Interview mit Tamara Petkewitsch



Nachfolgend dokumentieren wir ein Interview mit Tamara Petkewitsch von Radio Svoboda in der Übersetzung von Christina Riek. Eine Kurzbiographie von Tamara Petkewitsch finden Sie hier.

Die 96-jährige Schauspielerin und Schriftstellerin Tamara Petkewitsch erinnert sich an den März 1953[1].


„Ich weinte – das ist unmöglich, das ist unglaublich. Ich glaube jedem Satz, jedem Wort, das Tamara Wladislawowna in ihrem Buch schrieb. So viel hat diese Frau durchlebt! Das ist für mich höchste Literatur, denn das Buch vereint die ganze Wahrheit über das Leben und das bemerkenswerte Talent der Autorin. Ich habe verstanden, dass ich es hier mit einer großen, bedeutenden, genialen Prosaistin zu tun habe“, so äußert sich Eldar Rjasanow zur Autobiografie der Schauspielerin und Theaterwissenschaftlerin Tamara Petkewitsch „Die Liebe gab mir Hoffnung[2]“.


Der Vater von Tamara Petkewitsch wurde im Jahr 1937 verhaftet und erschossen. Sie wurde als Tochter eines „Volksfeindes“ vom Komsomol ausgeschlossen. Im Jahr 1943 wurden auch sie und ihr Mann festgenommen. Sie wurden zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, zu drei Jahren Aberkennung der bürgerlichen Rechte und der Beschlagnahmung des Eigentums. Ihre Strafe saß sie in Lagern in Kirgisien und Komi ab. Im Lager bekam sie ein Kind, von dem sie später getrennt wurde. Nach der Freilassung arbeitete sie an Theatern in Schadrinsk, Tscheboksary und Chişinău. Erst 1959 konnte sie wieder nach Leningrad zurückkehren. Über ihr Leben nach dem Lager schrieb Tamara Petkewitsch in ihrem zweiten Buch „Im Hintergrund Sterne und Angst“. Ihre Memoiren wurden in europäische Sprachen übersetzt und Marina Rasbeschkina drehte über Tamara Petkewitsch einen Dokumentarfilm.


Im März 2016 wurde Tamara Wladislawowna 96 Jahre alt. Unser Gespräch führten wir nur wenige Tage vor ihrem Geburtstag, als die Stalin-Verehrer den Todestag ihres Vorbildes begangen und sein Grab an der Kremlmauer mit roten Nelken überhäuften.


RL/RFE: Wenn man heute in einen großen Buchladen geht und in der Geschichtsabteilung oder in der für Autobiografien steht, ist es unwahrscheinlich, dass man Ihre Bücher findet. Ein großer Teil des Buchbestandes ist den Heldentaten Stalins gewidmet und den Erzählungen darüber, dass Stalin von seinen Feinden umgebracht wurde, wie er den Krieg gewann, die Wirtschaft wieder ankurbelte, die Industrialisierung durchführte und was er doch für ein großer Führer und Mensch war.


Meinen Sie das ernst?


Ja, vollkommen ernst.  


Ich glaube, dass es das Bedürfnis nach einem konkreten Namen ist, der durch seine Macht eine Autorität ist.


Es ist möglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den 30er bis 50er Jahren aufrichtig so ähnlich dachte.


Ich gehöre nicht zu diesen Personen. Ich wollte damals protestieren, denn mein Leben wurde unter der Führung dieser Person zermahlen. Ich habe ihn also nie verehrt. Die Menschen brauchen wahrscheinlich ein reales Vorbild, eine Person, die Macht hat und die zeigt, was zu tun ist. Die Menschen hatten immer das Bedürfnis danach, dachten sich so etwas aus, heroisierten jemanden und unterstützten dann diese Person. Ich habe das nie verstanden, ich habe weder Lenin noch Stalin verstanden. Aber es gibt genug solcher Beispiele: auch Hitler und Mussolini, wer wurde denn alles glorifiziert, all jene, die im Grunde gar nichts waren.


Als Mensch in einer totalitären Gesellschaft; wenn schlecht informiert ist, merkt man plötzlich, dass man der Mehrheit nicht zustimmt. Wann haben Sie gemerkt, dass es Ihnen so erging?


