(10.11.2002)
Am 9. und 10. November 2002 tagte in Moskau die Internationale Konferenz "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien", an der russische und tschetschenische Menschenrechtsorganisationen teilnahmen, darunter das Menschenrechtszentrum von Memorial, das Andrej-Sacharow-Zentrum, das russische PEN-Zentrum, das Komitee der Soldatenmütter, das Tschetschenische Komitee der Nationalen Rettung, der Tschetschenische Antikriegskongress und das Komitee für Tschetschenisch-Russische Freundschaft. Auch Vertreter verschiedener Parteien und Institutionen waren gekommen, unter ihnen der Vorsitzende der Jabloko-Partei Grigorij Jawlinski sowie die Duma-Abgeordneten Sergej Kowaljow und Jurij Rybakow.Auf der Konferenz wurden Fragen im Zusammenhang mit einer Beendigung des Krieges in Tschetschenien und Möglichkeiten einer friedlichen Beilegung des Konflikts erörtert.

Es folgt die auszugsweise Wiedergabe der

- Rede des Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums von Memorial, O. Orlow

- eines Beschlusses

- einer Resolution

- eines Memorandums

- und eines Appells an die EU-Staats- und Regierungschefs.

Die Konferenz beauftragte in einem Beschluss das Russländische Interethnische Komitee "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien" mit der Einsetzung einer internationalen Kommission, die eine rechtliche Bewertung des Vorgehens der Konfliktparteien vornehmen soll. Mitglieder der Kommission sollen Juristen und Experten aus der Russsischen Föderation und anderen Staaten sein, in jedem Fall aber auch Juristen und Experten, die in Tschetschenien tätig sind. Außerdem soll das Komitee bekannte Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, Politik und Kultur zu einem Engagement gegen den Krieg ermutigen und eine Reise dieser Personen in das Konfliktgebiet organisieren.

In einer Resolution stellten die Teilnehmer der Konferenz fest, dass die Versuche der russischen Regierung, mit Gewalt das Problem des tschetschenischen Separatismus zu lösen, Tod und Leid für Hunderttausende von Menschen gebracht und die Region in eine humanitäre Katastrophe gestürzt haben. Eine Fortsetzung des Krieges würde noch mehr Elend sowohl für Tschetschenien als auch für Russland bedeuten. Die Konferenz begrüßte das Engagement vieler Gruppen für eine Beendigung des Krieges und hob die Notwendigkeit einer Koordinierung der Antikriegsbewegung hervor. Alle gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die sich für demokratische und humanistische Prinzipien, Menschenrechte und -freiheiten und die Stärkung der Zivilgesellschaft in Russland einsetzen, wurden aufgerufen, sich daran zu beteiligen. Mit den organisatorischen Aspekten der Koordinierung der Antikriegsbewegung wurde das Interethnische Russländische Komitee "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien" beauftragt.

Zusammenfassung der Rede von Oleg ORLOW auf der Internationalen Konferenz "Für die Beendigung des Krieges und die Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien"

Orlow (O.) führte zunächst aus, dass er auf dieser dem Schutz der Menschenrechte - aber nicht nur diesem - gewidmeten Konferenz eine Reihe von Aspekten des Tschetschenien-Konfliktes berühren wolle, die in der Regel von den Menschenrechtsorganisationen nicht behandelt würden.
Als erstes bezweifelt O. die Daten der kürzlichen Volkszählung an, nach denen in Tschetschenien (Tsch) 1,88 Mio Menschen lebten. Um auf diese Zahl zu kommen, hätten nicht nur alle tschetschenischen Flüchtlinge nach Tsch. zurück kehren müssen, sondern auch sämtliche Flüchtlinge der 90-er Jahre anderer Volkszugehörigkeit. Darüber hinaus sei auch noch ein erheblicher Bevölkerungszuwachs nötig, um auf diese Zahl zu kommen - angesichts zweier Kriege und des Zusammenbruchs auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet eine Absurdität.

Gleichermaßen unwahr seien andere offizielle Zahlenangaben über Tsch., so die Zahl der Angehörigen illegaler bewaffneter Einheiten (Kämpfer), Angaben über Verluste derselben und über konkrete Militäraktionen. O. stellt die offiziellen Zahlen den mit Kräften seiner Organisation vor Ort gesammelten Daten gegenüber und führt anhand von Fakten schlüssig den Beweis für die Falschheit der Ersteren.

