Einzelkundgebungen und Straßenprotest

In St. Petersburg führten Aktivisten am Tschernyschevskij-Denkmal und auf dem Moskauer Platz mit den Plakaten „Frieden und keinen Krieg“ Einzelkundgebungen gegen den Krieg durch.

 

 

Die Polizei sprengte am 19. März in Moskau eine Präsentation von Comics der Künstlerin Sascha Skotschilenko in einem „Open-Space-Projektraum.“ Eineinhalb Stunden nach Beginn kamen acht Polizisten in das Gebäude, nahmen die Anwesenden fest und legten sie mit dem Gesicht auf den Boden. Die Sicherheitskräfte versuchten, die Festgenommenen zu zwingen, patriotische Lieder zu singen. Volontäre teilten mit, dass die festgenommenen Personen im Gefangenentransporter geschlagen wurden.

Die Künstlerin Sascha Skotschilenko befindet sich seit Frühjahr 2022 wegen eines Verfahrens aufgrund von „Falschmeldungen“ in Untersuchungshaft. Das Gericht hat ihre Unterbringung dort ein weiteres Mal bis zum 10. Juli verlängert, die Untersuchungshaft zeigt bereits ernsthafte gesundheitliche Folgen.

In Kazan hielt ein Aktivist eine Einzelkundgebung auf der zentral gelegenen Baumann-Straße ab und hielt dabei ein Plakat mit der Aufschrift: „Hört auf, das Boot zu schaukeln, unserer Ratte ist schlecht.“ Der Aktivist wurde auf die Polizeiwache gebracht, dort verlangte man eine Erklärung von ihm und setzte ihn ohne Aufnahme eines Protokolls wieder auf freien Fuß.

 

Jede fünfte Demonstration in Russland ist eine gegen den Krieg. Aktionen zur Unterstützung des Krieges und der Machthaber finden 4,5 mal weniger statt. Die Hälfte der Aktionen sind Einzelkundgebungen, nur bei einer von fünf nehmen mehr als 10 Personen teil. Die Mehrzahl der Anti-Kriegsproteste sind Bürgerinitiativen von Einwohnern, wohingegen Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung üblicherweise von Politikern und der NOD [Nationale Befreiungsbewegung; rechtsradikale Bewegung Russlands] organisiert werden. Zu diesem Fazit kommt das Medium „Vazhnye Istorij“ auf der Basis von Daten, die aus dem GRTschZ [Hauptzentrum für Funksequenzen] durchgesickert sind.

Die Region in Russland, in der am meisten protestiert wird, ist die Region Chabarovsk, auf dem zweiten Platz liegt St. Petersburg, den dritten teilen sich Moskau und Baschkortostan. Dabei enthält diese Statistik bei weitem nicht alle Protestaktionen in Russland, viele bleiben unbemerkt, teilt der FAS [Feministischer Widerstand gegen den Krieg] mit.

 

Brandstiftungen an Einberufungsämtern

In der Stadt Svobodnyj im Gebiet Amur brannte bereits zum zweiten Mal das Einberufungsamt. Örtliche Zeitungen nennen keinen Grund für die Brände, wobei in der Region ein stillschweigendes Verbot des FSB herrscht, über Brandstiftungen im Zusammenhang mit Anti-Kriegsprotesten zu berichten. Im September 2022 war es in Svobodnyj schon einmal zu einer versuchten Brandstiftung an einem Kriegskommissariat gekommen.

Im Gebiet Leningrad wurde wegen des Verdachts auf Brandstiftung an einem Kriegskommissariat der zwanzigjährige Student Vladislav Schitikov festgenommen. Die Ermittler sind der Ansicht, dass er in der Nacht zum 26. Februar einen Molotov-Cocktail in das Fenster des Gebäudes geworfen hat. Gegen Schitikov wurde ein Verfahren gemäß Paragraph 167 StGB der RF eingeleitet, ihm drohen bis zu fünf Jahre Lagerhaft.

Kirill Butylin, der erste Angeklagte in einem Verfahren wegen Brandstiftung an einem Kriegskommissariat, wurde am 15. März zu dreizehn Jahren Lagerhaft in strengem Regime verurteilt.

Oleg Bazhdaev, ebenfalls wegen Brandstiftung an einem Einberufungsamt angeklagt, wurde von Sicherheitskräften mit Elektroschocks und Strangulation gefoltert und geschlagen. Die Sicherheitskräfte versuchten außerdem das Geständnis von ihm zu erzwingen, von der Ukraine finanziert zu werden. Nach Aussagen seines Anwalts belastete sich Oleg infolgedessen selbst. Zunächst hatte man ihn wegen „vorsätzlicher Zerstörung von Eigentum“ angeklagt, dann wegen „Verübung eines terroristischen Anschlags.“

 

Graffitis, Flugblätter, Die Stadt spricht

In Ufa haben Unbekannte an eine Hauswand in der „50-Jahre-UdSSR-Straße“ „NEIN ZUM KRIEG“ geschrieben.

In Volgograd sind in der Gegend der Angarskaja-Straße Graffitis aufgetaucht mit Bezug zu Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ - Leiter des Einberufungsamtes mit Einberufungsbefehl und Entsetzen des Wehrpflichtigen.