Ich habe das schon früh gespürt, irgendwie von Anfang an. Es gab für mich keine Autorität. Ich glorifizierte Stalin nicht. Ich habe nicht verstanden, wofür er verehrt wurde. Er hat meiner Familie nur Schmerz und Leid zugefügt. Wissen Sie, die Fähigkeit selbstständig zu denken, wird nicht anerzogen, denn es gibt viele Lügen, die Wahrheit gilt nicht viel und sie ist sehr viel schwieriger als die Lüge. Und die Menschheit wählt für sich so einen Raum aus, wo einem Illusionen Freiheit und Verantwortungslosigkeit vor einem selbst vorspiegeln. Das macht dem Menschen keine Ehre. Das moderne Leben will es sich leicht machen – so ist es besser, so ist es leichter, leichtsinnig. Das Bedürfnis zu denken und die Wahrhaftigkeit zu suchen, kann nicht anerzogen werden. Das ist das traurige Zeugnis des menschlichen Lebens, es macht dem Leben keine Ehre, überhaupt keine.   


Tamara Wladislawowna, erinnern Sie sich an den März 1953, als Stalin starb?


Ich bin ganz intuitiv durch das Zimmer getanzt, völlig unbewusst. Ich konnte diesen Namen weder hören noch ertragen. Ich machte einfach nur irgendwelche unbewussten Tanzschritte durch das Zimmer. Das war nicht charakteristisch für mich, das war mir nicht eigen, ich musste einfach nur irgendwelche Bewegungen machen, so als ob ich etwas wegwürfe, ich wollte etwas wegwerfen, ich freute mich. Und mir schien, dass alle anderen das auch taten. Als mir klar wurde, dass das nicht stimmte (ich lebte damals im Theater-Studentenwohnheim) und ich sah, dass die Menschen weinten, machte mich das stutzig. Ich verstand, dass ich die Welt, die mich umgibt, in gewisser Weise nicht nachvollziehen konnte. Die Menschen brauchten einen Kult der Stärke, sie wollten beschützt sein. Sie brauchten Stärke, den Schutz der Stärke und es war nicht wichtig, wie dieser aussah und welche Moral dahintersteckte. Man brauchte einfach nur Stärke und das war’s. Und dann bricht diese Stärke plötzlich zusammen, was soll man da machen.   


Sie konnten wahrscheinlich im März 1953 mit niemandem Ihre Freude teilen. Mussten Sie dann nicht auch so tun, als trauerten Sie?


Ich habe nicht so getan, als trauerte ich. Ich sah, dass das so gemacht wurde, das war ein sehr schwieriges Gefühl des Erstaunens. Ich konnte nicht glauben, dass das Land in eine solche Trauer verfallen war, so als hätte es gleichzeitig kein Unglück, keine Festnahmen und alle anderen Gräueltaten gegeben. Ich schaute mich erstaunt um und sah diese Tränen und die Trauer. Mein Gott, was war das für eine Trauer! Es war seltsam und ich schaute weg. Ich versuchte die Welt zu ergründen, ihre Abgründe, ihre Tiefen.


Und heute sagt sogar ein Duma-Abgeordneter[3], dass die Repressionen eine Erfindung sind.


Wer erklärt den Menschen, dass es in ihrer Geschichte, die ihre Eltern und Nachbarn durchlebten, nur Schmerz und Verluste gab und dass Familien zerrissen wurden? Wer erlaubt ihnen, in dieser angenehmen Täuschung zu leben? Nun, das sind wir selbst, so sind wir und wahrscheinlich können wir nicht anders sein.


Erhalten Sie nun Dankesbriefe von den Lesern Ihrer Bücher?


Nein, ich werde nicht von solchen Briefen überhäuft. Ach, die Menschen sind müde, sie wollen unbekümmert leben, so sorgenfrei wie nur möglich. Die Wahrheit zieht sie nach unten, sie schieben sie von sich weg. Irgendwie haben sie gelernt, das von sich zu schieben. Was soll’s.


Wahrscheinlich waren sogar Menschen im Lager, die dachten, dass Stalin groß sei und dass ihn dumme Berater umgeben?


Es gab auch damals solche Menschen. Das Land war in Rote und Weiße geteilt, noch in irgendwelche anderen, in Braune, Graue, so klassifiziert ist die Menschheit. Sie will nicht selbstständig leben.