O. fürchtet um die Sicherheit des Landes, wenn sich dessen Führung in ihren Aktionen von derartig falschen Angaben leiten ließe. Auch der Anführer der Geiselnehmer von Moskau Barajew sei vor seinem Auftauchen in Moskau schon zweimal offiziell tot gemeldet gewesen.
Ähnlich sehe es hinsichtlich des möglichen Eindringens tsch. Kämpfer aus Georgien aus. Die föderalen Kräfte behaupteten, ein solches Eindringen sei unmöglich - im September sei das Gegenteil der Fall gewesen.

Bezüglich der Kämpfer - oder wie immer man die Gegner der föderalen Kräfte nennen wolle - sei die Situation nicht viel anders. Entgegen mehrfacher Ankündigungen sei es nicht zu einer militärischen Großaktion im Frühling oder Sommer 2002 und somit auch nicht zu einer grundlegenden Änderung der militärischen Lage in Tsch. gekommen.

Eine militärische Lösung des Konflikts erweise sich mehr und mehr als unmöglich. Die politische und militärische Führung Russlands setze daher auf seine "Tschetschenisierung" - die Tschetschenen sollten untereinander kämpfen und die föderalen Kräfte würden sich allmählich zurück ziehen. (Beweis: Einrichtung von tschetschenischen Milizstrukturen, Behörden für Inneres und Sondertruppen (OMON). Diese tsch. Einheiten versuchten oft, Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkrung durch russ. Einheiten zu verhindern und würden dafür von Letzteren oft bestraft. Man müsse sich dann fragen, ob diese Kräfte noch eine Hilfe für die Föderalen sein würden. Andererseits gebe es auch Übergriffe von seiten der neu eingesetzten tsch. Milizbehörden, was letztlich zu neuen Konfrontation der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen führen müsse.
Ein weiteres Problem sei die Durchsetzung der Milizeinheiten mit "Kämpfern" und die Tätigkeit der Ersteren mit Billigung der Letzteren. Dies führe zu Aktionen der tsch. Miliz gegen eigene und föderale Einrichtungen und zu Hilfestellungen der Miliz zugunsten der Kämpfer.
All dies zeige, dass eine "Tschetschenisierung" nicht den gewünschten Effekt haben könne und dass eine fortgesetzte militärische Lösung des Konflikts allein Sache der föderalen Kräfte sein werde.
Dies bedeute aber auch die andauernde Belastung der Zivilbevölkerung, die der Gewalt von jeder Seite ausgesetzt sei. Sie sei das Hauptobjekt der Aktionen der sich gegenüberstehenden Kräfte des Konflikts.

O. beschreibt weiter detailliert Beispiele von Gewalt und Terror gegen die Zivilbevölkerung vonseiten der Kämpfer in Tsch. aber auch in anderen Teilen Russlands.
Die russische Führung versuche, die Bekämpfung solcher Gewaltakte als Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus darzustellen. Die föderalen Kräfte beantworteten diesen Terror mit genau den gleichen Terroraktionen (Ermordung von Zivilisten, Zerstörung ganzer Dörfer, sog. Säuberungen von Ortschaften, die von großangelegten Verhaftungen, Verprügelungen und Morden begleitete seien, illegale Filtrationslager, in denen Willkür jeglicher Art ausgeübt werde).
Die russische militärische Führung versuche zwar durch entsprechende Befehle, Terror und Gewalt im Zuge dieser Säuberungen zu verbieten, die föderalen Einheiten hielten sich aber demonstrativ nicht an solche Befehle, was beweise, dass sie letzlich nicht mehr steuerbar seien und sich mehr und mehr der Befehlsgewalt von oben entzögen. Dies sei eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands.
Putin habe das Ende von großangelegten Sonderoperationen der föderalen Kräfte angekündigt, doch es falle schwer, an diese Worte zu glauben. Auch zielgerichtete Operationen seien ein Mittel des Terrors der Föderalen. Die Anzahl der "Verschwundenen", die man später z.T. tot und mit Foltermerkmalen wieder finde, gehe in die Tausende, es handele sich um einen Terror, der innerhalb der föderalen Truppen erfolge und den man mit Fug und Recht mit dem von Stalin vergleichen könne.
Die Zahl der wegen Gewalthandlungen eingeleiteten Strafverfahren sei äußerst gering, die der Verurteilungen gleich Null.
Gleichzeitig müsse gesagt werden, dass dieser Terror nicht für alle Angehörigen der föderalen Einheiten charakteristisch sei, es gebe auch Beispiele der Rettung von Zivilisten durch einzelne Angehöriger der Föderalen. Die Anzahl der Terrorbeispiele überwiege jedoch.