 

Gegenüber dem Gebäude des Zentralen Kriegskommissariats in Komsomolsk am Amur tauchte die rhetorische Aufschrift „Wofür“ auf.

 

In Nojabrsk (Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen) hing an einer Bushaltestelle ein Banner mit der Aufschrift „NEIN ZUM KRIEG“. In einem lokalen Forum im Netzwerk „VKontakte“ teilen Einwohner der Stadt Fotos sowie weitere Anti-Kriegsaufkleber und -Banner.

„Nein zum Krieg“ - Aufschrift auf einem Gebäude in der Stadt Volzhskij im Gebiet Volgograd. Im dem Gebäude befinden sich das Finanzamt, die Post sowie das MFZ (Zentrum für öffentliche und kommunale Dienstleistungen).

Anti-Kriegsparolen auf Geldscheinen und Münzen bleiben ein Mittel des Widerstands gegen den Krieg. Die Organisation FAS erinnert daran, dass die Verpflichtung besteht, Geldscheine auch mit Aufschrift entgegenzunehmen. Folgendes schreiben unsere Abonnenten auf Geldscheine und Münzen:

„#200 Putins Krieg – das ist Tod und Elend“ [200: Chiffre für Gefallene], „Das ganze Geld geht für den Krieg drauf“, „Die Preise steigen wegen des Kriegs“, „Dies ist ein Anti-Kriegs-Geldschein. Sie müssen jetzt daran denken, dass Russland einen aggressiven, brudermörderischen Krieg losgetreten hat und Putin unsere Zukunft raubt.“

 

„Der Sichtbare Protest“ der Jugendbewegung „Vesna“ [Frühling] wird ein Jahr alt. Vor einem Jahr startete „Vesna“ eine Antikriegs-Straßenkampagne und eröffnete einen Telegram-Kanal, in dem jeder Fotografien posten kann. In einem Jahr schickten Menschen dem Kanal 30 000 Antikriegsfotografien aus mehr als 220 Städten und Orten. „Vesna“ hat einen Leitfaden über visuelle Kampagnentechniken mit Sicherheitstipps erstellt.

 

Unterdrückung

Am 21. März fanden in Moskau bei Memorial-Mitarbeitern Hausdurchsuchungen statt, das Büro der Organisation am Karetnyj Rjad wurde verwüstet. Die Durchsuchungen wurden wegen „Rechtfertigung von Nazismus“ [Art. 354.1 Teil 2 StGB RF] durchgeführt. Nach den Durchsuchungen brachte man die Mitarbeiter zum Ermittlungskomitee, um sie zu verhören. Vielen nahm man ihre technischen Geräte, Dokumente sowie Dinge mit Memorial-Symbolen ab. Schließlich wurde bekannt, dass gegen den Memorial-Mitarbeiter Oleg Orlov ein Strafverfahren wegen „Wiederholter Diskreditierung der russischen Armee (280.3 Teil 1 StGB RF) eingeleitet wurde.

Das Basmannyj Bezirkgericht in Moskau hat den Blogger und Politiker Maksim Kaz wegen „Falschmeldungen über die russische Armee“ (207.3 StGB RF) in Abwesenheit verhaftet.

Ein Gericht in Archangelsk hat Olesya Krivzova, die nach Litauen geflohen ist, in Abwesenheit verhaftet, ihr drohen bis zu zehneinhalb Jahre Freiheitsentzug wegen Beiträgen über die Explosion auf der Krim-Brücke und für Reposts, in denen sie die Teilnehmer einer Demonstration in Archangelsk zur Unterstützung der Angliederung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, Zaporizhzhias und Chersons an Russland kritisiert. Am 15. März wurde bekannt, dass es Krivzova gelungen ist, aus dem Hausarrest zu fliehen und Russland zu verlassen.

 

Artem Konstantinov, Student aus Murmansk und Kriegsgegner, ist nach Drohungen der Sicherheitskräfte verschwunden. Vor kurzem wurde bekannt, dass der Kontakt mit Freunden und Familie schon seit über zwei Monaten abgebrochen ist. Im Oktober 2022 hatte er dem Medium „7x7“ erzählt, dass er mit einem Freund aus der Ukraine an einer Zoom-Konferenz teilgenommen und dort einen Appell Volodymyr Selenskyjs zugeschaltet hatte. Die Sicherheitskräfte drohten ihm daraufhin mit einem Strafverfahren wegen Separatismus, Extremismus und Diskreditierung, ebenso wegen Anti-Kriegsvideos auf YouTube.

 

In Izhevsk wurde ein Einwohner zu 30.000 Rubel (2 monatliche Mindestlöhne) verurteilt, weil er ein Z-Banner, das im Zentrum der Stadt aufgehängt war, mit roter Farbe übergossen hat. Der Mann hatte am 24. Februar, dem Jahrestag des Krieges, eine Dose mit roter Farbe auf das Banner geworfen.