Wahrscheinlich haben Sie früher unser Radio schon gehört?


Natürlich, selbstverständlich.


Wissen Sie, dass wir im März 1953 mit der Berichterstattung anfingen?


Im März 1953? Ja, das war ein Tag, ich erinnere mich, wie ich bei der Übertragung Stockungen vernahm und schrie: „Ruhe, Ruhe! Jetzt kommt etwas“, und ja, es kam etwas.


 Aufgedeckt, aber die Verbrecher blieben straffrei, es gab keine Reue, kein Gericht.


Nein, von Reue blieben wir weit entfernt. Und so lebten wir weiter ohne Reue. Und so leben sie auch heute, ohne jemals die Taten bereut zu haben. Aber diese Wahrheiten sind auch heute nicht beliebt. Soweit kommen wir jedoch gar nicht, diese Frage wird auf die lange Bank geschoben. Und so leben wir mit unserem Schicksal. Niemand beschäftigt sich damit. Wenn es irgendwelche moralischen Kräfte gäbe, so wären sie wahrscheinlich nicht mehr in der Lage dies umzukehren, sie können nicht zum Ursprung zurück. Das Leben zu überdenken ist für viele eine tödliche, eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Hier ist man unfähig zu denken, man will sich das Leben nicht noch schwerer machen. Deshalb schütteln wir das mit Leichtigkeit von uns ab. Niemand riskiert etwas, und ja, es kann sein, dass das auch bei niemandem funktioniert. Man kann also niemandem Vorwürfe machen, auch nicht sich selbst, aber das ist nicht gefragt und war es auch nie. „Es ist furchtbar auf dieser Welt zu leben, in dieser Welt wird man nicht heimisch. Der Wind bläst bei Sonnenaufgang, die Wölfe reißen ein Häschen.“


Ein Gedicht von Nikolaj Olejnikow. Er wurde 1937 erschossen.  


Was sollte man denn tun? Erschießen! „Erschießung[4]“, sagte Wladimir Iljitsch Lenin. Erschießung – das Wort ist so langgezogen. Oh, mein Gott! Was kann man denn dazu noch sagen?


Ich sah Personen, die an Stalins Grab rote Nelken niederlegten und dachte, dass ich mit Ihnen darüber reden möchte, mit einer der letzten Zeuginnen.


Ja, zum Glück eine der letzten. Es ist trotzdem traurig: eine Generation von moralisch gefestigten Menschen geht und dann geht es weiter. Aber wir verzweifeln nicht, wir gehen darum herum, denn das Leben schreitet sehr schnell weiter. Wir eilen an den Stationen vorbei, an denen man anhalten und nachdenken sollte.


Tamara Wladislawowna, was möchten Sie den jungen Menschen sagen, Ihren Urenkeln, die in Russland im 21. Jahrhundert leben werden?


Ich möchte, dass die Menschen nicht nichts tun, dass sie nachdenken, denn für das eigene Leben und dafür, dass man moralisch lebt, muss man nachdenken. Schon längst hätte man alles überdenken und Schlüsse ziehen müssen und dies den Menschen klarmachen und ihnen helfen, sich dessen bewusst zu werden. Wir sind es alle generell nicht gewohnt, etwas zu Ende zu denken, aber das ist sehr wichtig. Wenn es etwas Falsches ist, fordert dieses Falsche später ein, in die Tat umgesetzt zu werden und beharrt auf seinem Standpunkt. Zwar später, aber es beharrt darauf. Und hier gibt es ein vollkommenes Unvermögen darüber nachzudenken, etwas zu vergleichen, Tatsachen heranzuziehen, ja, diese Tatsachen überhaupt zu kennen. Doch dafür muss man wissen wollen, und nur wenige wollen heute noch wissen. Wahrscheinlich geben wir uns selbst große Mühe, uns dafür zu entschuldigen. Die Menschen sind müde. Sie sind müde, die Tatsachen dem eigenen Leben, den eigenen Tätigkeiten gegenüber zu stellen, das bringt ihnen niemand bei. Die Menschen schaffen es nicht mehr, zu leben, tief einzuatmen, wenn es einen Anlass zur Freude gibt. Das Leben ist schwer, sehr schwer. Vor allem, wenn es nicht die Wahrheit als solche gibt, manche definieren Wahrheit auf eine Weise, andere ganz anders. Natürlich ist es eine schwere Bürde, eine so schwere Last, die die Kräfte übersteigt. Aber maßgebende Quellen für das Lösen dieser Aufgabe gibt es auch wenige. Etwas ist von uns nicht ganz durchdacht, etwas lassen wir immer länger unberücksichtigt, das bedeutet, dass wir es ganz aus den Augen verlieren. Und wenn man dieses Furchtbare irgendwann hört, das Urteil über die eigene Geschichte, dann kann man tatsächlich an der Wahrheit verzweifeln. Man muss gründlicher darüber nachdenken, vor allem in weiterführenden Schulen, dort müssen in der heutigen Zeit Möglichkeiten gefunden werden, wie gelehrt werden kann, selbst zu denken und zu reflektieren. Man muss denken und lernen zu denken.