Die tsch. Bevölkerung habe vor drei Jahren den Einmarsch der föderalen Einheiten mit der Hoffnung auf ein Ende von Gewalt und Banditentum begrüßt. Terror und Gewalt der Föderalen hätten dieses positive Verhältnis ins Gegenteil verkehrt.
Und was bedeuten die Gewaltakte der Angehörigen der föderalen Einheiten für Russland? Als was für Menschen kehren die jungen Soldaten und Milizionäre in ihre Heimat zurück, nachdem sie ungestraft Gewalt in jeder Form anwenden durften?

All dies führe in eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gebe, wenn man weiter auf Gewalt setze und - besonders nach der Moskauer Geiselnahme - eine politische, friedliche Lösung ausschließe.
Das Gegenteil sei richtig. Gerade jetzt, nachdem der Präsident Festigkeit gezeigt habe - für welchen Preis, wolle O. hier nicht erörtern - , nachdem er der Erpressung nicht nachgegeben habe, sei der Moment gekommen, den Konflikt in Tsch. vernünftig anzugehen und dem Terrorismus den Boden zu entziehen.
"Memorial" sei immer für eine friedliche Konfliktlösung eingetreten - das letzte Mal in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten am Tag nach dem nationalen Trauertag. Frieden sei der schlimmste Schlag gegen den Terrorismus und die würdigste Art, die umgekommenen Geiseln zu ehren.


In einem Memorandum erklärten die Konferenzteilnehmer, dass die unverzügliche Aufnahme von Gesprächen die Grundvoraussetzung aller Bemühungen um eine friedliche Lösung sei. Dabei dürfe die Aufnahme dieser Gespräche an keine Vorbedingungen geknüpft werden.

Die Haltung der westlichen Staats- und Regierungschefs käme nach Auffassung der Konferenzteilnehmer einer Duldung der gravierenden und massenhaften Verletzung der grundlegenden Menschenrechte in Tschetschenien gleich.

Die Fortsetzung des Krieges führe in der gesamten Russischen Föderation zu einer Verletzung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen sowie zu erhöhter Kriminalität und Korruption; sie schade dem internationalen Ansehen Russlands, berge die Gefahr einer Ausweitung der Auseinandersetzung auf andere Regionen des Landes und leiste dem Terrorismus Vorschub.

Die Konferenzteilnehmer kamen überein, möglichst rasch eine Folgekonferenz zu veranstalten und mit deren Ergebnis an die Verantwortlichen in der Russischen Föderation und in Tschetschenien und darüber hinaus an die Weltöffentlichkeit heranzutreten. Dabei würden u.a. folgende grundlegende Fragen behandelt:

- das Format, in dem die Gespräche geführt werden sollen
- die Internationalisierung des Friedensprozesses (Entsendung internationaler Beobachter, Einbeziehung der VN, Einsatz von Friedenstruppen usw.)
- der künftige Status und die politische Ordnung für Tschetschenien.


Die Konferenzteilnehmer erinnerten in einem Appel an die EU-Staats- und Regierungschefs anlässlich des bevorstehenden Treffens mit Präsident Putin an den seit Jahren andauernden bewaffneten Konflikt in Tschetschenien, der eine humanitäre Katastrophe in der Region ausgelöst habe.

Der Europäische Rat wird aufgefordert, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um dem Krieg ein Ende zu setzen, die Achtung der Menschenrechte zu unterstützen und eine friedliche Lösung im nördlichen Kaukasus zu fördern.

Die Konferenzteilnehmer vergleichen die mit dem Tschetschenienkonflikt verbundenen Gefahren und menschlichen Tragödien mit dem Nahostkonflikt und sind der Auffassung, dass eine Friedenslösung im Kaukasus die gleiche Aufmerksamkeit wie dem Frieden für Palästina zukommen müsse.

Sie sind der Überzeugung, dass es keine Friedenslösung ohne politische Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien geben kann und appellieren an die Staats- und Regierungschefs, die zwangsweise Rücksiedlung Vertriebener nach Tschetschenien nicht zuzulassen, solange die Situation dort nicht vollständig stabil sei und Krieg und Unterdrückung ein Ende gefunden haben.
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