In Jaroslavl nahmen Sicherheitskräfte einen Einwohner unter der Anklage „Aufruf zum Terrorismus“ (205.2 Teil 2 StGB RF) wegen Kommentaren bei VKontakte fest. Auf einem Video bei Telegram ist zu sehen, wie der Festgenommene den Sicherheitskräften gesteht, dass er Kommentare „mit Aufrufen zur Unterminierung des Präsidenten der RF Vladimir Vladimirovitsch Putin“ geschrieben habe und ebenfalls solche, „gegen die Spezialoperation.“ Des Weiteren „gestand“ er, Soldaten der RF als „Faschisten“ bezeichnet zu haben. Über das weitere Schicksal des Mannes nach seiner Verhaftung ist nichts bekannt.

Nach Anzeige eines Schülers wird einem Lehrer aus Kursk nun der Prozess gemacht. Der Schüler hatte eine Antikriegsäußerung des Pädagogen aufgenommen, der Vater des Schülers übergab die Aufzeichnung dem Gericht. Das Verfahren gemäß Art. 20.3.3 Verwaltungsstrafrecht wird am 30. März am Kursker Bezirksgericht verhandelt.

In Jakutien wurde gegen den Vorsitzenden des örtlichen Parteibüros von Jabloko, Anatolij Nogovizyn wegen eines Videos, in dem er die Russen aufruft, nicht am Krieg gegen die Ukraine teilzunehmen, eine Geldstrafe verhängt. Das Gericht befand Anatolij für schuldig, gegen Art. 280.3 Teil 1 StGB RF [Diskreditierung der Streitkräfte der RF] verstoßen zu haben. Zudem wurde gegen den Politiker ein Ausreiseverbot verhängt.

Die Kommission für Jugendfragen belegte einen Jugendlichen aus der Republik Altaj mit einer Geldstrafe, weil dieser am Jahrestag des Kriegsbeginns Blumen niedergelegt hatte, der 17-jährige Artem Sacharov hatte mit drei Freundinnen Blumen zum „Platz der Räte“ gebracht. Er wurde für schuldig befunden, gegen Art. 20.2 Verwaltungsstrafrecht RF verstoßen zu haben und erhielt eine Strafe von 20 000 Rubel (1,3 monatliche Mindestlöhne).

Marija Ponomarenko, wegen „Falschmeldungen über die russische Armee“ verurteilte Journalistin aus Barnaul, wurde in der Untersuchungshaft geschlagen und für drei Tage in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht. Im Februar hatte das Gericht die Journalistin zu sechs Jahren Lagerhaftstrafe verurteilt, weil sie einen Post über das Dramentheater in Mariupol veröffentlicht hatte.

Das Moskauer Institut für Physik und Technik hat ein Treffen mit dem Nobelpreisträger Dmitrij Muratov abgesagt. Nach Aussagen des Direktors des Instituts gelang es nicht, „grundlegende Bedingungen einer Entpolitisierung des Gesprächs“ zu erfüllen.

In St. Petersburg kamen Polizisten in der Nacht zu Anti-Kriegsaktivisten, einer Mutter und ihrem Sohn. Die Polizisten erklärten, sie hätten den Sohn auf der Aufzeichnung einer Überwachungskamera entdeckt, auf der zu sehen ist, wie er Anti-Kriegsflugblätter aufhängt. Mutter und Sohn wurden am 24. März gegen Mitternacht auf die Polizeiwache des Petersburger Stadtteils Kronstein gebracht. Gegen drei Uhr morgens ließ man sie nach der Aufnahme eines Protokolls gemäß Art. 20.3.3 Verwaltungsstrafrecht RF wieder frei.

Die Moskauer Politikerin Elvira Vichareva ist mit Schwermetallsalzen vergiftet worden, wie das Medium SOTA mitteilt. Nach Aussagen von Vichareva waren Ende November, Anfang Dezember erste Vergiftungssymptome aufgetreten und hatten sich Anfang Februar wiederholt. Sie litt unter starken Magenschmerzen, erhöhtem Herzschlag und Taubheitsgefühl in den Extremitäten. Später kam es zu Krämpfen, Ohnmachtsanfällen und Haarausfall. Elvira Vichareva führt einen YouTube-Kanal, bei dem oppositionelle Politiker Position gegen den Krieg beziehen.

In Jekaterinburg fing einen Tag nach den Durchsuchungen bei Memorial Moskau das Gebäude des dortigen Memorial-Verbandes Feuer. Das Feuer griff von einem brennenden Porsche, der nebenan geparkt war, auf das Gebäude über, schreibt RusNews. Ein Teil des Geländes gehört der Jelzin Stiftung, dorthin war vor kurzem Memorial Jekaterinburg umgezogen, nachdem es die städtischen Räumlichkeiten verlassen musste.

Der Rap-Band „GROT“ aus Omsk verweigert man wegen ihrer Anti-Kriegshaltung in großem Maßstab Auftritte und sprengt ihre Konzerte. Bereits seit 2014 spricht sich die Gruppe gegen den Krieg aus. „GROT“ befindet sich in Russland und veröffentlichte kürzlich einige Anti-Kriegs-Tracks.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

4. Mai 2023

 

 

 

 

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