Wurden Sie schon einmal eingeladen, vor Schülern zu erzählen, was Sie erlebt haben?


Nein, ich wurde nicht eingeladen, diese Erfahrung habe ich nicht gemacht. Aber das müsste Teil des Lehrplans sein. Wie oft wurde schon überlegt, das auf Schulebene durchzuführen. Bei uns werden keine Querdenker erzogen, nein. Früher, ich erinnere mich, als ich in die Schule ging, gab es viele Diskussionen, es wurde sehr lebendig diskutiert und, meiner Meinung nach, hatten sie auch einen Nutzen. Und dann wurde das ausgesprochene Wort gegen die Menschen verwendet und die positive Wirkung verkehrte sich ins Gegenteil. Und irgendwie wurden auf diese Weise alle lebendigen, ja hitzigen Diskussionen in der Schule ausgelöscht. Da witterte man wohl eine Gefahr, und dann waren das Denken nicht mehr da.


Denken Sie oft an die 30er-Jahre?


Ich kann nicht nicht an die 30er-Jahre denken. Die Familie wurde getrennt, der Vater verhaftet und ich aus dem Komsomol ausgeschlossen, die ganze Klasse stimmte für meinen Ausschluss bei der Komsomol-Versammlung. Ich wurde sogar von der ersten Reihe in die letzte Reihe umgesetzt. Sie sagten einfach nur, ich solle mich in die letzte Reihe setzen, sie warfen mich raus, das wurde mir befohlen. Das waren schwere Jahre. Alle haben freundschaftlich für meinen Ausschluss gestimmt. Obwohl es zwei oder drei Hände gab, ich erinnere mich, zwei, drei Jungs haben die Hände nicht gehoben und das hat mir geholfen im Leben, das hat mir wirklich geholfen. Zwei, drei Hände haben nicht für den Ausschluss gestimmt, ich erinnere mich für immer dankbar an diese Jungs, die nicht die Hände erhoben.  


        Übersetzt von Christina Riek






[1] Übersetzung des Interviews mit Radio Svoboda (Radio Liberty/Radio Free Europe) vom 13. März 2016. Auf Russisch anzuhören und nachzulesen unter http://www.svoboda.org/a/27605368.html, dort sind auch Fotos mit Tamara Petkewitsch abgebildet.

[2] Der Originaltitel lautet „Жизньсапожок непарный“, was ungefähr „Das Leben ist ein einzelner Stiefel“ bedeutet, unter dem Titel „Die Liebe gab mir Hoffnung“ erschien das Buch in gekürzter Fassung auf dem deutschsprachigen Markt.

[3] Die Rede ist von Dmitrij Nosow, Abgeordneter der Partei „LDPR“ („Liberaldemokratische Partei Russlands“), die, anders als ihr Name behauptet, für ihre nationalistisch-rechtspopulistischen Ideen bekannt ist (vgl. http://www.svoboda.org/a/27589531.html) (Anm. d. Übersetzerin).   

[4] Tamara Petkewitsch verwendet hier den ungewöhnlichen Begriff „расстреляние“ („rasstreljanije“), der aus deutlich mehr Silben besteht als der gewöhnliche Begriff „расстрел“ („rasstrel“) (Anm. d. Übersetzerin).
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