und Ungerechtigkeit des Kampfes gegen Extremismus im heutigen Russland, erklärt Sergej Davidis, Leiter des Programms zur Unterstützung politischer Gefangener im Menschenrechtszentrum Memorial. Eine Gruppe oppositionell eingestellter junger Menschen ist zum Opfer von Provokationen der Machthaber geworden. Sie haben keine gewalttätigen Handlungen verübt, keine Terroranschläge und Überfälle geplant.

Sie werden Gesprächen und nicht das Gesetz verletzender Handlungen beschuldigt, die nur deswegen für verbrecherisch erklärt werden, weil sie angeblich im Rahmen einer extremistischen Organisation stattfanden, die von eingeschleusten Mitarbeitern der Geheimdienste gegründet wurde.

Die Angeklagten erkennen ihre Schuld nicht an. Die Teilnahme in der Gruppierung Novoe Velitschie leugnen sie nicht, betonen aber die Legalität ihrer Tätigkeit und dass sie nicht vorhatten, Regierung und Verfassung mit gewaltsamen Mitteln zu stürzen.

Die Gruppierung aus 13 Personen bestand zu fast einem Drittel aus Vertretern verschiedener Sicherheitsorgane, die offenbar in Konkurrenz zueinander standen, die Organisation gründeten und unterstützten und deren Ziel nicht der ‚mythische Sturz‘ der verfassungsgemäßen Ordnung war, sondern das Hervorrufen eines Strafverfahrens.

Die Einhaltung des Gesetzes im Verfahren Novoe Velitschie bedeutet die Einstellung des Verfahrens und wir stellen fest, dass dies eine Frage des politischen Willens ist. Das Scheitern der Provokation von Ruslan D. ist offensichtlich, und die Geheimdienste selbst sind daran interessiert, solche Praktiken in ihren Reihen zu stoppen, heißt es in einer von der Novaja Gazeta vorbereiteten Petition an die russische Führung, die auf dem Portal von Change.org unterzeichnet werden kann.

Wir sind der Meinung, dass die beschriebenen Aktionen der Sicherheitskräfte eine Provokation der Polizei darstellen, die nach Art. 5 des Gesetzes  „Über operative Untersuchungen“, verboten ist: „Den Ermittlungen durchführenden Behörden ist es verboten, zu widerrechtlichen Handlungen anzustiften, zu überreden oder direkt oder indirekt dazu anzuregen.“

Memorial betrachtet Anna Pavlikova, Marija Dubovik, Ruslan Kostylenkov, Maksim Roschtschin, Petr Karamsin, Pavel Rebrovskij, Dmitrij  Poletaev, Sergej Gavrilov, Vjatscheslav Krjukov und Raschid Rustamov als politische Gefangene und fordert ihre sofortige Freilassung und die Bestrafung der für ihre Strafverfolgung Verantwortlichen.

Die Anerkennung von Personen als politische Gefangene durch Memorial bedeutet keine Übereinstimmung oder Billigung mit deren Ansichten, Äußerungen und Handlungen.

23. September 2018

 

 

 

Am 13.09.2018 fand vor dem Tverskoj-Bezirksgericht in Moskau die Verhandlung gegen Oleg Orlov, Leiter des Programms Gorjatschije Totschki im Menschenrechtszentrum Memorial, statt. Bei der Verhandlung waren Angehörige der Schwedischen und Australischen Botschaft sowie ein Mitglied einer EU-Delegation in Moskau anwesend. Oleg Orlov hatte sich gemeinsam mit Svetlana Gannuschkina, Leiterin der Flüchtlingshilfsorganisation Grashdanskoe Sodejstvie, am 9. Juli, dem Tag des Verhandlungsbeginns gegen Titiev, auf dem Manegenplatz in Moskau zu einer Kundgebung für Titiev postiert. Orlov und Gannuschkina hatten Plakate mit der Aufschrift „Freiheit für Ojub Titiev“ in die Höhe gehalten. Die Aktion war nicht mit den Behörden abgestimmt. Orlov, dem ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht (§ 20.2. Ordnungsstrafrecht der RF, Verstoß gegen die Bestimmungen zu Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, eines Marsches oder einer Einzelmahnwache) vorgeworfen wird, äußerte sich bei der Verhandlung folgendermaßen:

„Der in Tschetschenien gegen unseren Freund Ojub Titiev begonnene Prozess ist aus unserer Sicht ein sowohl für die russische als auch für die internationale Gesellschaft sehr wichtiges Ereignis. Die Anklage gegen Titiev ist vollständig fabriziert, er ist ein politischer Gefangener. Darauf muss die Gesellschaft reagieren. Aus diesem Grund hielten wir es für dringend geboten, diese Aktion genau am 9. Juli genau im Zentrum Moskaus durchzuführen, um diese wichtige Information den Bürgern unseres Landes, den nach Moskau gereisten Gästen und den Massenmedien zur Verfügung zu stellen. Zugleich beschränkte der Präsidentenerlass Nr. 202 vom 9. Mai 2017 die Durchführung von Straßenaktionen in Moskau und anderen Städten, in denen Veranstaltungen im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft stattfanden, und ließ faktisch keine Hoffnung auf die Möglichkeit, eine mit den Behörden abgestimmte Aktion zur Unterstützung von Ojub Titiev am 9. Juli im Zentrum von Moskau abzuhalten. Aus unserer Sicht widerspricht dieser Ukas den Normen der Verfassung der Russischen Föderation. Im Zusammenhang damit hielten ich und Svetlana Gannuschkina es für richtig, unser Recht auf Freiheit der Rede und der Versammlung zu nutzen, die durch Artikel 29 und 31 der Verfassung der Russischen Föderation sowie durch Artikel 10 und 11 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind. Unsere friedliche Mahnwache bedrohte weder die Interessen der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung noch die Gesundheit und Sittlichkeit Anderer. Ich sehe und sah keine Grundlage für unsere Festnahme.“

Mehrere Anträge der Verteidigung, wie beispielsweise die Übermittlung einer Anfrage an das Verfassungsgericht der Russischen Föderation zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Punkt 11 des oben erwähnten Präsidentenerlasses Nr. 202 vom 9. Mai 2017, wurde vom Gericht abgelehnt.

Oleg Orlov wurde zu einer Geldstrafe von 10 000 Rubel (umgerechnet etwa 127,- Euro) verurteilt, die Verteidigung wird gegen das Urteil Berufung einlegen. Die Verhandlung gegen Svetlana Gannuschkina ist für den 1. Oktober angesetzt.

 

18. September 2018

 

 

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