Der 50. Jahrestag des Todes von J.W. Stalin als solcher ist zweifellos ein bedeutendes Datum. Wofür der Name Stalins in der russischen Geschichte steht, ist allgemein bekannt: für die endgültige Vernichtung auch der letzten Reste gesellschaftlicher und persönlicher Freiheit, für die komplette Verstaatlichung und Militarisierung der Wirtschaft sowie infolgedessen das rapide Absinken des Lebensstandards der Bevölkerung, für die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft und die Versklavung der Bauern, wodurch Millionen von Menschen im Wolgagebiet, in Kasachstan und in der Ukraine qualvoll verhungerten, für die unaufhörlichen politischen Repressionsmaßnahmen, darunter mehr als 700.000 Erschießungen allein in den 18 Monaten des "Großen Terrors", für Massendeportationen ganzer Völker, für gröbste außenpolitische Fehleinschätzungen, die unser Volk im Zweiten Weltkrieg viele Millionen Gefallene kosteten, für den "eisernen Vorhang", der die UdSSR vom Rest der Welt abspaltete und zu einem katastrophalen, bis heute nicht bewältigten wirtschaftlichen und geistigen Rückstand unseres Landes führte, sowie für die Einführung einer brutalen Kontrolle von Kunst und Wissenschaft durch die Partei, was unserer Kultur schwersten Schaden zufügte. All dieses ist in beträchtlichem, wenn nicht in entscheidendem Maß das "Verdienst" des Genossen Stalin, einer der unheilvollsten Persönlichkeiten der russischen Geschichte.

Erst der Tod des Diktators ermöglichte die ersten zaghaften Schritte zur Wiederbelebung des vom stalinistischen Regime verwüsteten Landes.

In den Medienveröffentlichungen der jüngsten Zeit werden jedoch meist nicht die oben genannten Tatsachen, sondern ganz andere Dinge thematisiert. Es ist unter Publizisten in Mode gekommen, "Ausgewogenheit" und "Objektivität" zu demonstrieren, indem nur flüchtig die Repressionsmaßnahmen und anderen "Auswüchse" kritisiert werden und sodann erklärt wird, dass Stalin im Großen und Ganzen zum Wohle Russlands gehandelt habe und ein großer Staatsmann gewesen sei. Mancherorts (im Gebiet Tomsk, in Dagestan und in Saratow) ging man so weit, in Zeitungsartikeln "im Interesse der Bewahrung einer objektiven historischen Erinnerung" vorzuschlagen, Stalin-Denkmäler zu errichten; es wurde sogar angeregt, die Stadt Zarizyn (heute Wolgograd) wieder in Stalingrad umzubenennen. Viele Journalisten interessieren sich offenbar nicht so sehr für die Klärung des Schicksals von Millionen ihrer Mitbürger, sondern eher dafür, ob Stalin auch tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben ist.

Auch die Gesellschaft "Memorial", die überlebenden Opfer der politischen Repressionsmaßnahmen und ihre Nachkommen haben das Ziel, die historische Erinnerung an den Stalinismus zu bewahren. Wir wollen unseren Gegnern ganz und gar nicht den Mund verbieten. Es ist ja gerade in unserem Interesse, die Wiederaufnahme einer intensiven öffentlichen Debatte über jene Periode der sowjetischen Geschichte anzuregen. (Bemerkt sei lediglich, dass es keine Frage der persönlichen Moral, der Kenntnis der nationalen Geschichte und auch keine Frage der politischen Meinung mehr ist, wenn staatliche Amtsträger beginnen, in der Öffentlichkeit die "hellen" und "dunklen" Seiten des Stalinismus gegeneinander aufzurechnen und abzuwägen. Im heutigen Deutschland müsste sich ein Staatsmann, der die Stirn hätte, öffentlich ähnlich "unvoreingenommene" Einschätzungen über Stalins damaligen deutschen "Kollegen" zu äußern, wohl innerhalb von zwei Stunden nach einem neuen Amt umsehen.) Aber eine solche Diskussion kann ernsthaft nur dann geführt werden, wenn man sich zum einen auf genaue und allgemein zugängliche historische Kenntnisse stützt und zum anderen klare und eindeutige moralische Kriterien anlegt, die zwischen den Diskutanten unstrittig sind: den naturgegebenen Wert des Lebens und die Würde des Menschen, das Recht und die Freiheit.

Leider herrscht in unserer Gesellschaft in der Praxis an beidem ein Mangel. Wichtigste Archivquellen waren über viele Jahre für Forscher nicht zugänglich und auch heute noch sind viele Unterlagen in staatlichen und behördeneigenen Archiven dem Zugriff entzogen. Die historische Literatur, auch die Lehrbücher und populärwissenschaftliche Werke, stecken voller Legenden, die sich bereits zu Lebzeiten Stalins und auch nach seinem Tod gebildet haben. Dies sind Probleme, die umgehend angegangen werden müssen.

Was die moralischen Werte betrifft, die die Gesellschaft zusammenhalten, sind wir uns bewusst, dass die Herausbildung und Verankerung solcher Werte im nationalen Bewusstsein in gewissem Sinne nicht nur Voraussetzung, sondern auch Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion historischer Probleme ist. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Probleme der Vergangenheit seit fast 60 Jahren ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, hat bei uns - nach der kurzen und ziemlich oberflächlichen stürmischen Debatte Anfang der 80er Jahre - die wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Gesellschaft noch gar nicht richtig begonnen.

Die Gesellschaft "Memorial" erklärt, dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der tragischen Lehren aus der russischen Geschichte auch heute noch eine sehr wichtige Aufgabe darstellt. Wir unterstützen weiterhin diejenigen (leider sind es nicht viele Menschen), die sich für eine solche Aufarbeitung stark machen - für historische, wissenschaftliche und publizistische Aufklärungsarbeit, Bürgerengagement und die aktuelle Verteidigung der Bürgerrechte. "Memorial" hofft, mit ihrer Arbeit auch künftig die Entwicklung der gesellschaftlichen Diskussion über unsere gemeinsame Vergangenheit anregen zu können.

Vorstand der Gesellschaft "Memorial"
5.3.2003
(Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Koch)
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